Sonntag, 27. Juni 1993

Scarlett: nachts auf See, tagsüber im Komitee





















































Schon als junges Mädchen begleitete Fischerin Scarlett vom Hafen Le Guilvinec ihren Vater zum Fang in den Golf von Biskaya. Seit Jahr-zehnten kämpft sie ohne Unterlass ums Über-leben. Billig-Importe drücken Preis und Moral - zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig.


Frankenpost, Hof
vom 27. Juni 1993
von Reimar Oltmanns

Die Kulisse im kleinen bretonischen Hafen von Le Guilvinec mit seinen fünftausend Menschen könnte den Hintergrund einer Roman-Verfilmung verflossener Jahre abgeben.Beschaulich wie überschaubar regt sich alltägliche Geschäftigkeit, als lebten jene wohlbehüteten Zeitläufe aus Romantik und Renaissance ungeahnt fort. So manche Butzenscheiben in den akkurat grau gestrichenen Fischer-Natursteinhäusern spiegeln das Dorfgeschehen wider. Wind und Wasser prägen Leute und Landschaft - Felsbuchten, Granitklippen, das Auf und Ab der Gezeiten, die Gewalt der Herbst- oder Frühjahrsstürme. Zwanzig Jahre ununterbrochener Aufschwung hat der Ort hinter sich. An die dreißig hoch technisierten Dampfer liefen hier alle drei Monate zur Blütezeit vom Stapel. Meist in den Abendstunden lehnen sich wartende Frauen mit ihren Kindern aus den Fenstern des Fischer-Hauses, johlen oder winken ihren Männern entgegen, die mit ihren Kuttern heimwärts tuckern: den Meer knapp zwei Wochen Kabeljau, Steinbutt, Langusten oder Seelachs auch Quappen abgetrotzt haben - handwerklich versteht sich.

MARKANTE GESICHTER

Nichts, so wollte es über Jahrzehnte scheinen, vermochte das bretonische Selbstwertgefühl zu beeinträchtigen. Seit jeher ist es getragen von einem unbändigen Behauptungswillen gegenüber der französischen Republik, können sich auch heute noch die Leute an der Küste schwerlich damit abfinden, ein Teil Frankreichs zu sein. Und ihr angelegenstes Département Finistère bedeutet nicht nur "Ende des Festlandes". - Hier ist die Bretagne ein unverkennbares Land der Frauen. Überall in dieser Region haben Frauen markant das Sagen, liegen Geschäfte oder auch das finanzielle Desaster im Überlebenskampf als Fischer-Familien ausnahmslos in ihren Händen. Zunächst notgedrungenerweise, weil die Männer als Matrosen oder Kapitäne oft Wochen, gar Monate auf See waren; mittlerweile zunehmend selbstbewusster, unabhängiger, unnachgiebiger - zuweilen auch leidenschaftlicher.

FRAUEN-ZEITEN

Bretagne - Mitte der neunziger Jahre - fortwährende Krisen-Zeiten: das sind Frauen-Zeiten. Dabei haben sie lediglich eine unscheinbare Kontinuität bewahrt. Im Städtchen Douarnenez, so wissen heimische Chronisten zu berichten, hat es schon im Jahre 1902 erste Frauen-Unruhen Frankreichs gegeben. Über 2.000 Arbeiterinnen einer Fischkonservenfabrik traten von sich aus in den Streik - erstritten höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Wohl in keiner französischen Region wie der Bretagne mit ihren 1.100 Küsten-Kilometern und an den 2.000 Schiffen - sie machen etwa die Hälfte des französischen Fischfangs aus - sind die Kontraste derart scharf geschnitten, prallen Widersprüche so unversöhnlich aufeinander.

Es sind Frauen - junge wie alte - die sich in den Häfen etwa in Brest oder Lorient verdingen. Sie tragen schon des Morgens um 5 Uhr Körbe voller Schollen, Äschen, Steinbutten oder Barschen, sortieren und stapeln den Fang in Kisten, schleppen ihn auf Lastwagen, flink, geschickt, schweigsam, mit erprobter Routine vieler Generationen. Hafenarbeit - das ist Kärrnerarbeit, Frauen-Plackerei allemal. An den Wänden der Lagerhalle haben sie in großen Lettern ihren doppelsinnigen Leitspruch gepinselt: "Survivre ou mourir"- überleben oder sterben - heißt es da lapidar.

Gewiss hat sich das auch die einzige selbstständige Fischerin der Region, die 37jährige Scarlett Le Core gesagt, als sie den Kampf gegen die fischende Männerwelt aufnahm. Schon ihr Vater fuhr zur See, schon als sechsjähriges Mädchen begleitete sie ihn bei Wind und Wetter, säuberte Netze wie Reusen, schleppte Kisten zur Auktion. Verständlich, dass auch Scarlett Fischerin werden wollte, "weil ich praktisch auf See geboren wurde, und die Freiheit auf Meer unbeschreiblich ist". Nur - sie durfte nicht. Zehn Jahre vergingen. Kochen lernte sie, servierte in Bars Weine, puderte in Kosmetikläden betuchten Damen zartes Rouge auf die Wangen, heiratete, bekam drei Kinder.

EIN PAAR MINUTEN GÄNSEHAUT

Erst die Frauen-Aufbruchsjahre in den Siebzigern ließen Scarlett trotzig werden. Zunächst ging sie heimlich zur Fischerschule, bestand die Prüfungen. Nunmehr kaufte sie sich demonstrativ ein Boot. Endlich wurde ihr beruflicher Wunschtraum Wirklichkeit. - Sarclett fuhr allein zur See. Sie erinnert sich: "Neid und Frauen-Feindlichkeit schlugen mir anfangs entgegen, Häme und auch Spott." Naheliegend war es, dass sich jener Argwohn auch auf ihren Mann Jean-Pierre übertrug. - Einen Großfischer-Matrosen, der von sich aus Haushalt, Hausputz und Kinder-Obhut mit Frau Scarlett teilt, sobald er an Land weilt. Er, der Jean-Pierre, sei ein Butt ohne Flossen, raunte es durch die Gassen von Guilvinec. Eben kein in der Fischertradition stehender Familienvater, lässt gar sein Weib auf hoher See, Kinder mit Au-pair-Mädchen allein zu Hause, Essen nur auf der Tiefkühltruhe und so weiter.

Nur ganz allmählich konnten sich die mannbedachten Seeleute von Guilvinec damit abfinden, dass neben Scarlett mittlerweile auch noch fünf weitere Frauen mit ihren Booten - allerdings mit Matrosen - bis zu fünf Meilen von der Küste entfernt auf Fischfang gegen. Für Scarlett und Kolleginnen ist ihre Unabhängigkeit ein unveräußerbares Lebensmerkmal ihres Daseins - beruflich wie privat. Von April bis Oktober eines jeden Jahres fahren sie schon morgens um 5 Uhr hinaus aufs Meer, kehren nach vier Stunden in den Hafen zurück, verkaufen die soeben gefangenen Fische. Mittags kocht Mutter Scarlett zu Hause, macht Einkäufe in den Super-märkten. Gegen 13 Uhr präpariert sie die Netze für den nächsten Fischfang. Dann tuckert Scarlett wieder raus, um für die Auktion um 17 Uhr frische Quappen, Langusten oder Seezungen anbieten zu können. Nach dem Abendessen gegen 20 Uhr kurvt sie mit ihrem klapprigen Renault-Kombi nochmals in den Hafen, erneut treibt sie es auf See - oft bis nachts um eins. Sie sagt: "Ich will um jeden Preis meine Selbstständigkeit. Eine Stempeluhr wie in den Fabriken wäre Quälerei für mich. Dafür arbeite ich bis zum Umfallen. Wir Frauen rackern ohnehin drei Mal so viel wie die Männer. Ein alter Fischer kam letztens an mein Boot und sagte zu mir: " Wir wussten eigentlich ja schon immer, dass du eine gute Fischerin bist' - Da hatte ich ein paar Sekunden Gänsehaut."

Nur in diesem Jahr, der schwierigsten Fischer-Krise überhaupt, ist Scarletts Tagesrhythmus arg durcheinander geraten, Handlungsbedarf besteht, Frauen-Solidarität ist angesagt. Verständlich, dass es Madame Scarlett keine ruhige Minute auf See oder zu Hause hält. Ihre Kinder brachte sie in solch bewegten Zeiten vorsorglich bei ihrer Mutter unter. Als Vize-Präsidentin des örtlichen Komitees "Femems de Marins Peucheurs" reiste sie kreuz und quer durch die Region, trommelte verstummte Fischer-Frauen zusammen.

WARTEN NICHT AUF BESSERE ZEITEN

"Frauen, seid nicht kleinlaut", sagt Scarlett zu ihren Leidensgefährtinnen, "wir sind stärker als die Männer. Unser Kampf beginnt erst jetzt." Zunächst waren es nur vierzig, dann stieg ihre Anzahl auf 150 Frauen, die sich im Maison du pêcheur zu Guilvinec nunmehr regelmäßig einfinden. Ursprünglich sollte dieses alte Haus einmal für die Männer die administrative Anlaufstelle sein, ihr Knoten- und Kontaktpunkt sozusagen. Mittlerweile führen auch dort ihre Frauen auffällig Regie. Sie heißen Christine, Malou, Marylène, Janine oder auch Scarlett. Sie sind zwischen 30 und 40 Jahre als und haben zu Hause alle zwei bis vier Kinder an ihrer Seite - Verzweifelung ist ihr Wegbegleiter. So manche Familie hat sich noch vor wenigen Jahren hoch verschuldet, den Männern für den Fischfang ein Schiff zwischen 1,1 bis 1,6 Millionen
Euro gekauft. Christine sagt: "Wenn wir nichts tun, werden wir allesamt mit offenem Maul verrecken. Die Männer haben genug geredet, verhandelt. Wir warten nicht auf bessere Zeiten. Jetzt ist die Stunde der Frauen. Wir haben die Nase voll."

ÜBERLEBENSKOMITEE

Über Monate haben die Fischer-Frauen von Guilvinec mit ansehen müssen, wir ihre Einkünfte rasant dahinschmolzen - bis zahlreiche Familien überhaupt nichts mehr im Kochtopf hatten, Schiffe und Häuser vom Konkursrichter schnurstraks versteigert wurden. Seit Monaten stürzt das Einkommen französischer Fischer im freien Fall. Die meisten verdienen heute nur noch ein Drittel des Wertes von 1990. Allein im vergangenen Jahr mussten 600 Familien wegen Überschuldung eine eidesstaatliche Erklärung ihre Zahlungsunfähigkeit (früher Offenbarungseid) leisten. Scarlett berichtet: "Früher kam mein Mann Jean-Pierre, der als Matrose oft 14 Tage auf See ist, immerhin mit etwa 1.550 Euro nach Hause. Jetzt sind es nur noch 110 Euro. Erst habe ich mich geschämt. Dann stellte ich fest, dass wir ja nicht alleine sind - und begann zu kämpfen."

Täglich treffen sich die Überlebenskomitee-Frauen im Fischerhaus. Täglich kreisen ihre Gedanken um ein und dieselbe Frage: wie können wir und unsere Nachbarn diese Zeiten durchstehen. Arbeitsteilung ist angesagt. Christine sitzt am Telefon, verhandelt mit Banken und Lebensmittelläden, mit der Elektrizitätsgesellschaft, bitte um Stundung. Strom und Essbares. Marylène schnürt mit einer Frauen-Gruppe derweil Fresspakete.

MILITANTE AKTIONEN

Meist am Nachmittag bis hinein in die späten Abendstunden sind militante Aktionen an der "Bewusstseins-Front" angesagt. Militant deshalb, "weil die Politiker-Männer, diese Jahrmarkts-Narren aus dem arroganten Paris, unsere Frauen-Sprache offenkundig nicht verstehen wollen", mutmaßt Christine erbost. Immer wieder ging es des Nachts mit den Zügen nach Paris ins Fischerei-Ministerium oder nach Brüssel zur EU-Kommission, um dort früh morgens aufdringlich Politiker samt Referentenstab aufzuscheuen.

In der Tat: Eine Flut von Fisch-Billigimporten, meist aus Nicht-EU-Ländern, vor allem aber auch aus Osteuropa überschwemmt Frankreich. Ursprünglich wollte die EU-Kommission in Brüssel den Meeren des Kontinents eine Verschnaufpause einräumen, sollte sich der Fisch-Bestand erholen. Folglich wurde der Import beschlossen. In Zahlen: Aus allen Meeren der Welt holten Schiffe Anfang des Jahrhunderts zwei Millionen Tonnen heraus: nunmehr gehen über 100 Millionen Tonnen Fische ins Netz. Dabei wurde in Brüssel offenkundig die Folgewirkung außer Acht gelassen; nämlich die Existenzvernichtung Zehntausender europäischer Fischer.

- Paradoxien dieser Zeit.Immerhin können die Fischer-Frauen aus der Bretagne schon einige Teil-Erfolge für sich verbuchen. Gemeinsam mit ihren Männern haben sie es geschafft, dass der französische Staat ihnen bei der Umschuldung ihrer teueren Schiffskäufe behilflich ist, ihnen eine Direkthilfe von rund 45 Millionen Euro zukommen lässt. Und die EU in Brüssel führte Fisch-Mindestpreise ein, an die sich die Billigimporteure zu halten haben - offiziell zumindest. Und noch ein ganz anderer Gesichtspunkt gibt den Frauen Mut, ihren Kampf fortzuführen. Die Präsidentin der "Association des femmes de marins et comité de survie", Christine Nedellec wagt eine Prognose kommender Jahre, vielleicht Jahrzehnte, wenn sie sagt: " Hier in der Bretagne ist etwas an Frauen-Empfindungen, Frauen-Maßstäben, Frauen-Macht entstanden. Das haben wir nicht vermutet und das kann uns jetzt niemand nehmen."