Samstag, 6. Februar 1993

Frankreichs Alpen: Langlauf auf dem Vulkan




































Nicht überall, wo die Alpen scheinbar unberührt dreinschauen, ist das Gebirge noch intakt. Die Bergwelt ist längst geplündert, Alpengletscher schrumpfen. Indes: Winter für Winter schieben sich Blechlawinen die Berge hinauf, Autokarawanen blockieren Zufahrtstraßen in den Tälern, Wartezeiten an den Liften, überfüllte Restaurants, abgasvergiftete Luft, Tonnen von Abfällen, verseuchte Bäche, Lärm, Hektik, Gestank. Und die Skiurlauber hausen in Block-Zitadellen. - Mit Schussfahrt in die Winterwüste.


Hannoversche Allgemeine
Zeitung
vom 6. Februar 1993
von Reimar Oltmanns


Durch die Sonnenbrille geluchst, ist der Himmel über dem felsigen Panorama fast rabenschwarz. Doch ohne Augenschutz hält es wohl keiner auch nur wenige Stunden aus, da das pralle Sonnenlicht in höchster Intensität durch die löchrige Ozonschicht auf die glitzernden Schneehänge prallt. Winter für Winter dasselbe Szenarium. Hunderttausende von Ski-Touristen drängen in die französischen Regionen Savoyen, Hoch-Savoyen und Isère - eben in Europas größtes Wintersport-Areal mit seinen 420 Liften (mit einer Förderkapazität von 200.000 Personen in der Stunde), mit mehr als 800 Schneekanonen und exakt 1.100 Pistenkilometern. Mehr als tausend Skilehrer wedeln tagsüber über die Loipen und abends beim Après Ski in den Bars, Champagne schlürfend.

WUCHT UND WOLL-LUST

Ein bisschen Chaos, ein bisschen Wildwest. Überall spürt der Neuankömmling Wucht und Wolllust. Von beschaulicher, in sich ruhender Winterromantik fehlt jede Spur. Aber immerhin gibt es sehr lange Abfahrten, Riesenabfahrten,Traumabfahrten, die den üblichen Rahmen sprengen, die steil und einsam ihre Schleifen über anscheinend unberührte Tiefschneehänge ziehen.

In sieben Tagen 600 Kilometer Abfahrten zu bewältigen, ist eine vorzeigbare Leistung. Täglich sechs Stunden über Buckelpisten, Firnschneeflächen und plattge-
walzte Schneeautobahn zu zischen, zweitausend Meter talwärts, dann per Lift im computergesteuerten Sportzirkus wieder nach oben. Umweltschutz hin, Umwelt-schutz her - hier dürfen Ski-Flitzer und Snowsurfer noch kreuz und quer durch die Wälder toben. Dafür lassen sich Touristen gern in Block-Zitadellen internieren, jene graumäusigen Betonkasernen, die bedrückend an den sozialen Wohnungsbau der späten siebziger Jahre erinnern.

VERSEUCHTE BÄCHE, HEKTIK, GESTANK


Winter für Winter schieben sich Blechlawinen die Berge hinauf, Autokarawanen blockieren Zufahrtsstraßen in den Tälern. Hinzu kommen endlose Wartezeiten an den Liften, überfüllte Restaurants sowie Parkplätze, abgasvergiftete Luft, Tonnen von Abfällen, verseuchte Bäche und Flüsse, Lärm, Hektik, Gestank. Nervös sind die Einheimischen allemal, die Winterurlauber werden es zunehmend - denn der Wald stirbt leise, aber unaufhaltsam.

Frankreichs alpine Wintersaison zu Beginn der neunziger Jahre - das ist ein noch unbekümmerte Langlauf auf dem Vulkan. Hier marschierte einst der Fortschritt voran, und zwar bis zur letzten Hütte. Schon ein Jahr nach den prestigebeladenen Olympischen Winterspielen von Albertville (1992), droht eine ganze Region aber der jähe Absturz. Es blieb dem französischen Tourismusministerium vorbehalten, die unverhoffte Kehrtwende kleinlaut einzugestehen, "dass in den Alpen nicht mehr so sein wird, wie es einstmals war." Vorbei sind jene Jahrzehnte des hemmungslosen Wachstums. Jahre, in denen die Grenzen zwischen Fortschritt, Perfektion samt Großmannssucht verwischten. Zeiten, in denen bedenkenlos Ski-Stationen aus der Retorte gestampft, Berge wegplaniert wurden, Kunstschnee samt Skikanonen anscheinend ewige Urlaubsfreude verhießen. Epochen, in denen technisch "die Zukunft schon begonnen hatte". Nur der langsame Tod der Berge war nicht eingeplant. In Frankreichs Goldgräberzeit in den Alpen gab es keinen Platz für Warnungen.

STATT SCHNEE - BALD NUR NOCH REGEN

Doch schon ein Jahr nach den Winterspielen von Albertville mit seinen 13 Stationen, dem Fest der Superlative, weist der Weg nun überdeutlich in eine Richtung, die sich Abgrund nennt. Den französischen Alpen droht der Kollaps.

Zwischenfälle dieser Tage: Die Bergwelt ist geplündert, die Natur als Basiskapital des Tourismus ermattet, zuweilen ramponiert. Ohnehin hält die alpine Landschaft die heute Masseninvasion der Winterurlauber kaum noch ohne tief greifende Schäden aus. Die Alpengletscher schrumpfen, früher oder später wird statt Schnee nur noch Regen vom Himmel fallen.

Dabei sollte gerade der Wintertourismus dieser Region den verarmten Bergbauern eine gesicherte Zukunft bescheren, den verlassenen Dörfern neues Leben einhauchen. Angefacht vom olympischen Rausch fiel der Wintersportboom wie ein gewaltiger Bergsturz über so manchen Ort her. Verständlich, dass viele kleine Dörfer in der Waldregion um La Plagne kaum wiederzuerkennen sind. Alte Bauernhäuser wurden saniert, neue Ferienwohnungstrakte errichtet. Oftmals signalisiert nur noch der Kirchturm, dass es hier schon ein Leben vor 1992 gab.

BANKEN, BAUERN - PLEITEGEIER

"Bauern - werdet Hoteliers!" lautete einst die Aufforderung an die Bergbauern in den abgelegenen Dörfern. Und die Bauern verschuldeten sich für ihr Leben. Es waren die Banken, die dabei eine bedenkliche Rolle spielten. Zur Zeit der Olympischen Winterspiele war noch genügend Geld vorhanden. Man musste es nur gewinnträchtig unter die Leute bringen. Jeden, der sich als gebeutelter Landwirt zum Hotelier berufen fühlte, versorgten die Banken mit üppigen Krediten. Nach Rentabilitäts-berechnungen, Betriebskonzepten oder betriebswirtschaftlichen Grundkenntnissen fragten sie erst gar nicht.

Verständlich. dass in manchen Gegenden heute Gerichtsvollzieher öfter an die Tür klopfen als Touristen. Gerüchten zufolge, sollen sich drei französische Großbanken den ländlichen Teil um La Plagne bereits aufgeteilt haben. Pfändungen un Zwangs-versteigerungen samt Landverkauf wurden für die Bauern zum ständigen Wegbegleiter - zur Schreckensvision. So auch für den 45jährigen Daniel Brun aus der Gegend von Val d'Isère, den viele nur unter seinem Spitznamen "Commandante Kikki" kennen. Deprimiert lehnt er an der Gartenpforte vor seinem aufgemöbelten Hof. "Mit falschen Planungen, falschen Bedarfberechnungen und falschen Erwartungen", stammelt er wurden wir besoffen geredet. Erst wurden uns die Gelder nachgeschmissen, dann trieben sie uns in den Ruin. Überall in der Region flattert hungrig der Pleitegeier. Mir und meiner Familie gehört nichts mehr, kein Land, kein Stein - nichts. Mein Leben ist verpfuscht." Ob gutgläubige Bauern oder auch zahlreiche Dörfer in dieser Alpenregion - allesamt haben sie sich weit über den Tellerrand hinaus mit Millionen von Euro verschuldet. Hoffnungsfroh und euphorisch schauten sie einst drein. Ein Jahr später weiß kaum eine Gemeinde so recht, wie Schulden samt Zinsen zu tilgen sind. Katerstimmung überall.

Etwa hundert Kilometer von Val d'Isère entfernt liegt die 350-Seelen-Gemeinde Entremont. Ihr Bürgermeister Gilles Maistre trat im Rathaus in einen zwölftägigen
Hungerstreik. Er sagt: "Wenn es um unsere Schulden geht, hört in Frankreich niemand mehr zu, da die Olympischen Winterspiele nur noch Schnee von gestern sind. Deshalb muss ich öffentlich hungern, um wenigstens ein Quäntchen Aufmerksamkeit zu erhaschen." Die Gemeinde benötigt dringend Sozialwohnungen, ein Jugendheim und ein Feuerwehrhaus. Fehlanzeige! Die gesamten Gelder des Dorfes sind für Olympia draufgegangen.

"Ja, ja", verlautbart es aus dem Tourismusministerium in Paris, "viele ist schiefgelaufen. Aber ihr Alpendörfler müsst um Gespräch bleiben - der Marketing- und Verkaufsstrategie wegen. Nehmt eine Schwerpunktverlagerung eures Images vor. Zeigt Sensibilität und Kompetenz in Sachen Umweltschutz, setzt auf Luftveränderung in den Bergen, produziert Gemütlichkeit in euren Hütten und neue Broschüre, dafür gibt es dann wieder Geld."

Der Bürgermeister schüttelt den Kopf. "Schon wieder Kredite aufnehmen? Nein danke!"