Sonntag, 29. Mai 1994

Europa in 50 Sekunden




















Schnell - immer schneller sollen Fernsehbilder in die Wohnzimmer huschen. "Infotainment" heißt zu Neudeutsch das Schlagwort dieser Epoche. Nachrichten durch Showeffekte - Kriege als Nervenkitzel, Waffengänge als Quotenrenner. Und das in sieben synchro-nisierten Sprachen nahezu 18 Stunden am Tag.


Frankenpost, Hof
29. Mai 1994
von Reimar Oltmanns

Kriege legen bekanntlich Nervenkitzel frei. Erst recht, wenn neuzeitliche militärische Schlachten weltweit in Wohnzimmern am Fernseher minutiös zu verfolgen sind - als abendliches Unterhaltungsprogramm sozusagen, als Kassenfüller: Waffengänge als Einschaltquoten-Renner.

Die "Operation "Wüstensturm" im Jahr 1991 war in vollem Gang, ein Sieger des Golfkrieges stand noch gar nicht fest, da lösten jene dramaturgisch gekonnt inszenierten Gefechtsbilder des amerikanischen Erfolgssenders CNN mit seinem Frontberichterstatter Peter Arnett vom Dach des Hotels El-Raschid in Bagdad euphorische Selbstgewissheit aus. Im fernen malerischen Genfer Schloss Château de la Poupée wurde EuroNews aus der Taufe gehoben. Es war die visionäre Geburtsstunde des ersten paneuropäischen Kabel- und Satelliten-Nachrichtenkanals mit Sitz in Lyon. "Wir machen das Fernsehen der Zukunft. Wir brauchen die Amerikaner nicht, um uns für teures Geld die Neuheiten auf dem Globus zu erklären. Wir werden schon recht bald die Stimme Europas in der Welt sein", tönte der Italiener Massimo Fichera als neugekürter EuroNews-Präsident. Und sein Chefredakteur, der Franzose Gérard Decq, fügte hinzu: "Allen, die bei EuroNews arbeiten, ist es bewusst, dass sie zu einer einzigartigen Fernsehanstalt gehören. Der alte Kontinent wird Paroli bieten."
MODERNSTE TECHNIK
Seit dem 1. Januar 1993 - dem Starttermin des europäischen Binnenmarktes - strahlt EuroNews synchron in fünf Sprachen (Französisch, Englisch, Deutsch, Spanisch und Italienisch) sein tägliches 18-Stunden-Programm über den Satelliten Eutelsat II auf 13 Grad Ost aus. So wurde eine optimale Abdeckung des europäischen Rundfunkgebietes einschließlich des Mittelmeer-Raumes sichergestellt. Mit etwas größeren Antennen ist der EuroNews-Empfang auch im nördlichen Skandinavien, in Osteuropa und im nördlichen Afrika möglich. In vielen Ländern wurde EuroNews zudem ins Kabel eingespeist. Über elf Millionen Europäer können den Nachrichten-Sender aus Lyon aus der Steckdose empfangen.

Theoretisch erreicht EuroNews mit modernster Technik für Produktion wie Sendeablauf 41 Millionen Haushalte (etwa 110 Millionen Menschen).

Theoretisch. Welche Zuschauer sich EuroNews ansehen, wie oft am Tag, wie lange - keiner weiß es. Weder gibt es Reichweitenmessungen noch exakte Zielgruppen-Untersuchungen. Nicht einmal die Direktion hat einen präzisen Überblick darüber, wo denn nun EuroNews tatsächlich überall zu sehen ist.
JEDER MACHT ALLES
Schon seit dem Jahr 1988 bastelten Fachleute der Union Europäischer Rundfunkorganisation (UER) an einem tragfähigen, einheitlichen Konzept eines europäischen Nachrichtensenders. Ob Politiker oder Medienstrategen, sie alle waren sich darüber im klaren, dass dem Fernsehen beim Zusammenwachsen Europas eine Schlüsselrolle zufällt. Dabei gibt es so etwas wie EuroNews schon sehr lange - nur nicht als eigenständige Anstalt. Über den Programm-Pool "Eurovision" tauschen die Mitgliedländer der UER jährlich ohnehin etwa 16.000 Filmbeiträge aus. Da sich mit der "reinen Lehre der Nachrichten", wie es CNN den Europäern vormachte (CNN-Europa-Bilanz 1991: 41 Millionen Dollar Einnahmen über Wertbuchungen), offenkundig Geld verdienen lässt, wurde EuroNews gegründet - als Zweitverwertungsanstalt, als monotone Nachrichtenmaschine sozusagen.

Journalisten-Alltag bei EuroNews in Lyon. Amerikanisches Großraumbüro ohne Wände. Hunderte von Bildschirmen, Computer, lautes Sprachbabylon, nur junge Menschen zwischen 20 und 30 Jahre alt, oft ohne Berufserfahrung, lockere Atmosphäre, hilfsbereite, wissbegierige junge Europäer - meist voller Erwartung eigens für EuroNews mit Sack und Pack aus fernen Städten direkt von der Uni nach Lyon zu EuroNews ohne Rückfahrkarte umgestiegen. "Bewusst", räsoniert Präsident Massimo Fichera, "stellen wir nur junge Menschen ein, von denen viele erst Schulabgänger sind. Sie sind nämlich noch enthusiastisch, haben noch keine dieser Berufsmacken." Und preiswert ist die mehrheitlich große Anzahl freier junger Mitarbeiter für den Sender außerdem. Von Sozialversicherungs- oder Krankenkassen-Beiträgen mögen die EuroNews-Oberen so gar nichts hören. Sie bleiben nur einer kleinen Kern-Mannschaft vorbehalten. Debütanten hingegen, die nach einer Zehn-Stunden-Akkordschicht mit etwa 70 Euro ins Bett fallen, dürfen sich glücklich schätzen. Profis kommen aufs Doppelte. Nur die sind nicht häufig zu sehen.
EUROPA - EINHEITSBREI
Jedenfalls nicht in der deutschen Redaktion. Beinahe täglich hängt Michael Unger, ehemals ZDF in Paris, zur Mittagszeit am Telefon. Mit auffällig leiser Stimme müht er sich schon seit Monaten ab, deutsche Kollegen für EuroNews zu gewinnen. Fast immer vergeblich. Entnervt zeigt Unger auf die Namen deutscher Redakteure im Computer. Gewiss - viele waren schon da. Mal eine, wenn es hoch kommt, mal drei Wochen. Nur keiner mochte sich auf Dauer einrichten. Schon ein kurzer Blick in die EuroNews Fabrik verrät die Arbeitsphilosophie: Hier kann jeder alles machen - und das durchgängig allein: Schneiden, Texten, Übersetzen, Sprechen, Von 6 Uhr morgens bis zwei Uhr nachts sendet EuroNews seine Nachrichten im 30-Minuten-Rhythmus. Das Filmmaterial liefert die "Eurovision". Aus dem Fundus darf der Sender beliebig schöpfen. In Lyon werden die Bilder neu gemischt und geschnitten; gemäß Optik, die Inhalte bestimmt, dürfen Reakteure in ihrer jeweils eigenen Sprache formulieren. Eben Texte, die in der Mehrzahl keine 50 Sekunden überdauern. Ob Kriminalität auf Sizilien, soziale Unruhen in Spanien, Unwetter in den Alpen oder Neonazis in Deutschland - eine Nachricht ist wie die andere, Europa ein Einheitsbrei.
SCHNELL UND SCHNELLER
Längst ist es bei EuroNews aktenkundig. Doch keiner kann unter diesen Arbeitsbedingungen Besserung loben, zumal Redaktionsbesprechungen auf Geheiß des Chefredakteurs Gérard Decq als "Zeitverschwendung" gelten. "Action" ist nun einmal oberste Maxime. Schnell und immer schneller sollen die Bilder in die Wohnzimmer huschen - atemlos zudem. Wird doch in Gruppen gearbeitet. Und wie diese sich mit welchen Journalisten zusammensetzen, weiß die Redaktionsleitung mit Bestimmtheit erst einige Stunden vor Wochenbeginn. Folglich kommen viele Texte flüchtig bis unbedarft daher, Aussprachefehler gehören en masse zum ständigen Wegbegleiter. Bis zum Überdruss drehen sich kaum aktualisierte Nachrichtenfilme in der Wiederholungsschleife. Einfach, weil die EuroNews-Mannschaft unterbesetzt, unterbezahlt und unterqualifiziert ist. Statt der erforderlichen 170 sind nur 120 Personen tätig. Und an der Spitze steht ein Mann, der nicht einmal die leiseste Vorahnung auf seiner Seite weiß, welche Formulierungen mit welchen inhaltlichen Tendenzen etwa in Deutschland, Spanien oder sonstwo über den Äther huschen. Gérard Decq parliert en français. Und damit hat es sich. Verständlich, dass er als Programmchef dieses ersten paneuropäischen Nachrichtensenders aus einer Not eine Tugend macht, am liebsten beschauliche Filme ohne jeden Informatioswert sendet. Decq befindet. "Alles spricht für sich, auch diese Aufnahmen. Basta!"

Alexander Homann vom Medienzentrum im ostbelgischen Eupen, der EuroNews sowohl in der Kombination deutsch-französisch als auch in Englisch-Französisch im Brüsseler Kabel hat, hält diesen Sender in seiner gegenwärtigen Verfassung für eine Fiktion. Er urteilt: "Die müssen noch viel an sich arbeiten, um nennenswerte Zuschauerzahlen erreichen zu können."
GEDULD ERSCHÖPFT
Vorbei sind jedenfalls die Jahre, in denen die französische Republik geduldig alles hinnimmt, was EuroNews der Öffentlichkeit, aber auch den Staats- und EU-Finanzen zumuten mag. Dabei schien Frankreich einst sogar ein bisschen stolz darauf zu sein, neben den Sendern ARTE (Straßburg), EuroSport (Paris) nun auch EuroNews in Lyon in seinem Land zu wissen. Dem vorausgegangen war eine erbitterte Konkurrenzschlacht zwischen siebzehn europäischen Städten um den Standort von EuroNews. Aus Deutschland hatte sich München beworben. Doch mit der Lyoner Offerte, 2,5 Millionen Euro für die Ausrüstung des Senders und auf 99 Jahre ein Gebäude mietfrei zur Verfügung zu stellen, da mochten die Bayern dann doch nicht mithalten. ARD und ZDF, die lange Zeit mit einem Engagement geliebäugelt hatten, haben sich ebenso wie die Engländer beizeiten aus dem waghalsigen Projekt zurückgezogen. Ihnen schien eine seriöse Finanzplanung auf mindestens zehn Jahre zu ungewiss.
WER BEZAHLT DIE DEFIZITE ?
Es war die französische Tageszeitung Le Monde, die in der Ära des Sozialabbaus das üppig subventionierte Finanzgebaren der Sendeanstalt und auch die "schweren Probleme mit der journalistischen Berufsethik" bei EuroNews kritisch hinterfragte - somit eine Trendwende einläutete. "Wer soll das Defizit bezahlen?", fragte Le Monde. In der Tat, Werbung gibt es so gut wie gar nicht, obwohl sie mit etwa fünf Millionen Euro im Etat veranschlagt wurde. Scheinbar irreparable Finanzlücken pflastern somit den EuroNews-Weg. Allein im ersten Jahr 1993 erwirtschaftete der öffentlich-rechtliche Sender einen Verlust von 6.5 Millionen Euro. Ohne gezielte Millionensummen der Europäischen Union hätte EuroNews längst den Weg zum Konkursrichter antreten müssen. Nur mit europäischen Steuergeldern lässt sich EuroNews noch künstlich beatmen. Zuschüsse über Zuschüsse fließen aus Brüssel oder Straßburg. Allein für das Jahr 1994 verdoppelte die Europäische Union ihre Finanzspritze auf umgerechnet 4,5 Millionen Euro. Für den Soziologie-Professor am Collège de France, Pierre Bourdieu (*1930+2002) "fehlen in Frankreich wie überall die kritischen Intellektuellen, die dieses Milieu der gegenwärtigen Selbstbeweih-räucherung, Selbstinszenierung stören würden."
KONTROLLEUR IM KNAST
Aber mittlerweile mag selbst der unternehmerfreundliche französische Kommunikationsminister Alain Carignon kaum noch für undurchsichtige Geldausgaben von EuroNews geradestehen. Der Minister ließ sich erst einmal EuroNews Originalrechnungen vorlegen. Er erschrak. Sodann befand er: "Die Situation ist für EuroNews äußerst besorgniserregend." Weitere, wie von EuroNews als üblich erwartete Millionenspritzen ? - "Nein", beschied Carignon, "dies verstößt gegen alle Gesetze über die Finanzierung mit öffentlichen Geldern. Das Maß ist voll!"
Dabei war die Saubermann-Karriere des Alain Carignon von Kennern französischer Verhältnisse ohnehin als PR-Inszenierung, als Ablenkungs-Manöver begriffen worden. Kaum zwei Monate nach seinen hehren Buchhalter-Folskeln musste der Neu-Gaullist nämlich vom Ministeramt zurücktreten - wegen nachgewiesener Korruption. Ein Berufungsgericht verurteilte den früheren Bürgermeister von Grenoble zu fünf Jahren Haft, von denen er vier abzusitzen hatte. - Ende einer Karriere. Viel Zeit widmete Carignon im Gefängnis dem Fernseh-Sender EuroNews. Nur in Lyon,bei den Machern,wollte sich niemand an den früheren Förderer und Sponcor erinnern. Ganz nach der branchen-üblichen Verdrängungs-Methode: linkes
Ohr ist das Opernhaus, rechtes Ohr fahren die Autos raus - einst hastig über den Bildschirm gehutscht und nun für immer aus dem Sinn. Ob Carginon, die TV-Soap Denver-Clan oder nunmehr bei EuroNews - Alain Carignon, der Kommunikationsminister von einst, wurde nicht mal mehr ins Vorzimmer des Chefredakteurs zugelassen.

Samstag, 28. Mai 1994

Drangsal mit der Prostitution




















































Die einst weltberühmte Bordellkultur früherer Jahrzehnte ist in Frankreich längst passé. Vielmehr gelten spätestens seit 2003 drakonische Strafgesetze, die Prostitution, Zuhälterei und Frauenhandel aus fernen Ländern als einen Akt "gegen die Menschenwürde" mit Geldbußen, gar Gefängnis ahnden. Aus dem Straßenbild sind Liebesdamen ganz verschwunden, nachdem Freier wie Prostituierte wegen des Straftatbestands des "sexuellen Exhibitionismus" vor Gericht gestellt wurden. Lediglich in sündhaft teuren "night clubs" großer Städte bieten Frauen - als Gäste getarnt - ihre Ware Sex diskret an. Nur im Untergrund wuchert weiterhin das kriminelle Geschäft mit "käuflicher Liebe" - nach dem "Ehrenkodex" einer Sekte.

Frankfurter Rundschau
28. Mai 1994
von Reimar Oltmanns

Vor der schmuddeligen kleinen Bar Américan auf dem Boulevard de la Pomme Nummer 35 zu Marseille parken an diesem Wochenende ausnahmslos schnelle Flitzer: Hochkarätige Limousinen, wohl keine unter 80.000 Euro zu haben. Das will etwas heißen in dieser Hafenstadt, in der über hunderttausend Menschen unterhalb der Armutsgrenze dahinvegetieren. Erst recht bedeutet diese Parade von Zuhälter-Karossen etwas zu einer Zeit, in der das angrenzende Opernviertel, früher einmal Hochburg der Prostitution, vor sich hinzuschlummern scheint - vordergründig zumindest.
HIV-LAND NUMMER EINS IN EUROPA
Was die Polizei über all die Jahrzehnte nicht vermochte, schaffte offenkundig die Immunseuche Aids. Frankreich ist das HIV-Land Nummer eins in Europa. Laut Statistik zählt die Republik knapp 26.000 Aidskranke, darunter 4.100 Frauen. Wie ausgestorben wirken Bars oder Spielhöllen.

Friedlich vereint sitzen Marseilles "macs" (Zuhälter) nun in der angeschmuddelten Bar auf dem Boulevard de la Pomme. An einem Tisch die arabischen Herren-Repräsentanz mit einem Glas Pfefferminztee und ihrem Tric-Trac-Spiel. Am anderen Tisch die französischen Luden beim Pastis samt Karten-Allerlei. Nur ihre hin und her geworfenen Code-Wörter signalisieren, dass die Prostitution in Frankreich - und damit in ganz Westeuropa - unter einer wohlgeordneten Oberfläche eine neue Dimension erreicht hat: auch "Sklavinnen-Kartell" genannt. Von der "chandelle" (Frau, die auf der Straße steht), über eine "caravelle" (auf dem Flughafen), eine "entrainneuse" (an der Bar), "Amazone" (am Steuer), über Bestellung von "de la chair fraiche" (Frischfleisch) bis zur "Serveuse Montante" (im Hotelzimmer) kreist einsilbig jenes Sprachrepertoire aus ihrer Arbeitswelt.
FRAUENHANDEL IM BINNENMARKT
Noch nie in diesem Jahrhundert schnellte der Frauenhandel derart in Rekordhöhe, noch nie wurden Tausende von Frauen so international lückenlos durchorganisiert, verschleppt, geschlagen, misshandelt - als Freiwild zur Prostitution abgerichtet. Die Männer verwalten ihre Frauenstäbe von Amsterdam bis Paris, von Barcelona bis Berlin, von Mailand bis Moskau, von Frankfurt bis Budapest und lassen die Prostituierten oft im Zehn-Tage-Rhythmus von einer Stadt in die nächste rotieren. In ihrem Metier funktioniert der europäische Binnenmarkt jedenfalls schon reibungslos.
"GOLDENE HODEN"
Offiziell geben sich die Zuhälter dieser Tage als ehrenwerte Besitzer von Bars wie Nachtklubs aus. Die Wachstumsbranche Ware Frau gebiert Menschenhändler, die sich in ihrem Anforderungsprofil kaum von dem Einkäufer eines Großunternehmens unterscheiden mögen. Der Marktpreis für junge Frauen beläuft sich derweil um die 5.000 Euro. Und überhaupt - wer sich heute in Frankreich "goldene Hoden verdienen" will ("se faire des couilles en or") passt sich in seinem Gebaren in die Attitüden eines kapitalen auf Arbeitsplätze bedachten gesellschaftlichen Umfelds nahtlos ein. Wer will denn schon etwas gegen seriös firmierende Reiseveranstalter, gar Künstlervermittler sagen, die junge Ballettgruppen aus Russland oder Gabun zu ihren "Inszenierungen" an die Côte d'Azur verfrachten? Auftritte, die nur zwei Schauplätze kennen: das Hotelbett, wenn es gut geht; ganz sicher aber die Liege im Transporter am Straßenrand.
"IRMA-LA-DOUCE-ROMANTIK"
Marseilles Zuhälter zocken natürlich nicht grundlos in der Bar Américan auf dem Boulevard de la Pomme. Einen "Gefahrenherd", wie sie es nennen, gilt es zu beobachten. Auf der anderen Straßenseite liegt ein Anwesen, das ihnen die sicher gewähnte Erwerbsquelle zu nehmen scheint. Es ist das größte der landesweit fünfzehn Trutzburgen für Frankreichs Frauen, die sich von der Prostitution befreien, die aussteigen wollen. Eben ein "Schutzbunker für Huren" (Camp de retranchement pour les putes), wie er im Volksmund genannt wird. Und es werden immer mehr der offiziell etwa 200.000 Prostituierten der Republik, die in die Obhut der katholischen Kirche flüchten - notgedrungen sozusagen. Immer wieder ist es derselbe Grund, den die Frauen angeben, wenn er ihnen nicht schon ersichtlich ins Gesicht geprügelt wurde. Männergewalt und nochmals Zuhältergewalt. Zwei Drittel der Prostituierten Frankreichs mussten sich im Hospital schon ambulant behandeln lassen. Spätestens seit dem gesetzlichen Verbot der Irma-La-Douce-Romantik in den Stundenhotels Mitte der siebziger Jahre gehören Fausthiebe zum gewöhnlichen Tagesverlauf. Zuhälter haben es halt schwerer, die Gelder von ihren Opfern an unübersichtlichen Ausfallstraßen einzutreiben.
STRASSENSTRICH
Prostitution ist in Frankreich zwar seit jeher vom Staat erlaubt, doch nur von Frauen, die sich offiziell registrieren lassen, sich wöchentlich einer ärztlichen Kontrolle unterziehen und ihren gültigen Gesundheitspass auf dem Straßenstrich bei sich haben. Bordelle, wie in Deutschland üblich, mussten in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg schließen. Offiziell hat der Staat schon seit Jahrzehnten der Zuhälterei den Kampf angesagt. Auf der Strecke bleiben Frankreichs Prostituierte, die sich in einem Zwei-Fronten-Krieg befinden; auf der einen Seite Zuhälter, auf der anderen Polizisten - meist ebenfalls Männer. Außer der Gendarmerie - nur für Festnahmen zuständig kümmert sich kaum jemand um misshandelte Frauen. Auch in den Sozialämtern ist die Hilfe eher kümmerlich. In Marseille stapeln sich in dieser Behörde hinter den Schreibtischen Kisten voller Kondome, die an viele Frauen aus dem Gewerbe im Sechserpack samt Sozialhilfe- Scheck (etwa 400 Euro monatlich ) verteilt werden. "Sonst", urteilt Referatsleiterin Bernadette Fichard, "verwalten wir nur noch den Notstand; besser gesagt eine Erosion. Denn geholfen wird uns von dieser Regierung nicht. Es fehlt an Geld, Gebäuden und Personal. Tatsächlich sind es Berührungsängste dieser Herren - wenigstens tagsüber."
"NINOU" - AM BOULEVARD MICHELET
An diesem Nachmittag liefert die Polizei die 23jährige Ninou im Schutzbunker ab. In ihren guten Tagen stand sie am Boulevard Michelet. Zu jener Zeit absolvierte Ninou noch eine Ausbildung zur Drogistin und ging nur in den Abendstunden gelegentlich auf den Strich. Als die Drogerie unverhofft Konkurs anmeldete, fand Ninou - wie so viele junge Mädchen in Frankreich - keine Lehrstelle mehr. Die Prostitution wurde ihr Broterwerb. Schon zwei Mal hatten die Zivilfahnder Ninou gestellt - damals in ihren besseren Tagen. Seinerzeit beklagten sich Anwohner, weil sie vor ihren Wohnungen auf Kondomen ausgerutscht waren. Wegen "öffentlichen Ärgernisses" bekamen Ninou und ihre Kollegin Sylvie seinerzeit eine Ordnungsstrafe von 500 Euro. Seither war Ninou auf dem Boulevard Michelet nicht mehr gesehen worden. An diesem Freitagnachmittag stoßen die Zivilfahnder auf der Straße nach Cassis auf ein bekanntes Gesicht, das am Wegesrand nach Kundschaft Ausschau hält. Es ist Ninou. Ein Gesicht voller Blutergüsse, aufgeschlagene Lippen - die Frau ist zum Anschaffen geprügelt worden. Täglich muss sie 200 Euro abgeben. Auch wenn solche Frauen verzweifelt sind - eine Grundregel aus dem Mac-Milieu haben sie verinnerlicht: Unterwerfung, Gehorsam und Schweigen sind selbstverständlich. Frankreichs Massen-Zuhälterei funktioniert nach dem Kodex einer Sekte.
ARBEITER-PRIESTER
Nun also bringt die Zivilstreife Ninou in den Schutz- bunker am Boulevard de la Pomme. Dort sitzt sie dann Christian Metterau gegenüber, dem Leiter des Empfangs- und Orientierungskomitees "Le Nid". So nennt sich diese schon in den vierziger Jahren gegründete katholische Hilfsorganisation des Paters Talvas, einem Arbeiterpriester, der sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, Prostituierten zu helfen. "Nicht predigen, sondern sehen, zuhören, urteilen, handeln, von den Bedürfnissen der Prostituierten ausgehen", war die Devise des Paters. Als eine der Ursachen für die Prostitution in seinem Land sieht der Pater die Tatsache, "dass Staat und Kirche sich im katholischen Frankreich seit Jahrhunderten nicht einig geworden sind, der Frau eine gleichberechtigte Rolle in der Gesellschaft zuzuweisen. Schon das französische Gesetz betrachtet die männliche Begierde als normal und notwendig. Das weibliche Angebot hingegen als unzüchtig und unehrlich. Ganz im Sinne der vorherrschenden Meinung in der Kirche, wonach nun einmal die Frau der Ursprung des Sündenfalls ist."
MYTHOS CÔTE D'AZUR
Und die Prostituierten kamen zu ihrem Pater. Vornehmlich in der Nachkriegszeit, als viele Frauen Witwen waren, als das Geld und die Lebensmittel fehlten. Doch jetzt, in den neunziger Jahren, steigt der Anteil der Hilfe suchenden Liebesdienerinnen wieder an. Bedrückt sitzt Christian Metterau mit Ninou im Empfangsraum. Der 44jährige Diakon weiß nicht mehr, wo er die junge Frau noch unterbringen soll. Wegschicken kann er sie nach seinem Selbstverständnis auch nicht. Erst in der vergangenen Woche nahm er nervlich erschöpfte Prostituierte aus den armen Ländern Afrikas auf, vor allem aus Ghana. Einst ließen sie sich vom "Mythos Côte d'Azur" anlocken oder zum Broterwerb verschleppen. Jetzt wurden sie von ihren Zuhältern wegen "Überalterung" ausrangiert.
"MACS" PRÜGELN
Ninou, die im kahlen Aufnahmesaal kaum ein Wort herausbringt, fürchtet abgewiesen zu werden, abermals für ihren Zuhälter an den Ausfallstraßen zu Marseille marschieren zu müssen. "Wir sind schon lange in einer krassen Ausnahmesituation", verdeutlicht Christian Metterau, "nur keiner will das Elend des Nutten-Daseins in seiner Tragweite wirklich wahrhaben. Vom Staat bekommen wir keinen Cent, viele Helferinnen arbeiten hier noch rund um die Uhr unentgeltlich. Und unsere fünfzehn Häuser in ganz Frankreich sind brechend voll. Etwa zwei Drittel der Frauen wollen raus aus der Prostitution - wenn sie nur können."
15.000 FRAUEN WOLLEN RAUS
Immerhin beherbergte Le Nid landesweit in den letzten zehn Jahren etwa 15.000 Frauen, die den Absprung suchten. Seit fünf Jahren hilft Christean Metterau. Aber wohl keiner weiß besser als er, dass es für den Problemfall Prostitution keine Standardlösungen gibt. Er sagt: "Hier wird am deutlichsten, welch eine psychische Macht Zuhälter über diese Frauen bis hin zu ihrer Unterwerfung haben." Manche Frauen betteln am Morgen um Aufnahme - am nächsten Tag gegen Abend sind sie schon wieder verschwunden - gesichtet an ihrem Arbeitsplatz auf dem Strich. Dabei hatte sie keiner in ihrem Versteck dazu gezwungen oder gar an ihren "mac" verraten. Sie waren es selber, die den "Freund" anriefen, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, wollten sie doch "nur" in Erfahrung bringen, ob sie vermisst, gebraucht werden. Sie sehnen sich nach einem Liebesbeweis.
SCHUTZBUNKER
Schon ein kurzer Blick in die sogenannten Le-Nid-Personalakten der Außenseiter-Frauen zu Marseille liefert einen seismografischen Teilausschnitt gesellschaftlicher Zustands-beschreibungen dieser Jahre. Marie-Louise, 30 Jahre alt, Heimkind, selbst Mutter von zwei Söhnen, vom Vater auf den Strich geschickt, als sie fünfzehn war, Brandnarben im Gesicht, Alkoholikerin, ohne Berufsausbildung, vor dem Zuhälter, "Kater Drago" genannt, geflohen, seit vier Monaten im Heim. Seelischer Zustand: Wechselbäder zwischen Depressionen und Übertreibungen. Oder Yvonne, 23 Jahre alt, in Algier geboren, mit 18 von einem nordafrikanischen Zuhälterring nach Marseille verschleppt, suchte mit anderen Frauen aus Tunesien und Marokko Männer auf Schiffen im Hafen auf. Berufsausbildung: Schneiderin, seit sechs Monaten in Marseille. Psychischer Befund: Kontaktgestört, spricht nicht. Oder Carla, 18 Jahre alt, aus dem Erziehungsheim in Toulon wegen Missbrauchs durch Sozialarbeiter geflohen, an der Côte d'Azur in Hotels zunächst als Zimmermädchen, dann als Callgirl, Tätowierungen an Beinen als Erkennungsmarke, Krankenhausaufenthalt wegen gebrochener Rippen, von der Polizei gebracht, möchte zu ihrem Zuhälter zurück, seit drei Wochen hier, Analphabetin, Zustand: rebellisch, Prognose: Rückfall.
ANALPHABETINNEN

Besonders jüngere Frauen betrachten ihren Aufenthalt im Schutzbunker lediglich als eine Zwischenstation, als eine Art Erholungspause, bevor sie sich wieder in den Straßen verdingen. Meist sind sie von der Polizei oder auch von den Sozialämtern gebracht worden. Auffallend hoch ist die Analphabetenquote unter dem Nutten-Nachwuchs. Laut Aktenauskunft sind 18 Prozent dieser Frauen des Lebens und Schreibens unkundig.
KOCHKURSE,THERAPIE

Die Mehrzahl der misshandelten Frauen ist froh, einen Zufluchtsort gefunden zu haben. Ein Refugium, in das sie ohne Papiere und ohne Arbeitserlaubnis aufgenommen werden, das ihnen Schutz bietet - vielleicht auch einen Neuanfang ermöglicht. Ob bei handwerklichen Gruppenarbeiten, Kochkursen oder auch bei Alphabetisierungsunterricht - fast jeden Abend kreisen die Gespräche immer wieder um die gleichen Themen: Wie kann ich der Prostitution entkommen, wie schaffe ich es, mein Auskommen anderweitig zu finden, gelingt es, wieder Kontakte zu meiner Familie zu finden?


Die Uhr am Eingang des Schutzbunkers zu Marseille zeigt auf Mitternacht. Es klingelt an der Haustür, eine Frau bittet um Einlass. Die Außenbeleuchtung macht jede Erklärung überflüssig: Die eine Gesichtshälfte der Frau ist stark angeschwollen. Helferin Danielle, die Nachtdienst hat, winkt die Frau stumm herein. Als sie im Sanitätsraum feuchte Umschläge zur Schmerzlinderung vorbereitet, murmelt sie: "Hier ist das Hauptschlachtfeld des Frauenkampfes."