Sonntag, 27. Juni 1993

Scarlett: nachts auf See, tagsüber im Komitee





















































Schon als junges Mädchen begleitete Fischerin Scarlett vom Hafen Le Guilvinec ihren Vater zum Fang in den Golf von Biskaya. Seit Jahr-zehnten kämpft sie ohne Unterlass ums Über-leben. Billig-Importe drücken Preis und Moral - zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig.


Frankenpost, Hof
vom 27. Juni 1993
von Reimar Oltmanns

Die Kulisse im kleinen bretonischen Hafen von Le Guilvinec mit seinen fünftausend Menschen könnte den Hintergrund einer Roman-Verfilmung verflossener Jahre abgeben.Beschaulich wie überschaubar regt sich alltägliche Geschäftigkeit, als lebten jene wohlbehüteten Zeitläufe aus Romantik und Renaissance ungeahnt fort. So manche Butzenscheiben in den akkurat grau gestrichenen Fischer-Natursteinhäusern spiegeln das Dorfgeschehen wider. Wind und Wasser prägen Leute und Landschaft - Felsbuchten, Granitklippen, das Auf und Ab der Gezeiten, die Gewalt der Herbst- oder Frühjahrsstürme. Zwanzig Jahre ununterbrochener Aufschwung hat der Ort hinter sich. An die dreißig hoch technisierten Dampfer liefen hier alle drei Monate zur Blütezeit vom Stapel. Meist in den Abendstunden lehnen sich wartende Frauen mit ihren Kindern aus den Fenstern des Fischer-Hauses, johlen oder winken ihren Männern entgegen, die mit ihren Kuttern heimwärts tuckern: den Meer knapp zwei Wochen Kabeljau, Steinbutt, Langusten oder Seelachs auch Quappen abgetrotzt haben - handwerklich versteht sich.

MARKANTE GESICHTER

Nichts, so wollte es über Jahrzehnte scheinen, vermochte das bretonische Selbstwertgefühl zu beeinträchtigen. Seit jeher ist es getragen von einem unbändigen Behauptungswillen gegenüber der französischen Republik, können sich auch heute noch die Leute an der Küste schwerlich damit abfinden, ein Teil Frankreichs zu sein. Und ihr angelegenstes Département Finistère bedeutet nicht nur "Ende des Festlandes". - Hier ist die Bretagne ein unverkennbares Land der Frauen. Überall in dieser Region haben Frauen markant das Sagen, liegen Geschäfte oder auch das finanzielle Desaster im Überlebenskampf als Fischer-Familien ausnahmslos in ihren Händen. Zunächst notgedrungenerweise, weil die Männer als Matrosen oder Kapitäne oft Wochen, gar Monate auf See waren; mittlerweile zunehmend selbstbewusster, unabhängiger, unnachgiebiger - zuweilen auch leidenschaftlicher.

FRAUEN-ZEITEN

Bretagne - Mitte der neunziger Jahre - fortwährende Krisen-Zeiten: das sind Frauen-Zeiten. Dabei haben sie lediglich eine unscheinbare Kontinuität bewahrt. Im Städtchen Douarnenez, so wissen heimische Chronisten zu berichten, hat es schon im Jahre 1902 erste Frauen-Unruhen Frankreichs gegeben. Über 2.000 Arbeiterinnen einer Fischkonservenfabrik traten von sich aus in den Streik - erstritten höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Wohl in keiner französischen Region wie der Bretagne mit ihren 1.100 Küsten-Kilometern und an den 2.000 Schiffen - sie machen etwa die Hälfte des französischen Fischfangs aus - sind die Kontraste derart scharf geschnitten, prallen Widersprüche so unversöhnlich aufeinander.

Es sind Frauen - junge wie alte - die sich in den Häfen etwa in Brest oder Lorient verdingen. Sie tragen schon des Morgens um 5 Uhr Körbe voller Schollen, Äschen, Steinbutten oder Barschen, sortieren und stapeln den Fang in Kisten, schleppen ihn auf Lastwagen, flink, geschickt, schweigsam, mit erprobter Routine vieler Generationen. Hafenarbeit - das ist Kärrnerarbeit, Frauen-Plackerei allemal. An den Wänden der Lagerhalle haben sie in großen Lettern ihren doppelsinnigen Leitspruch gepinselt: "Survivre ou mourir"- überleben oder sterben - heißt es da lapidar.

Gewiss hat sich das auch die einzige selbstständige Fischerin der Region, die 37jährige Scarlett Le Core gesagt, als sie den Kampf gegen die fischende Männerwelt aufnahm. Schon ihr Vater fuhr zur See, schon als sechsjähriges Mädchen begleitete sie ihn bei Wind und Wetter, säuberte Netze wie Reusen, schleppte Kisten zur Auktion. Verständlich, dass auch Scarlett Fischerin werden wollte, "weil ich praktisch auf See geboren wurde, und die Freiheit auf Meer unbeschreiblich ist". Nur - sie durfte nicht. Zehn Jahre vergingen. Kochen lernte sie, servierte in Bars Weine, puderte in Kosmetikläden betuchten Damen zartes Rouge auf die Wangen, heiratete, bekam drei Kinder.

EIN PAAR MINUTEN GÄNSEHAUT

Erst die Frauen-Aufbruchsjahre in den Siebzigern ließen Scarlett trotzig werden. Zunächst ging sie heimlich zur Fischerschule, bestand die Prüfungen. Nunmehr kaufte sie sich demonstrativ ein Boot. Endlich wurde ihr beruflicher Wunschtraum Wirklichkeit. - Sarclett fuhr allein zur See. Sie erinnert sich: "Neid und Frauen-Feindlichkeit schlugen mir anfangs entgegen, Häme und auch Spott." Naheliegend war es, dass sich jener Argwohn auch auf ihren Mann Jean-Pierre übertrug. - Einen Großfischer-Matrosen, der von sich aus Haushalt, Hausputz und Kinder-Obhut mit Frau Scarlett teilt, sobald er an Land weilt. Er, der Jean-Pierre, sei ein Butt ohne Flossen, raunte es durch die Gassen von Guilvinec. Eben kein in der Fischertradition stehender Familienvater, lässt gar sein Weib auf hoher See, Kinder mit Au-pair-Mädchen allein zu Hause, Essen nur auf der Tiefkühltruhe und so weiter.

Nur ganz allmählich konnten sich die mannbedachten Seeleute von Guilvinec damit abfinden, dass neben Scarlett mittlerweile auch noch fünf weitere Frauen mit ihren Booten - allerdings mit Matrosen - bis zu fünf Meilen von der Küste entfernt auf Fischfang gegen. Für Scarlett und Kolleginnen ist ihre Unabhängigkeit ein unveräußerbares Lebensmerkmal ihres Daseins - beruflich wie privat. Von April bis Oktober eines jeden Jahres fahren sie schon morgens um 5 Uhr hinaus aufs Meer, kehren nach vier Stunden in den Hafen zurück, verkaufen die soeben gefangenen Fische. Mittags kocht Mutter Scarlett zu Hause, macht Einkäufe in den Super-märkten. Gegen 13 Uhr präpariert sie die Netze für den nächsten Fischfang. Dann tuckert Scarlett wieder raus, um für die Auktion um 17 Uhr frische Quappen, Langusten oder Seezungen anbieten zu können. Nach dem Abendessen gegen 20 Uhr kurvt sie mit ihrem klapprigen Renault-Kombi nochmals in den Hafen, erneut treibt sie es auf See - oft bis nachts um eins. Sie sagt: "Ich will um jeden Preis meine Selbstständigkeit. Eine Stempeluhr wie in den Fabriken wäre Quälerei für mich. Dafür arbeite ich bis zum Umfallen. Wir Frauen rackern ohnehin drei Mal so viel wie die Männer. Ein alter Fischer kam letztens an mein Boot und sagte zu mir: " Wir wussten eigentlich ja schon immer, dass du eine gute Fischerin bist' - Da hatte ich ein paar Sekunden Gänsehaut."

Nur in diesem Jahr, der schwierigsten Fischer-Krise überhaupt, ist Scarletts Tagesrhythmus arg durcheinander geraten, Handlungsbedarf besteht, Frauen-Solidarität ist angesagt. Verständlich, dass es Madame Scarlett keine ruhige Minute auf See oder zu Hause hält. Ihre Kinder brachte sie in solch bewegten Zeiten vorsorglich bei ihrer Mutter unter. Als Vize-Präsidentin des örtlichen Komitees "Femems de Marins Peucheurs" reiste sie kreuz und quer durch die Region, trommelte verstummte Fischer-Frauen zusammen.

WARTEN NICHT AUF BESSERE ZEITEN

"Frauen, seid nicht kleinlaut", sagt Scarlett zu ihren Leidensgefährtinnen, "wir sind stärker als die Männer. Unser Kampf beginnt erst jetzt." Zunächst waren es nur vierzig, dann stieg ihre Anzahl auf 150 Frauen, die sich im Maison du pêcheur zu Guilvinec nunmehr regelmäßig einfinden. Ursprünglich sollte dieses alte Haus einmal für die Männer die administrative Anlaufstelle sein, ihr Knoten- und Kontaktpunkt sozusagen. Mittlerweile führen auch dort ihre Frauen auffällig Regie. Sie heißen Christine, Malou, Marylène, Janine oder auch Scarlett. Sie sind zwischen 30 und 40 Jahre als und haben zu Hause alle zwei bis vier Kinder an ihrer Seite - Verzweifelung ist ihr Wegbegleiter. So manche Familie hat sich noch vor wenigen Jahren hoch verschuldet, den Männern für den Fischfang ein Schiff zwischen 1,1 bis 1,6 Millionen
Euro gekauft. Christine sagt: "Wenn wir nichts tun, werden wir allesamt mit offenem Maul verrecken. Die Männer haben genug geredet, verhandelt. Wir warten nicht auf bessere Zeiten. Jetzt ist die Stunde der Frauen. Wir haben die Nase voll."

ÜBERLEBENSKOMITEE

Über Monate haben die Fischer-Frauen von Guilvinec mit ansehen müssen, wir ihre Einkünfte rasant dahinschmolzen - bis zahlreiche Familien überhaupt nichts mehr im Kochtopf hatten, Schiffe und Häuser vom Konkursrichter schnurstraks versteigert wurden. Seit Monaten stürzt das Einkommen französischer Fischer im freien Fall. Die meisten verdienen heute nur noch ein Drittel des Wertes von 1990. Allein im vergangenen Jahr mussten 600 Familien wegen Überschuldung eine eidesstaatliche Erklärung ihre Zahlungsunfähigkeit (früher Offenbarungseid) leisten. Scarlett berichtet: "Früher kam mein Mann Jean-Pierre, der als Matrose oft 14 Tage auf See ist, immerhin mit etwa 1.550 Euro nach Hause. Jetzt sind es nur noch 110 Euro. Erst habe ich mich geschämt. Dann stellte ich fest, dass wir ja nicht alleine sind - und begann zu kämpfen."

Täglich treffen sich die Überlebenskomitee-Frauen im Fischerhaus. Täglich kreisen ihre Gedanken um ein und dieselbe Frage: wie können wir und unsere Nachbarn diese Zeiten durchstehen. Arbeitsteilung ist angesagt. Christine sitzt am Telefon, verhandelt mit Banken und Lebensmittelläden, mit der Elektrizitätsgesellschaft, bitte um Stundung. Strom und Essbares. Marylène schnürt mit einer Frauen-Gruppe derweil Fresspakete.

MILITANTE AKTIONEN

Meist am Nachmittag bis hinein in die späten Abendstunden sind militante Aktionen an der "Bewusstseins-Front" angesagt. Militant deshalb, "weil die Politiker-Männer, diese Jahrmarkts-Narren aus dem arroganten Paris, unsere Frauen-Sprache offenkundig nicht verstehen wollen", mutmaßt Christine erbost. Immer wieder ging es des Nachts mit den Zügen nach Paris ins Fischerei-Ministerium oder nach Brüssel zur EU-Kommission, um dort früh morgens aufdringlich Politiker samt Referentenstab aufzuscheuen.

In der Tat: Eine Flut von Fisch-Billigimporten, meist aus Nicht-EU-Ländern, vor allem aber auch aus Osteuropa überschwemmt Frankreich. Ursprünglich wollte die EU-Kommission in Brüssel den Meeren des Kontinents eine Verschnaufpause einräumen, sollte sich der Fisch-Bestand erholen. Folglich wurde der Import beschlossen. In Zahlen: Aus allen Meeren der Welt holten Schiffe Anfang des Jahrhunderts zwei Millionen Tonnen heraus: nunmehr gehen über 100 Millionen Tonnen Fische ins Netz. Dabei wurde in Brüssel offenkundig die Folgewirkung außer Acht gelassen; nämlich die Existenzvernichtung Zehntausender europäischer Fischer.

- Paradoxien dieser Zeit.Immerhin können die Fischer-Frauen aus der Bretagne schon einige Teil-Erfolge für sich verbuchen. Gemeinsam mit ihren Männern haben sie es geschafft, dass der französische Staat ihnen bei der Umschuldung ihrer teueren Schiffskäufe behilflich ist, ihnen eine Direkthilfe von rund 45 Millionen Euro zukommen lässt. Und die EU in Brüssel führte Fisch-Mindestpreise ein, an die sich die Billigimporteure zu halten haben - offiziell zumindest. Und noch ein ganz anderer Gesichtspunkt gibt den Frauen Mut, ihren Kampf fortzuführen. Die Präsidentin der "Association des femmes de marins et comité de survie", Christine Nedellec wagt eine Prognose kommender Jahre, vielleicht Jahrzehnte, wenn sie sagt: " Hier in der Bretagne ist etwas an Frauen-Empfindungen, Frauen-Maßstäben, Frauen-Macht entstanden. Das haben wir nicht vermutet und das kann uns jetzt niemand nehmen."

Montag, 7. Juni 1993

Im Club der Nukleokraten




















Ungeachtet weltweiter Kritik an der fried-lichen Nutzung der Kernenergie setzt Frank-reich gerade in Jahren des Klimawandels und enorm gestiegener Energiekosten unbeirrt auf weitere Expansion seiner 58 Atomreaktoren, die 80 Prozent des Stromverbrauchs erzeugen.

Die französische Regierung wertet den syste-matischen Ausbau und umfangreichen Export ihrer Kernenergie in sogenannte industrielle Schwellenländer als aktiven Beitrag gegen Erderwärmung, gegen Treibhausgase. Mit Ende des Jahres 2008 wird der staatliche Stromkonzern EDF den angeblich sichersten französischen Druckwasserreaktor-Typs EPR der Welt in Betrieb nehmen. Eine enge Ko-operation mit England ist unter Dach und Fach.

Während nur Deutschland - weltweit als einziges Industrie-Land - ganz aus der atomare Stromversorgung aussteigen will, setzt Frankreich auch in Zukunft ganz auf seine Kernkraftwerken. Sie ist im Land un-umstritten. Mittlerweile erobern sich in der Atom-Nation Frankreich immer mehr Frauen
Schlüsselpositionen in den AKW's. Im Kern-kraftwerk Le Bugey im Rhônetal, einst klas-sische Männer-Domäne, führen sie inzwischen wie selbstverständlich Regie.

Wochenzeitung FREITAG, Berlin
vom 7. Mai 1993
von Reimar Oltmanns

Der mit Monitoren bepflasterte Kontrollraum kennt nur Männer-Gesichter. Gesichter, die auch unbeobachtet keinen Zweifel aufkommen lassen dürfen. Etwa ein Dutzend Operateure und Ingenieure luchst im Über-wachungszentrum des französischen Kernkraftwerkes Le Bugey im Rhône-Tal unaufhaltsam auf Bildschirme, Farbskalen, Schalter samt Knöpfen. Völlig abgeschottet, ohne Tageslicht, so steuern bislang diese auserkorenen Männer-Mannschaften die atomare Stromversorgung von etwa 13 Milliarden Kilowattstunden in einem Jahr, eine Energie-Produktion, die etwa 3,3 Millionen Tonen Heizöl entspricht.
ATOMARE AVANTGARDE
Im Werk Le Bugey und auch anderswo in Frankreich verstand es sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten nahezu von selbst, die Atom-Männer in sensiblen Kommandozentralen der 61 Kernkraftwerke der Re-publik als "Tabu" zu behandeln. Zu unangefochten nimmt sich ihre Position zwischen Leben und poten-zieller Massen-vernichtungsgefahr aus, zu autoritär und sicher kam ihre scheinbar in sich ruhende Selbstge-wissheit männlicher Machbarkeit daher. Unausge-sprochen - aber im alltäglichen Verhalten nachhaltig vermittelt: Wir sind der zivile Atomstaat Nummer eins in der Welt, die nukleare Festung Europas, la France als atomare Avantgarde schlechthin. Wir haben einen omnipotenten Leistungswillen. Unser Motto heißt: Tout nucléaire - Atomstrom total. Dabei stehen wir konse-quent in der Tradition der Fünften Republik. Erst ließ Charles de Gaulle (*1890+1970) die Bombe zur mili-tärischen Abschreckung bauen, dann überzogen wir nach dem Ölschock Anfang der siebziger Jahre das Land systematisch mit Reaktoren - eine Tat des Friedens, friedlich durchgesetzt.

KADER UND MÄNNLICHKEIT
Atom und Männlichkeit in einem Atemzug zu nennen, scheint jedenfalls im Dunstkreis der französischen Kernkraftwerke nur folgerichtig zu sein. Selbstwahr-nehmung und Lebensgefühl sind hier seit jeher getragen von einem Bewusstsein, zur Elite des Landes, zu einer hochkarätigen, abgeschotteten Kaste der Republik zu zählen. Denn Frankreich verfügt über keine nennens-werten Energiequellen. Dank der Atomkraft gelang es in den letzten zwanzig Jahren, die Kosten für Energieim-porte um die Hälfte zu reduzieren - somit die Wirt-schaftskraft der Nation beträchtlich zu stärken.
DIE EDF - STAAT IM STAATE
Praktisch bildet der nationale Stromversorger Electri-cité de France (EDF) mit seinen 145.000 Angestellten, als größter Stromexporteur Europas, einen Staat im Staates - weder von der Politik maßgeblich kontrolliert, noch gesellschaftlich mit seinen ehrgeizigen Atom-programmen thematisiert, gar kritisiert. In Frankreich ist das kein zentrales Thema.Immerhin durften die Abgeordneten des Pariser Parlaments gelegentlich auch schon mal über Energiepolitik debattieren - dreimal in den vergangenen zwanzig Jahren. Neue Minister können kommen, alte Regierungen gehen, nur gegen den Club der Nukleokraten "gegen diesen militärisch-industriellen Komplex, hatte bisher so niemand eine reelle Chance", beteuert Madame Huguette Bouchar-deau, die Anfang der achtziger Jahre als Umwelt-ministerin scheiterte. Allesamt bilden sie eine Kaste: dieselbe Eliteschule, dasselbe Pariser Wohnviertel und die gleiche Denkweise: Ermattet fügt sie hinzu: "Selbst Sozialisten, die als Atomkraftgegner Industrieminister wurden, kamen als Befürworter wieder heraus."
GROSSE AKZEPTANZ
Aber auch sonst ist in Frankreich die Akzeptanz der Kernenergie in allen gesellschaftlichen Lagern sehr hoch. Ob links oder rechts in der politischen Gesäß-geografie des Parlaments, als technikfreundlich und fortschrittlich empfunden sie sich allesamt. Lediglich die beiden Umweltparteien gingen auf Distanz zur "nuklearen Festung", aber eher kleinlaut und halbherzig. Denn ausgesprochene Gegner des Atom-stroms sind auch sie keineswegs. Immerhin betragen die umweltzerstörenden Kohlestoff-Emissionen in Frank-reich nur 1,9 Tonnen pro Einwohner eine im inter-nationalen Vergleich äußerst niedrige Zahl.
DEUTSCHER AUSSTIEG - FRANKREICHS EINSTIEG
Gewiss, die mitunter rigorose Ablehnung der Kern-energie, die über Jahre andauernde Protestmärsche samt AKW-Blockaden wirken in Deutschland vornehm-lich bei den Grünen und auch Teil der Sozialdemokratie identitätsstiftend. Diese leidenschaftlich vorgebrachte Anti-Atomkraft-Politik beeinflusst junge Generationen in ihrem Denken, Fühlen und Handeln maßgeblich. Sie zählt zu den letzten verlässlichen Erkennungsmerk-malen politischer Gesinnungsethik in dem konturlosen und abgefeimten Allerei politischer "Kultur". Aber die überwältigende Mehrheit der Franzosen ist diese be-herzte Form dauer-haften Aufbegehrens fremd. Geht es doch im die Ver-sorgungslage der Nation, die nun ein-mal ganz oben in der Werteskala rangiert. In Frank-reich bringt es selbst die großspurigste Atompolitik, welcher Regierung in Paris auch immer, nicht fertig, so zu provozieren, dass die alten ideologischen Klassen-gegensätze ausgehebelt würden und sich eine Protest-bewegung bildete.
ABWEGIGE GEDANKENSPIELE
Während sich in Berlin die Stromversorger und Politiker von SPD und Grünen zumindest zeitweilig konsensfähig um Gedanken über den "Einstieg in den Ausstieg"
mühten, gar eine Verlängerung der Laufzeiten be-stehender Kernkraftwerke pauschal ablehnten, gibt es in der französischen Sprache nicht einmal eine Ent-sprechung für das bedeutungsschwere Wort "Ausstieg". In Paris jedenfalls werden solche Gedankenspiele von vornherein abwegig genannt. Statt dessen soll bis spätestens zur Jahrtausendwende die Vision Wirklich-keit und der "Reaktor der Zukunft" REP 2000 einsatzbereit sein, technologisch ausgereifter, noch sicherer, heißt es. EDF-Generaldirektor Jean Bergougnoux sprach sogar von einem "erheblichen Bedarf" neuer Kernkraftwerke, mit denen er das Land überziehen beabsichtige. Selbst die Möglichkeit, dass ein Reaktorkern schmelzen könne, wird nunmehr öffentlich ins Kalkül einbezogen, aber nur um Angst-schwellen stückchenweise weiter abzubauen. Eine aberwitzige Eventualität, die früher stets kategorisch ausgeschlossen worden war.
DEUTSCHE KONZERNE IM GESCHÄFT
In Frankreich regt sich allein deshalb kein auffälliger Protest. Und die deutschen Stromkonzerne sind mit Beteiligungen samt Investitionen munter dabei - vorsichtshalber und für den Fall, dass die Laufzeiten deutscher Kernkraftwerke jäh enden, Braunkohle wie erneuerbare Energie für eine Exportnation immer noch kein Ersatz darstellen. Allein im Jahre 1991 steckte Frankreich knapp 140 Milliarden Euro in seine Atom-kraft. Zu Beginn des achtziger Jahrzehnts beanspruchte der Reaktorbau ein Fünftel aller französischen Investi-tionen. Und die Strompreise sind nicht nur die weitaus günstigsten in Europa, sie fielen auch zudem noch um zehn Prozent, "weil wir", so frohlockte es aus der EDF-Zentrale in Paris, "konsequent auf die absolut modernste Technologie gesetzt haben".
ELITE-UNIVERSITÄTEN
Irgendwie ist das gigantische Atomprogramm Frank-reichs schon ein wenig der Stoff, aus dem einst die Träume von Armeegenerälen und Atomgläubigern gebastelt wurden. Schließlich sind die EDF-Herren des Brennstoffkreislaufes allesamt Absolventen franzö-sischer Eliteschulen, die Kaderschmieden für den Staat und dessen Rückgrat. Für die meisten ist die École Polytechnique, die renommierteste der französischen Grandes Écoles, lediglich eine Art Vorschule. Bis ins Jahr 1975 blieb diese bekannteste Ingenieurschule Frankreichs ausnahmslos Männern vorbehalten. Frauen mit noch so exzellenten mathematischen oder natur-wissenschaftlichen Eingangsqualifikationen wurde der Zugang verwehrt. Allmählich nun rücken die ersten ausgebildeten Frauen in Spitzen-Positionen nach. Immerhin belegen mittlerweile etwas weniger als ein Drittel Studentinnen jene begehrten Plätze an den Grandes Écoles. Nach erfolgreichem Abschluss steht nochmals eine dreijährige Zusatz-Ausbildung an der École de Mines bevor.
GANZTAGSSCHULEN
Unter diesen Bedingungen versteht es sich von selbst, dass Frauen in französischen Kernkraftwerken in verantwortlicher Position eigentlich nicht vorgesehen waren. Und das in einem Land, in dem weit über 43 Prozent aller Frauen voll berufstätig sind, in dem es - anders als in Deutschland - ausreichend Krippen- und Kindergartenplätze - vor allem durchgängig Ganztags-schulen gibt. Verständlich, dass für 80 Prozent aller Französinnen ein Leben ohne Beruf undenkbar ist und ihr Einstieg in klassische Männer-Domänen als die wichtigste Veränderung in den vergangenen zwanzig Jahren beurteilt wird. Verständlich auch, dass sich gar 82 Prozent ein Leben ohne festen Partner vorstellen können. Es entzog sich dem männlich zugeschnittenen Anforderungsprofil des EDF-Mangements noch Anfang der achtziger Jahre, dass jemals Frauen als Ingenieur-innen, Physikerinnen, Chemikerinnen oder Mathema-tikerinnen Atomkraft-Kader führen können. Allenfalls schien denkbar, den Damen die Verantwortung für die sonnig-muntermachende Gelb- und Blautönung der labyrinthischen Korridore der Kernkraftwerke zu übertragen.
VON EINEM ANDEREN PLANETEN
Das weiträumige Kasino des Kernkraftwerkes Le Bugey: Draußen wachen Kühltürme, drinnen Palmen. Mittagszeit. Nur ein flüchtiger Blick in den Speisesaal für Führungskräfte verrät schon, dass sich in Frankreich in den letzten fünf Jahren mehr verändert hat als in den 25 Jahren zuvor. Die Frauen sind da. Ausnahmslos an allen Tischen essen, diskutieren, gestikulieren, feixen und rumoren Frankreichs jüngste Atom-Manager-innen. "Unvorstellbar war diese vitale Frauen-Präsens in unseren Kernkraftwerken noch vor einigen Jahren. Jetzt ist sie aber längst eine von uns Männern ausgesuchte Realität", bemerkt EDF-Direktor Albert Leconte. Dabei lacht er schelmisch, als seien les Dames de l'atome soeben gerade von einem anderen Planeten gekommen.
27.000 INGENIEURINNEN
Mit den Frauen zog zunächst ein psychosozialer Klimawechsel in die einstige französische Männer-Trutzburg Kernkraft und Nuklearforschung ein, deren langfristige Folgewirkung qualitativ noch gar nicht auszumachen ist. Immerhin arbeiten nunmehr über 3.000 Frauen in Kernkraftwerken (14 Prozent) und an die 5.000 Frauen in der Nuklearforschung (24 Prozent) - als Wissenschaftlerinnen in Führungsetagen versteht sich. Insgesamt verfügt das Land über ein Potenzial von 27.000 Ingenieurinnen.

COCORICO-GETUE
Die Ingenieurin Isabelle Taillois-Galbano meint: "Auch wenn wir es mit viel Mühe geschafft haben, hier im Kernkraftwerk zu arbeiten, so sind doch in erster Linie Frauen in unserem Denken, Fühlen und Handeln. Unser Frausein verträgt nun einmal schlecht diese unbe-gründete Männer-Herrschaft aus der Steinzeit, dieses undurchsichtige Cocorico-Getue. Partnerschaft, Trans-parenz und Einfühlungs-vermögen sind gefragt denn je. Solange wir Frauen in der Minderheit sind, werden wir von diesen Machos nur halbwegs geduldet. Aber dieses Mann-Verhalten bricht ein. Mal sehen, was dann auf uns zukommt."
EINMAL EDF - IMMER EDF
Ihre Alltagswirklichkeit ist bestimmt von steriler Abgeschiedenheit und der Kälte der Apparate mit all den peinlich genauen Sicherheitsauflagen. Dort, wo Gefühle belächelt, Hoffnungen begraben, der Leidens-druck umgeleitet und Enttäuschungen standhaft genommen werden. Klinisch-rein hat das Seelenleben der Kernkraft-Frauen ohnehin zu sein. Tagsüber am Reaktor, abends in der Freizeit in den von der EDF nur für Mitarbeiter gebauten Wohnsiedlungen. "Einmal EDF - immer EDF, auch privat EDF", murmelt die 31jährige Murielle Vivier-Bessard. "Ja, ja richtig, auch mein Vater war schon bei der EDF", fährt sie süffisant fort.

HAB-ACHT-STELLUNG
Das Leben der Murielle Vivier-Bessard scheint in gewisser Weise symptomatisch für den französischen Frauen-Aufbruch zu sein. In ihrem Arbeitszimmer türmen sich hohe Papierberge auf ihrem Schreibtisch. Und irgendwo blickt da ein Bubikopf mit großen hellen Augen in auffälliger Hab-Acht-Stellung heraus. Ihre äußeren Merkmale wollen so gar nicht zum franzö-sischen Schick passen: Pulli und Jeans, ziemlich schüchtern schaut sie drein, latente Berührungsängste.
DIE DA OBEN - WIR HIER UNTEN
Wenn sie oder ihre Kolleginnen von den Männern sprechen - und das müssen sie allzu oft tun - so heißt es nur lapidar: "Ceux d'en haut"- "die da oben" - als Synonym für den Mann, als Kürzel für die Männer-Welt in den Kernkraftwerken an den Kommandozentralen versteht sich - noch. Seit einem Jahr leitet Murielle Vivier-Bessard die Abteilung Buchhaltung des Kern-kraftwerkes, als Chef-Buchhalterin mit 30 Mitarbeitern. Sie verdient etwa 2.500 Euro monatlich.
HAUSMANN IM HINTERGRUND
Als die Angestellte zum ersten Mal ins Werk kam, befand sie: "Angst vor der französischen Atomtechnik habe ich nicht, sondern durch Wissen begründetes Vertrauen. Dennoch muss ich einen hohen Preis für mein berufliches Fortkommen zahlen. Aber ich will - und zwar bar." Gerade erst hatte Murielle Vivier-Bessard in Clermont-Ferrand geheiratet. Um der Karriere willen ließ sie ihren Mann, einen Bankan-gestellten, zurück. Und dieser kann in Le Bugey und Umgebung trotz emsiger Anstrengungen keine An-stellung finden."Also wird er wohl langfristig einfach so kommen", mutmaßt Murielle, "als Hausmann, warum denn eigentlich nicht. Die Männer sind doch sowieso in einer gesellschaftlichen Krise, suchen verbissen nach einer neuen Identität." Aber noch ist es nicht selbst-verständlich, dass Frauen in leitenden Positionen akzeptiert werden. - Immer wieder fragen ich mich stereotyp die Herren, wie viele Kinder ich denn schon zu Hause hätte, wenn es Sachprobleme zu erörtern gilt. Quasi als Qualifikationsnachweis für meinen Job im Kernkraftwerk. Es ist nervig und beschämend zugleich. Dabei wollen wir mit diesen Männern zusammen-arbeiten. Wir sind hier keine militanten Feministinnen. Nur sie müssen endlich in ihrem Verhalten begreifen, dass wir nicht die Püppis der Nation sind."
JEANNE d'ARCS DER NEUZEIT ?
Isabelle, die zugehört hat, signalisiert Einvernehmen. Isabelle Taillois-Galbano ist Ingenieurin in Le Bugey, für die Einstellung von Technikern verantwortlich. Sie ist eine eloquente Frau von 33 Jahren, Mutter dreier Kinder und eine mathematisch-physikalisch versierte Wissenschaftlerin, die die von Männern kalkulierten Leistungskriterien voll und ganz erfüllt. Sie könnte es durch ihre Qualifikation, das weiß jeder im Werk, mit all den Herren leicht aufnehmen, wenn man doch nur ließe. Vielleicht wird Isabelle ja die zweite Frau Frank-reichs, die ein Kernkraftwerk leitet. Es hätte ihr schon gefallen, die erste gewesen zu sein. Bekanntlich wurde es ihre Kollegin Martine Griffon-Foucault in Le Blayais, die sie aus der gemeinsamen Studienzeit in Paris kennt und schätzt.
REAKTOR UND SEGELBOOT
Frankreich feierte damals mit großer Presse die erste Chefin eines Kernkraftwerkes, seine Madame Martine, überschwänglich als nahezu auferstandene Jeanne d'Arc der Neuzeit, mit wehenden blonden Haaren vor dem Reaktor, im Segelboot, zu Pferd und auch kuschelig an der Bar - ganz im Stil: so verführerisch kann Atom-spaltung sein. Isabelle Taillois: "Würdelos war das für uns Frauen in den Kernkraftwerken alle. Als hätten unsere strengen Anforderungen in Wissenschaft, Tech-nik samt Sicherheit etwas mit illustrer, voyeuristischer Erotik zu tun."
NUKLEARVISION - MÄNNERTRÄUME
Und was passiert nicht alles in diesen Jahrzehnten in Frankreichs sicher gewähnten Atommeilern. Für Männer sind es noch routinegeübte Petitessen. Für die Frauen hingegen sind es alarmierende Vorkommnisse, die sie nicht mehr ruhen lassen. Ihre Alarmglocken schrillen, sagen sie, beruhigen sie, versichern sie. Aber - hier im Atom-kraftwerk - wachen sie über ein Leben, das ihnen sind schon fortwährende bedenkliche Aus-nahmesituationen genehmigt hat - und das in einem schleichenden Gewöhnungsprozess, der sich da Alltag nennen darf.
KERNKRAFT-SZENARIEN
Explosion im Atomreaktor. Bei einer Natriumexplosion im südfranzösischen Atem-forschungszentrum Cada-rache kam ein Arbeiter ums Leben, vier wurden verletzt. Nach Angaben der Präfektur des Départements Bouches-du-Rhône geschah das Unglück bei Arbeiten zum Abbau eines vor zwölf Jahren stillgelegten Ver-suchsreaktors. Die Explosion ereignete sich gegen 19 Uhr im Trakt des ehemaligen Reaktors "Rapsodie", eines Prototyps für den Schnellen Brüter. In Kraft-werken dieses Typs, die mehr radioaktiven Brennstoff erzeugen , als sie verbrauchen, wird das Kühlmittel Natrium eingesetzt, das bei der Berührung mit Sauer-stoff in die Luft gehen.
MINI-GAU
Erdstöße erschüttern das südfranzösische Atom-forschungszentrum Cadarche. Zu Testzwecken haben Nuklearexperten einen Mini-Gau gezündet. Immer wieder er-schüttern neuerdings Erdstöße die Funda-mente der Anlage. In den letzten vier Mo-naten bebte der Boden insgesamt 40mal. Seither gab die Erdkruste unter dem 50 Kilometer nordöstliche von Marseille gelegenen 1.625 Hektar großen Areal keine Ruhe.
HAARRISSE
Anderenorts sind Haarrisse am Deckel des Reaktor-druckbehälters entdeckt worden: am Stutzen des Reak-tordeckels der Kernkraftwerke Fessenheim und Le Bugey; Grund für den Defekt sei Korrosion des Mate-rials, sagt man, die durch Temperaturen bis zu 300 Grad nach rund 50.000 Betriebsstunden entstanden sei. Angesichts tiefreichender Materialfehler an der Naht-stelle zwischen Sekundär- und Primärkreislauf mussten mehrere Röhren ausgewechselt werden. Beim Hoch-drucktest des Primärkreislaufes im Block 3 des Kern-kraftwerkes Le Bugey trat ein Liter Wasser pro Stunde aus dem Deckel des Reaktordruckgefäßes aus.
ALS ES IN TSCHERNOBYL KRACHTE ... ...
Als es in Tschernobyl krachte, an die 70.000 Menschen starben und Millionen von Menschen radioaktiv ver-seucht wurden, da erinnerte sich die Ingenieurin an ihre ersten Angst-Zustände in der Kindheit. Vage Erinner-ungen schienen plötzlich wieder erlebbar. Kennedy wurde 1963 in Dallas ermordet. Isabelle Taillois war damals drei Jahre als. Die Familie hörte seinerzeit Radio. Für sie als Dreißigjährige ging damals die Welt unter. Beim Atomkraft-Desaster von Tschernobyl dachte sie nur: "Diese blöden Russen." Zu Mittag aß sie weiter unbesorgt ihren Kopfsalat. Angeblich hatten sich die radioaktiven Wolken nicht über den Rhein nach Frank-reich gewagt.