Donnerstag, 2. September 1993

Entenhausen liegt an der Saône, und alle tuckern hin































Pariser Automobil-Ausstellung mit dem 2CV-Neuling im Jahre 1949. Über sechzig Jahre später "Enten"-Nostalgie - "Enten"-Festival vielerorts in Europa. Der "Dö-Schöwo" ist nämlich kein Wagen, sondern eine Lebens-einstellung. Schon die Baskenmütze durfte beim Einsteigen nicht verrutschen. Vier Räder unterm Regenschirm wollte Citroen - über sieben Millionen wurden gebaut. Über zwei-tausend "Entianer" aus ganz Europa trafen sich auf Schloss Rochteaillée-sur-Saône zum großen Festival der Enten.


DIE WELTWOCHE, Zürich
vom 2. September 1993
von Reimar Oltmanns

Aus den Lautsprechern des Schlosses scheppern fran-zösische Chansons vergilbter Epochen. Pascal Danels Ohrwurm oder auch Adamos wollen und wollen nicht enden, obwohl es sommerlich arg heiss ist. Atmosphäre wie Ambiente lassen frankophile Klischeegemüter auf-atmen: Weit und breit keine McDonald's-Läden, keine Atomkraftwerke, keine neu gebauten Trassen des Hoch-geschwindigkeitszuges TGV, dafür viele Baskenmützen, Schnauzbärtchen, viel Rotwein, viel Weißbrot - und das auch noch auf einem erlesenen Château aus dem 15. Jahrhundert, das die umliegende Landschaft des Saône-Tals anschmiegsam überragt.
DIE ENTE - EIN LEBENSGEFÜHL
Auf dem Schlossvorplatz von Rochetaillée-sur-Saône bei Lyon tummelt sich derweil ein seltenes Generationen-gemisch um ihren Geliebten: Es sind Mätressen aus Frankreichs Gegenwelt des Modernisierungsrausches. Eben Weggefährtinnen, denen es an Status, Leistung, Schnelligkeit und Aggressivität fehlt - Enten genannt. Seit eh und je sind sie Blech gewordener Ausdruck eines Lebensgfühls, das ein und denselben Namen trägt: 2 CV (CV steht für Cheval Vapeur, die französische Steuer-PS), in deutscher Zunge auch als "Döschöwo" liebkost. Immer wenn Adamos "neige" fällt, fliegen ölver-schmierte Putzlappen in die Lüfte. Leidenschaftlich wird mitgesungen. Denn hier trotzen zweitausend "En-tianer" aus vielen europäischen Ländern der neuzeit-lichen Wirklichkeit ihre Daseinsberechtigung ab. Hier leben in Wehmut umarmte Automobil-Nostalgien ver-klärt fort, haucht der Enten-Stamm seinen Legenden neuen Atem ein.
DÖSCHÖWO-CLUBS ÜBERALL
Meist schon zu Beginn der Sommermonate kriecht Frankreichs eingefahrene 2-CV-Gemeinde trotzig raus aus den kasernierten Vorstädten. Dort, wo sich enge Wohnsilos, Polizeischießplätze, Friedhöfe, Kleingärten samt Müllhalden scheinbar noch friedlich vertragen. Raus aus den zubetonierten, durch Jugendkrawalle berüchtigten banlieues - weg aus der gemeinsam er-lebten Sprachlosigkeit in den hastig verstopften Metro-polen Paris, Lyon Marseille oder Toulouse. Sommerzeit - das ist und bleibt nun einmal Enten-Zeit. "Das lassen wir uns von niemanden rauben", bedeutet der 30jährige Tischler Philippe Abbadie aus Lyon. Phillippe, von athletischer Gestalt mit offenem Gemütsblick, ist einer der unzähligen Enten-Präsidenten der Republik.
URTYP EINES PRIMITIVAUTOS
Mittlerweile gibt es landesweit 40 Klubs mit etwa je 30 Mitgliedern, die sich flugs in einer gesellschaftlichen Nische aufgetan haben - und es werden immer mehr. Ob in England, Deutschland, Italien oder auch in Portugal - überall mausern sich unverhofft Döschwo-Vereine. Folg-lich tuckerten sie allesamt aufs Schloss Rochetaillée-sur-Saône - ins Europa der Enten, wenn auch nur für ein Wochenende. Monat für Monat hecheln 2-CV-Kolonnen durch die französische Republik. Klubbesuche, Ge-spräche, Ersatzteiltausch, gemeinsames Essen ist ange-sagt. Präsident Philippe weiß auch warum: "In diesen sprachlosen Jahren geht alles, aber auch alles in die Brüche - nichts stimmt mehr. Vater arbeitslos., Opa besoffen, Eltern oft geschieden, Kinder ohne Lehr-stellen, rohe Gewalt an vielen Schulen, wilde Rasereien auf den Straßen und im Fernsehen ewig diese Plastik-reklame von der üppigen Welt, die uns alle hungrig macht." Philippe fragt: "Was bleibt uns noch?" Er ant-wortet sogleich: "La 2CV, c'est pas une voiture, c'est une facon de vivre." - Der 2CV ist kein Auto, sondern eine Lebenseinstellung. Und er fügt hin-zu: "Wenn alle eine Ente führen, wäre die Gesellschaft friedlicher. Überall kochen doch zunehmend bedrohliche Aggressionen hoch."
HERKUNFT - IDENTITÄT
Elisabeth, die ihm zuhörte, nickt auffällig in die Entianer-Runde. Zugehörigkeit ist gefragt. Hinter jeder Döschöwo-Erzählung - auch ohne Katalysator - kana-lisiert sich meist ein Stück Biografie oder auch Lebens-skizze, für die es sonst kaum noch einen Platz zu geben scheint. Ob Herkunft, Bezugspunkte samt Identität - die Ente zieht sich wie ein roter Faden durch mancherlei Lebensgeschichten - ein Wegbegleiter aus Blech. Die 24jährige Kindergärtnerin Elisabeth Perpoil aus Saint Avertin sagt: "Als ich Kind war, reparierte mein Vater jedes Jahr mit ein paar Kollegen einen 2 CV für die Tombola von Sankt Eloi. Mit acht Jahren habe ich mir vorgenommen, mein erster Wagen nach dem Führer-schein muss eine Ente sein. Wir haben sechs Wracks gekauft und an die zweitausend Stunden gearbeitet. Da steht er nun, mein Deux Chevaux, sogar mit neuen Sicherheitsgurten und Bremsbelägen."
IMAGE-GEFÄHRT
Wohl noch kein Fahrzeug in der Geschichte Frankreichs hat die Seelenlage der Gemüter derart beschäftigt, bewegt, aufgewühlt - oder auch solch länderüber-greifende Identifikationsschübe ausgelöst wie die Ente. Zunächst galt sie als Urtyp eines Primitivautos schlecht-hin, als Arbeitstier (Einheitsfarbe grau) und rollte vor-nehmlich vor Fabriktore oder auch Bauernhöfe. In den sechziger und siebziger Jahren stieg sie zum existenzial-istischen Image-Gefährt französischer Intellektueller auf. Wer damals in jenen Zeitläufen der heute schon legendär-verklärt anmutenden Studentenrevolte auch nur ein wenig auf sich hielt, las nicht nur in verrauchten Bars schwierige Texte des Philosophen Jean-Paul Sartre(*1906+1980), rauchte Gauloises in Kette, nein, der parkte sein Statussymbol Deux Chevaux natürlich im Pariser Stadtteil Saint-Germain-des-Près. Wo denn auch sonst.
EINMALIGE GRANDEUR
Tatsächlich vermochte bisher kein noch so technolo-gisch hochgezüchtetes Vehikel aus den Werken Renault, Peugeot oder Citroen an ihre Grandeur anzuknüpfen. Die skurril verpackte Enten-Mechanik, Sparsamkeit des Motors, sanft wiegende Federung, die im Stil einer Sar-dinenbüchse mit zurückgerolltem Dach zu fahren ist - all das ist in der Autowelt unnachahmlich geblieben. Sicherlich auch ein Grund dafür, warum in Europa eine Enten-Bewegung entstand.
VORLÄUFER DER 5CHEVAUX
Dabei ist die Entstehungsgeschichte des Autos so aben-teuerlich wie seine tiefauslagende Kurvenlage. - "Vier Räder unterm Regenschirm" wollte in den dreißiger Jahren Citroen-Generaldirektor Pierre-Jules Boulanger bauen lassen. Dieses Autochen sollte auch den Landarzt, die Weinbäuerin und natürlich den Dorfpfarrer im land-wirtschaftlich geprägten Frankreich zu überzeugten Citroen-Fahrern machen. Einzige Vorgabe an die Kon-strukteure im Pariser Vorort Levallois: Der Wagen müsste in der Lage sein, zwei Bauern samt einem Sack Kartoffeln oder einem Fass Wein auch über Feldwege zu kurven, vom Village zur Ville zu bringen. Das TPV ("Toute Petite Voiture" - ganz kleine Auto) dürfe nicht mehr als drei Liter Benzin auf 100 Kilometer schlucken und habe so geräumig zu sein, dass die Baskenmütze beim Einsteigen nicht vom Kopf rutscht. Sollte zudem noch eine Kiste mit Eiern auf dem Rücksitz liegen, so dürfe keines während der Fahrt zerbrechen.
ERSATZTEILE ALS ANTIQUITÄTEN
Über sieben Millionen Enten verließen die Pariser Werks-hallen - durchschnittlich 400 am Tag. Verständlich das mittlerweile auf dem Schloss Rochetaillée-sur-Saône Ersatzteile wie Antiquitäten gehandelt werden. Über-haupt durchlebt Frankreich eine nie für möglich ge-haltene Renaissance alter Blechkarossen. Fernab von schnelllebigen Superlativen und dem potenzprotzenden Milieu aus der Reklamewelt neuer Automobile wuchs in diesem Schatten eine Wirtschaftsbranche mit Millionen-umsätzen samt Arbeitsplätzen heran - der kapital-kräftige Oldtimer-Markt. Was einst verspielt begann, entpuppt sich zunehmend als eine ernst zu nehmende Wachstumsbranche - die Auto-Nostalgie.
VOM HINTERHOF AN DIE COTE d'AZUR
"Ich habe in einer kleinen Garage im Hinterhof be-gonnen. Heute kann ich eine Werkstatt mein eigen nennen", sagt der 50jährige Jean-Pierre Payet aus Briord im Rhône-Tal. Seine Auftragsbücher sind üppig gefüttert. International bis nach Japan hat der Tüftler Anzeigen in Fachzeitschriften geschaltet. Von überall rufen ihn Liebhaber vergangener Auto-Epochen an und wollen sogleich für etwa 12.000 Euro ein Stückchen mobile Vergangenheit mit nach Hause nehmen.
OLDTIMER-PAAR ÜBER LAND
Eigentlich wollte Restaurateur Jean-Pierre Jurist werden. Doch schon die kurzweiligen Fahrten mit seinem 5-Chevaux-Citroen zur Uni wiesen seinen Berufsweg in eine andere Richtung. Seither bastelt er maßstabsgetreu die "Vorahnen des Autos" zusammen. Oldtimer beginnen für ihn nämlich erst dort, wo Holz-teile handwerklich eingebaut werden müssen - Filigran-arbeit. Seine Frau Josette nickt ermüdet. Sie ist es nämlich, die die Abendstunden, zuweilen des Nachts an der Nähmaschine verbringt, mühselig die Sitzbezüge vergangener Tage schneidert und anpasst. - Termin-arbeit.
FROSCH IN DEN STÄLLEN
Übers Wochenende ist das Oldtimer-Paar meist unterwegs, grast alte Höfe und Dörfer ab. So mancher Zeitgenosse hält das einstige Volksauto - sieht wie ein Frosch aus - noch heute seit dem Zweiten Weltkrieg in Ställen oder Scheunen verborgen - für den Notfall sozusagen. Denn immerhin gab es auf den 5-Chevau-Citroen Benzinmarken. Und das will auch noch in Frankreichs Ära der TGV-Schnellzüge etwas heißen.













































Samstag, 7. August 1993

Bretagne - Zorn und Eigensinn





























Die verheerenden Folgen der Tankerkata-strophe vor mehr als 15 Jahren sind erst jetzt allmählich überwunden. Damals liefen 230.000 Tonnen Rohöl ins offene Meer. Es vernichteten Seeigel, Muscheln, Austern; die Überleben Tausender von Menschen an der bretonischen Küste war ernsthaft bedroht - Endzeit-Stimmung in den Fischerdörfern
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Wiesbadener Kurier
vom 7. August 1993
von Reimar Oltmanns

Es war einer jene denkwürdigsten Sommerabende, die die Bretagne in den vergangenen Jahrzehnte erlebt hat. An den lang geschwungenen Sandstränden im Nord-west-Zipfel Frankreichs säumten Zehntausende von Menschen die Küste von Ploudalmezeau - dort, wo die Wellen hoch und der Sand weit sind, wo ständig der Wind pfeift und nicht selten der Regen die Kleider durchdringt. Das "Fest der Feste" sollte als Sieg ver-armter Dörfer gegen amerikanischen Ölkonzern Standard Oil gefeiert werden.

Insgesamt 15 Jahre hatten die Bürgermeister gegen den Multi in den USA juristisch kämpfen müssen, bis sie endlich nach mehreren Gerichtsinstanzen etwa 100 Millionen Euro als Entschädigung für die Umwelt-katastrophe auf ihrer Seite wussten. Stund' um Stund' sahen Bretonen an diesem Abend bedächtig den vom Atlantik her anrollenden mächtigem graugrünen Brechern zu. Immer wieder glitten die Blicke gen Himmel in die Wolkenberge, die der Wind vom Meer über Land trieb.

Anmut wie Szenerie glichen Augenblicke bretonischer Selbstvergessenheit, auch des bodenständigen Trotzes, so als sei der Sommer-Tourismus "die herrlichste Neben-sache der Welt", wie es Pierre Dugorre, Ratsherr des Städtchens Auray, formulierte. Sie standen nun da alle einträchtig im Sand - die über neunzig Bürgermeister im feinen Zwirn inklusive Ehrendekor mit ihren Hono-ratioren aus der Region. Nur festlich gekleidete Fischer mit rot gegerbten Gesichtern zogen Fähnchen schwen-kend ihre Runden. Noch einmal liefen auf zwei 150 Quadratmeter großen Leinwänden jene Horrorszena-rien ab, die Land wie Leute zu vernichten drohten. Vom Hämmern einer Syntheziser-Musik erfuhren Ur-Erleb-nisse von einst erneute Aktualität.

DÜSTERE ZUKUNFTSAUSSICHTEN

Eben Ur-Ängste, die auch für düstere Zukunftsaus-sichten des Nordwesten Frank-reichs nur eine Antwort dulden: bretonisches Selbstwertgefühl oder auch die breto-nische Hymne, die alle am Strand von Ploudal-mezeau mitzusingen verstehen: "Wir sind von dieser Ölschwärze für unser Leben gezeichnet, auch wenn heute alles wieder so ist wie es früher es früher war", bedeutet Chantal Lacroix, die von ihren Zimmervermie-tungen ihre Existenz bestreitet. Die Menschen-Runde am Strand nickt einvernehmlich.

Damals vor fünfzehn Jahren trieb der liberianische Riesentanker "Amoco Cadiz" mit gebrochenen Ruder in der stürmischen See. Wind und Wellen spülten den unlenkbaren Koloss in Richtung Festland. Die Klippen vor dem Fischerhafen Portsall rissen ein tiefes Loch in den Schiffsrumpf, über 230.000 Tonnen Rohöl flossen aus dem Leck ins offene Meer - und besudelten 320 Kilometer der bretonischen Küste. Jeder Liter Öl machte eine Millionen Liter Wasser ungenießbar.

Insgesamt 28 Millionen tote Seeigel, Muscheln und Schnecken. 6.000 Tonnen Austern vernichtet. Über zehntausend Seevögel verendeten qualvoll. Über 35.000 Helfer waren Wochen im Einsatz, um auch nur halb-wegs die größten Flurschäden zu beseitigen. Und der Tourismus - die Haupteinnahmequelle - ging um siebzig Prozent zurück. Dabei hatte in der Bretagne mal gerade die erste große Ölkatastrophe in der Geschichte der Seefahrt begonnen.

FENSTERSTURZ DER SUBPRÄFEKTEN

Doch hinter der wieder intakten bretonischen Fassade verbirgt sich ein Land im Zorn. Die sommerliche Folk-lore, so warnt einer der besten Bretagne-Kenner, der Schriftsteller Jakez Hélias, "das ist der Vulkan im Ruhestand. Ihm ist nicht zu trauen. Sein Erwachen, das sind die Barrikaden auf den Straßen und der Fenster-sturz der Subpräfekten."

Zahlreiche "Á-vendre"-Tafeln an Häusern und Ortseinfahrten sind ein Hinweis darauf, dass die Bretagne - wirtschaftlich ohnehin seit eh und je kränkelnd - nunmehr auszubluten droht. Kaum ein Jahr vergeht, in dem nicht ein Wirtschaftszweig vor dem Abgrund steht, Arbeitsplätze vernichtet und Steuer-einnahmen auf Null gebracht werden. Mit der neuerlichen Fischerei-Krise, den Billigimporten aus Übersee zerbröckelt gar ein Herzstück bretonischer Daseinsberechtigung. Kurzum: Die Jungen gehen, die Alten kommen - eine Regionen der Pensionäre.

BIER UND "BILD " AN DER CÔTE d'AZUR

Tatsächlich weisen ihr neue Ansprüche einer Freizeit-Gesellschaft ungewohnte Rollen wie Dienstleistungen zu. Die Zweithausbesitzer sagen sich an, wollen mög-lichst billig kaufen, aber medizinisch optimal versorgt werden, pochen auf neue Stromleitungen, Straßen wie Buslinien. Bislang hatte sich die familienorientierte, umweltbewusste Bretagne in der Gunst der Urlauber als kulturelles Kontrastprogramm zur "Bier- und Bild-zeitungs-Kultur" an den Betonbananen der Côte d'Azur gut behaupten können.

Vornehmlich französische, englische und auch deutsche Urlauber - 1992 waren es noch über drei Millionen - zog es in den Nordwesten Frankreichs. Damals wie heute: Die meisten übernachten auf Camping-Plätzen, sind tagsüber an den Stränden und widmen sich abends den fünf bretonischen K's: den Kathedralen wie Ste. Anne d'Auray, der kleinen wie großen Kultur, Kunst samt Konzerten oder auch dem Küssen.

Bretagne in den Neunzigern - eine Region stemmt sich stur gegen die Zeitläufe dieser Jahre. So wie schon einst und auch keine Hochhäuser entstehen, wird nunmehr Zug um Zug das Auto aus den Städten verbannt. Fuß-gängerzonen schaffen Raum wie architektonische Be-schaulichkeit, Verkehrsberuhigung ist an angesagt.

Die Ölschwärze von einst hat jedenfalls Kommunal-politiker darin bestärkt, ihre Region mit Röntgenblicken in puncto Ökologie wie Umwelt zu durchforsten. Und Jahr für Jahr werden Rathaus-Verordnungen schärfer, eben unnachsichtiger, auch wenn sich sodann ein Industrie-Unternehmen nicht mehr anzusiedeln ver-mag, und die Stadtkassen nur noch einen Dauerzu-stand kennen: Ebbe. "Wir haben hier oben hier oben nur Chance, nämlich mit und nicht gegen die Natur zu leben, das ist unser einziges Überlebenskapital, komme, was da wolle", so Paul Richéux, Touristen-Referent von Auray. Und er vergißt nicht hinzuzufügen: "Wir sind nämlich Bretonen."

Am Abend verdeckt keine Wolke mehr den Himmel am Strand von Ploudalmezeau. Der bretonisch verregnete Tag verabschiedet sich heiter.






Samstag, 3. Juli 1993

Überleben im Naturreservat der tausend Teiche














Die französische Region Dombes im Département Ain mit ihrem Naturreservat von tausend Teichen hat sich zum größten Zufluchtsort von über 400 Vogelarten entwickelt. Der Vogelzug aus den von Giftwellen überschwemmten industriellen Ballungszentren des Kontinents hat erst begonnen. Über 50 Prozent aller Bäume sind mittlerweile in Westeuropa nach-haltig erkrankt, über hundert Vogelarten ausgestorben , das Waldsterben geht unver-mindert weiter. In Ostfrankreich gab es in den 70er Jahren keine Störche mehr. Mittlerweile leben in der Dombes, das die Hälfte des Saar-landes ausmacht, wieder über 75 weiß gefie-derte Stelzvögel. Moment-Aufnahmen aus dem Vogel-Asyl.

SCHWÄBISCHE ZEITUNG, Leutkirch
vom 3. Juli 1993
von Reimar Oltmanns

Eine breite Asphaltstraße zerklüftet ein Naturreservat von tausend Teichen, gewundenen Parkpfaden samt angrenzenden Wäldern. Friedlich und beschaulich döst die französische Region Dombes vor sich hin. Nichts, so will es vordergründig scheinen, kann dieses Gebiet, das die Hälfte des Saarlandes ausmacht, aus seinem gewachsenen inneren Gleichgewicht bringen. Die Dombes ist zur Neuheimat Tausender von Vögeln geworden, die ohne Orientierung wahllos in Europa herumschwirren. Wenn nur jene unliebsame Asphaltstraße gen Süden nicht wäre. - Urlaubsroute.

TRECKPISTE ZUM MITTELMEER

Von der Dombes - zu Deutsch Tümpel - hätte wohl kaum einer Notiz genommen. Sie wäre das geblieben, was sie schon immer war: ärmlich und vergessen. Hier werden jedenfalls - noch - nicht die Ressourcen in amerikanische Devisen umgerechnet, die Umwelt dem Beton-Tourismus geopfert. Nur die französische Route National 83 zwischen Macon und Lyon in der Region Rhône-Alpes ist mittlerweile eine Treckpiste auf dem Weg zum Mittelmeer.

Jahr für Jahr zu Beginn der Sommerzeit schieben sich Autokarawanen schwerfällig voran. Eine Hundertschaft quält sich von Nordeuropäern wieder einmal durch den Stau, Stoßstange an Stoßstange, Abgase um Abgase.

Meist in den Abendstunden nach Dienstschluss lauert in der Ortschaft Villar-les-Dombes ein 50jähriger stämmig gebauter, bärtiger Mann am Wegesrand. Gehemmt steht er da. Will er doch nur die Straße überqueren, wenn ihn die Auto-Karawane nur liesse. Schon sein Äußeres mag so gar nicht zu den schnelllebigen Zeitläuften dieser Jahre passen.

ANDERE WELT - VOGEL-WELT

Yves Raymond kommt aus einer anderen Welt - der Vogel-Welt. Als Direktor des "Parc ornithologique", des größten Vogelparks Frankreichs, könnte der Tierarzt getrost eine Romanfigur aus Ernest Hemmingways Kurzgeschichte "Vögel, Flügel, Wiedersehen" abgeben. Nur mit dem Unterschied: Statt das pfeilschnelle Gefieder mit der Flinte in ihren Flugbahnen abzuknallen, baute Raymond mit seinen 16 Mitarbeitern ein Vogel-Asyl auf.

Anfang der siebziger Jahre begann das Ornithologen-Team weitsichtig, den Vögeln eine Heimstatt zu geben. Damals konnte sich wohl niemand so recht vorstellen, dass die Umwelt, Gase, Abgase, Gifte, Chemiegifte den Vögeln regelrecht den Krieg erklärt. Dabei verschwanden in den letzten Jahrhunderten schon über 117 Vogelarten unwiederbringlich.

Allein in West-Europa sind mittlerweile etwa 50 Prozent der Bäume erkrankt, geht das Waldsterben unvermindert weiter. Chemikalische Giftwellen überschwemmen Jahr für Jahr Ackerflächen. Schadstoffgemische greifen die Atemwege an, die Flimmerhärchen werden gelähmt. Das größte Artensterben hat erst begonnen, weil die biologische Vielfalt verloren geht. Raymond: "Durch den Zustand unserer Vögel wissen wir nur zu genau, dass die Umweltverträglichkeit besorgniserregend - rapide schlechter geworden ist als vor zwanzig Jahren."

SCHMAUS AUF MENÜKARTEN


Tatsächlich leben Vögel in einem Spannungsfeld zwischen Hatz und Hege. Vielerorts hat der Mensch dem Vogel unbedacht seine Vernichtung angesagt. Ob an der Atlantikküste oder an der Nordsee - immer wieder und zusehends häufiger verrecken Gefieder zu ölverschmierten Tierkadavern.

In Italien beschloss das Parlament sogar gegen eine EU-Bestimmung, Buch- wie Bergfinken per Gesetz zum Abschuss freizugeben. Einfach deshalb, weil die Singvögel als feiner Schmaus auf der Menükarte nicht fehlen dürfen.

DER KOMORAN

In Schleswig-Holstein zürnt die Bauernseele den Kolkraben, weil er schnurstraks über Schafherden herfällt. Einem schwarzen Vogel mit einer Flügelspanne bis zu 1,20 Meter, der gut zwei Pfund wiegt, bis zu 70 Jahre alt wird, der größte Singvogel der Erde ist und angeblich den höchsten IQ aller Gefiederten besitzt.

Seit Jahrzehnten genoss der Komoran in Deutschland Naturschutz - seit dem 1. August 1992 - mit der Einschränkung, dass er abgeknallt werden darf. Vor 100 Jahren war der Komoran noch ein Nahrungskonkurrent zum Menschen. Eine gezielte Ausrottungspolitik hatte ihn gänzlich von mitteleuropäischen Küsten, Seen und Teichen verbannt. Die Fressschäden der Komorane gingen nämlich in die Millionen.

Heute leben auf Dauer oder auch nur kurzweilig als Zwischenstopp zu den fernen Kontinenten mehr als 2.000 Vögel - insgesamt 400 Arten im französischen Naturreservat Dombes. Jedes Jahr im August gesellen sich noch 5.ooo Wildenten dazu. Direktor Raymond erinnert sich: "Damals bei der Gründung des Parkes wurden wir als Vogelnarren belächelt. Heute hingegen gehen die Menschen eher andächtig über unsere Wege, lauschen den Vögeln, als seien sie in einem Museum."

Ob Sperling, Lerche, Amsel oder auch der Sperber - schon seit Jahrzehnten muss der Mensch bei der Ernährung derlei Gefieder direkt eingreifen. So werden alljährlich im Herbst die Teiche mit jungen Fischen aufgefüllt, außerdem 150 Tonnen Futter zusätzlich gekauft. Und alle vierzehn Tage bekommen die Vögel zusätzlich Vitamine, Kalk und ein wenig mehr Fleisch - die Dombes ein Naturlaboratorium vergessener Tage.

300.000 MENSCHEN IM VOGELMUSEUM

Staatlich wird Frankreichs größter Vogelpark nicht unterstützt. Alles muss durch Eintrittspreise finanziert werden - sechs Euro pro Person. Etwa 300.000 Menschen besuchen jährlich ihr "Vogel-Museum", um noch einmal die fliegenden Zeitgenossen von einst in Augenschein nehmen zu können. "Ja, ja, da ist der Buchfink, die Amsel, oh, sogar der Spatz", raunt es in vielen Sprachen durch den Park. "Warum können wir diese Vögel nur bei uns kaum noch sehen?" fragt der zwölfjährige Schüler Thimon Bettermann aus Herne im früheren Kohlenpott seine Eltern. - Achselzucken.

Dessen ungeachtet beglückt ein auf diesem Kontinent seltener Gast das Revier - der Storch. Wie in Ostfrankreich, so beinahe überall in Europa, verschwand der Stelzvogel. Nur zwei von zehn Störchen, die im Herbst gen Süden fliegen, kehren überhaupt zurück. Um sich auf ihrer Reise auszuruhen, breiten die "Glücksbringer" häufig ihre Schwingen über zwei parallel laufende Hochspannungsleitungen aus. Sie verenden jämmerlich. Immerhin, in Les Dombes schaute das erste Storchen-Paar im Jahre 1978 vorbei, liess sich im Freiluftvogelhaus nieder. Nach 15 Jahren sind in Villar-Les-Dombes exakt 75 Störche zur Welt gekommen. Im Storchen-Milieu scheint sich Les Dombes als neue Heimstatt offenbar herumgeschnattert zu haben. Neuerdings lassen sich ihre Kollegen aus Deutschland und der Schweiz verstärkt nieder. Ihr Erkennungsring oder die auf den Rücken angeschnallten Satellitensender geben Auskunft darüber, aus welchen Teilen der Erde sie emigrierten.

Verständlich, dass Yves Raymond das Bild vom gleichgültigen Franzosen, der sorglos seine Umwelt strapaziert, nicht unwidersprochen hinnimmt. Um Spenden für kranke Vögel einzusammeln, ist er vielerorts unterwegs. Ein Seismograph, ob die Natur noch lebt, ist dabei seine Windschutzscheibe. Raymond: "Bleibt sie von Insekten verschont, ist die Natur so gut wie tot. Nur in der Dombes muss ich sie täglich noch waschen. Darüber freue ich mich, das ist gut so."






Sonntag, 27. Juni 1993

Scarlett: nachts auf See, tagsüber im Komitee





















































Schon als junges Mädchen begleitete Fischerin Scarlett vom Hafen Le Guilvinec ihren Vater zum Fang in den Golf von Biskaya. Seit Jahr-zehnten kämpft sie ohne Unterlass ums Über-leben. Billig-Importe drücken Preis und Moral - zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig.


Frankenpost, Hof
vom 27. Juni 1993
von Reimar Oltmanns

Die Kulisse im kleinen bretonischen Hafen von Le Guilvinec mit seinen fünftausend Menschen könnte den Hintergrund einer Roman-Verfilmung verflossener Jahre abgeben.Beschaulich wie überschaubar regt sich alltägliche Geschäftigkeit, als lebten jene wohlbehüteten Zeitläufe aus Romantik und Renaissance ungeahnt fort. So manche Butzenscheiben in den akkurat grau gestrichenen Fischer-Natursteinhäusern spiegeln das Dorfgeschehen wider. Wind und Wasser prägen Leute und Landschaft - Felsbuchten, Granitklippen, das Auf und Ab der Gezeiten, die Gewalt der Herbst- oder Frühjahrsstürme. Zwanzig Jahre ununterbrochener Aufschwung hat der Ort hinter sich. An die dreißig hoch technisierten Dampfer liefen hier alle drei Monate zur Blütezeit vom Stapel. Meist in den Abendstunden lehnen sich wartende Frauen mit ihren Kindern aus den Fenstern des Fischer-Hauses, johlen oder winken ihren Männern entgegen, die mit ihren Kuttern heimwärts tuckern: den Meer knapp zwei Wochen Kabeljau, Steinbutt, Langusten oder Seelachs auch Quappen abgetrotzt haben - handwerklich versteht sich.

MARKANTE GESICHTER

Nichts, so wollte es über Jahrzehnte scheinen, vermochte das bretonische Selbstwertgefühl zu beeinträchtigen. Seit jeher ist es getragen von einem unbändigen Behauptungswillen gegenüber der französischen Republik, können sich auch heute noch die Leute an der Küste schwerlich damit abfinden, ein Teil Frankreichs zu sein. Und ihr angelegenstes Département Finistère bedeutet nicht nur "Ende des Festlandes". - Hier ist die Bretagne ein unverkennbares Land der Frauen. Überall in dieser Region haben Frauen markant das Sagen, liegen Geschäfte oder auch das finanzielle Desaster im Überlebenskampf als Fischer-Familien ausnahmslos in ihren Händen. Zunächst notgedrungenerweise, weil die Männer als Matrosen oder Kapitäne oft Wochen, gar Monate auf See waren; mittlerweile zunehmend selbstbewusster, unabhängiger, unnachgiebiger - zuweilen auch leidenschaftlicher.

FRAUEN-ZEITEN

Bretagne - Mitte der neunziger Jahre - fortwährende Krisen-Zeiten: das sind Frauen-Zeiten. Dabei haben sie lediglich eine unscheinbare Kontinuität bewahrt. Im Städtchen Douarnenez, so wissen heimische Chronisten zu berichten, hat es schon im Jahre 1902 erste Frauen-Unruhen Frankreichs gegeben. Über 2.000 Arbeiterinnen einer Fischkonservenfabrik traten von sich aus in den Streik - erstritten höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Wohl in keiner französischen Region wie der Bretagne mit ihren 1.100 Küsten-Kilometern und an den 2.000 Schiffen - sie machen etwa die Hälfte des französischen Fischfangs aus - sind die Kontraste derart scharf geschnitten, prallen Widersprüche so unversöhnlich aufeinander.

Es sind Frauen - junge wie alte - die sich in den Häfen etwa in Brest oder Lorient verdingen. Sie tragen schon des Morgens um 5 Uhr Körbe voller Schollen, Äschen, Steinbutten oder Barschen, sortieren und stapeln den Fang in Kisten, schleppen ihn auf Lastwagen, flink, geschickt, schweigsam, mit erprobter Routine vieler Generationen. Hafenarbeit - das ist Kärrnerarbeit, Frauen-Plackerei allemal. An den Wänden der Lagerhalle haben sie in großen Lettern ihren doppelsinnigen Leitspruch gepinselt: "Survivre ou mourir"- überleben oder sterben - heißt es da lapidar.

Gewiss hat sich das auch die einzige selbstständige Fischerin der Region, die 37jährige Scarlett Le Core gesagt, als sie den Kampf gegen die fischende Männerwelt aufnahm. Schon ihr Vater fuhr zur See, schon als sechsjähriges Mädchen begleitete sie ihn bei Wind und Wetter, säuberte Netze wie Reusen, schleppte Kisten zur Auktion. Verständlich, dass auch Scarlett Fischerin werden wollte, "weil ich praktisch auf See geboren wurde, und die Freiheit auf Meer unbeschreiblich ist". Nur - sie durfte nicht. Zehn Jahre vergingen. Kochen lernte sie, servierte in Bars Weine, puderte in Kosmetikläden betuchten Damen zartes Rouge auf die Wangen, heiratete, bekam drei Kinder.

EIN PAAR MINUTEN GÄNSEHAUT

Erst die Frauen-Aufbruchsjahre in den Siebzigern ließen Scarlett trotzig werden. Zunächst ging sie heimlich zur Fischerschule, bestand die Prüfungen. Nunmehr kaufte sie sich demonstrativ ein Boot. Endlich wurde ihr beruflicher Wunschtraum Wirklichkeit. - Sarclett fuhr allein zur See. Sie erinnert sich: "Neid und Frauen-Feindlichkeit schlugen mir anfangs entgegen, Häme und auch Spott." Naheliegend war es, dass sich jener Argwohn auch auf ihren Mann Jean-Pierre übertrug. - Einen Großfischer-Matrosen, der von sich aus Haushalt, Hausputz und Kinder-Obhut mit Frau Scarlett teilt, sobald er an Land weilt. Er, der Jean-Pierre, sei ein Butt ohne Flossen, raunte es durch die Gassen von Guilvinec. Eben kein in der Fischertradition stehender Familienvater, lässt gar sein Weib auf hoher See, Kinder mit Au-pair-Mädchen allein zu Hause, Essen nur auf der Tiefkühltruhe und so weiter.

Nur ganz allmählich konnten sich die mannbedachten Seeleute von Guilvinec damit abfinden, dass neben Scarlett mittlerweile auch noch fünf weitere Frauen mit ihren Booten - allerdings mit Matrosen - bis zu fünf Meilen von der Küste entfernt auf Fischfang gegen. Für Scarlett und Kolleginnen ist ihre Unabhängigkeit ein unveräußerbares Lebensmerkmal ihres Daseins - beruflich wie privat. Von April bis Oktober eines jeden Jahres fahren sie schon morgens um 5 Uhr hinaus aufs Meer, kehren nach vier Stunden in den Hafen zurück, verkaufen die soeben gefangenen Fische. Mittags kocht Mutter Scarlett zu Hause, macht Einkäufe in den Super-märkten. Gegen 13 Uhr präpariert sie die Netze für den nächsten Fischfang. Dann tuckert Scarlett wieder raus, um für die Auktion um 17 Uhr frische Quappen, Langusten oder Seezungen anbieten zu können. Nach dem Abendessen gegen 20 Uhr kurvt sie mit ihrem klapprigen Renault-Kombi nochmals in den Hafen, erneut treibt sie es auf See - oft bis nachts um eins. Sie sagt: "Ich will um jeden Preis meine Selbstständigkeit. Eine Stempeluhr wie in den Fabriken wäre Quälerei für mich. Dafür arbeite ich bis zum Umfallen. Wir Frauen rackern ohnehin drei Mal so viel wie die Männer. Ein alter Fischer kam letztens an mein Boot und sagte zu mir: " Wir wussten eigentlich ja schon immer, dass du eine gute Fischerin bist' - Da hatte ich ein paar Sekunden Gänsehaut."

Nur in diesem Jahr, der schwierigsten Fischer-Krise überhaupt, ist Scarletts Tagesrhythmus arg durcheinander geraten, Handlungsbedarf besteht, Frauen-Solidarität ist angesagt. Verständlich, dass es Madame Scarlett keine ruhige Minute auf See oder zu Hause hält. Ihre Kinder brachte sie in solch bewegten Zeiten vorsorglich bei ihrer Mutter unter. Als Vize-Präsidentin des örtlichen Komitees "Femems de Marins Peucheurs" reiste sie kreuz und quer durch die Region, trommelte verstummte Fischer-Frauen zusammen.

WARTEN NICHT AUF BESSERE ZEITEN

"Frauen, seid nicht kleinlaut", sagt Scarlett zu ihren Leidensgefährtinnen, "wir sind stärker als die Männer. Unser Kampf beginnt erst jetzt." Zunächst waren es nur vierzig, dann stieg ihre Anzahl auf 150 Frauen, die sich im Maison du pêcheur zu Guilvinec nunmehr regelmäßig einfinden. Ursprünglich sollte dieses alte Haus einmal für die Männer die administrative Anlaufstelle sein, ihr Knoten- und Kontaktpunkt sozusagen. Mittlerweile führen auch dort ihre Frauen auffällig Regie. Sie heißen Christine, Malou, Marylène, Janine oder auch Scarlett. Sie sind zwischen 30 und 40 Jahre als und haben zu Hause alle zwei bis vier Kinder an ihrer Seite - Verzweifelung ist ihr Wegbegleiter. So manche Familie hat sich noch vor wenigen Jahren hoch verschuldet, den Männern für den Fischfang ein Schiff zwischen 1,1 bis 1,6 Millionen
Euro gekauft. Christine sagt: "Wenn wir nichts tun, werden wir allesamt mit offenem Maul verrecken. Die Männer haben genug geredet, verhandelt. Wir warten nicht auf bessere Zeiten. Jetzt ist die Stunde der Frauen. Wir haben die Nase voll."

ÜBERLEBENSKOMITEE

Über Monate haben die Fischer-Frauen von Guilvinec mit ansehen müssen, wir ihre Einkünfte rasant dahinschmolzen - bis zahlreiche Familien überhaupt nichts mehr im Kochtopf hatten, Schiffe und Häuser vom Konkursrichter schnurstraks versteigert wurden. Seit Monaten stürzt das Einkommen französischer Fischer im freien Fall. Die meisten verdienen heute nur noch ein Drittel des Wertes von 1990. Allein im vergangenen Jahr mussten 600 Familien wegen Überschuldung eine eidesstaatliche Erklärung ihre Zahlungsunfähigkeit (früher Offenbarungseid) leisten. Scarlett berichtet: "Früher kam mein Mann Jean-Pierre, der als Matrose oft 14 Tage auf See ist, immerhin mit etwa 1.550 Euro nach Hause. Jetzt sind es nur noch 110 Euro. Erst habe ich mich geschämt. Dann stellte ich fest, dass wir ja nicht alleine sind - und begann zu kämpfen."

Täglich treffen sich die Überlebenskomitee-Frauen im Fischerhaus. Täglich kreisen ihre Gedanken um ein und dieselbe Frage: wie können wir und unsere Nachbarn diese Zeiten durchstehen. Arbeitsteilung ist angesagt. Christine sitzt am Telefon, verhandelt mit Banken und Lebensmittelläden, mit der Elektrizitätsgesellschaft, bitte um Stundung. Strom und Essbares. Marylène schnürt mit einer Frauen-Gruppe derweil Fresspakete.

MILITANTE AKTIONEN

Meist am Nachmittag bis hinein in die späten Abendstunden sind militante Aktionen an der "Bewusstseins-Front" angesagt. Militant deshalb, "weil die Politiker-Männer, diese Jahrmarkts-Narren aus dem arroganten Paris, unsere Frauen-Sprache offenkundig nicht verstehen wollen", mutmaßt Christine erbost. Immer wieder ging es des Nachts mit den Zügen nach Paris ins Fischerei-Ministerium oder nach Brüssel zur EU-Kommission, um dort früh morgens aufdringlich Politiker samt Referentenstab aufzuscheuen.

In der Tat: Eine Flut von Fisch-Billigimporten, meist aus Nicht-EU-Ländern, vor allem aber auch aus Osteuropa überschwemmt Frankreich. Ursprünglich wollte die EU-Kommission in Brüssel den Meeren des Kontinents eine Verschnaufpause einräumen, sollte sich der Fisch-Bestand erholen. Folglich wurde der Import beschlossen. In Zahlen: Aus allen Meeren der Welt holten Schiffe Anfang des Jahrhunderts zwei Millionen Tonnen heraus: nunmehr gehen über 100 Millionen Tonnen Fische ins Netz. Dabei wurde in Brüssel offenkundig die Folgewirkung außer Acht gelassen; nämlich die Existenzvernichtung Zehntausender europäischer Fischer.

- Paradoxien dieser Zeit.Immerhin können die Fischer-Frauen aus der Bretagne schon einige Teil-Erfolge für sich verbuchen. Gemeinsam mit ihren Männern haben sie es geschafft, dass der französische Staat ihnen bei der Umschuldung ihrer teueren Schiffskäufe behilflich ist, ihnen eine Direkthilfe von rund 45 Millionen Euro zukommen lässt. Und die EU in Brüssel führte Fisch-Mindestpreise ein, an die sich die Billigimporteure zu halten haben - offiziell zumindest. Und noch ein ganz anderer Gesichtspunkt gibt den Frauen Mut, ihren Kampf fortzuführen. Die Präsidentin der "Association des femmes de marins et comité de survie", Christine Nedellec wagt eine Prognose kommender Jahre, vielleicht Jahrzehnte, wenn sie sagt: " Hier in der Bretagne ist etwas an Frauen-Empfindungen, Frauen-Maßstäben, Frauen-Macht entstanden. Das haben wir nicht vermutet und das kann uns jetzt niemand nehmen."

Montag, 7. Juni 1993

Im Club der Nukleokraten




















Ungeachtet weltweiter Kritik an der fried-lichen Nutzung der Kernenergie setzt Frank-reich gerade in Jahren des Klimawandels und enorm gestiegener Energiekosten unbeirrt auf weitere Expansion seiner 58 Atomreaktoren, die 80 Prozent des Stromverbrauchs erzeugen.

Die französische Regierung wertet den syste-matischen Ausbau und umfangreichen Export ihrer Kernenergie in sogenannte industrielle Schwellenländer als aktiven Beitrag gegen Erderwärmung, gegen Treibhausgase. Mit Ende des Jahres 2008 wird der staatliche Stromkonzern EDF den angeblich sichersten französischen Druckwasserreaktor-Typs EPR der Welt in Betrieb nehmen. Eine enge Ko-operation mit England ist unter Dach und Fach.

Während nur Deutschland - weltweit als einziges Industrie-Land - ganz aus der atomare Stromversorgung aussteigen will, setzt Frankreich auch in Zukunft ganz auf seine Kernkraftwerken. Sie ist im Land un-umstritten. Mittlerweile erobern sich in der Atom-Nation Frankreich immer mehr Frauen
Schlüsselpositionen in den AKW's. Im Kern-kraftwerk Le Bugey im Rhônetal, einst klas-sische Männer-Domäne, führen sie inzwischen wie selbstverständlich Regie.

Wochenzeitung FREITAG, Berlin
vom 7. Mai 1993
von Reimar Oltmanns

Der mit Monitoren bepflasterte Kontrollraum kennt nur Männer-Gesichter. Gesichter, die auch unbeobachtet keinen Zweifel aufkommen lassen dürfen. Etwa ein Dutzend Operateure und Ingenieure luchst im Über-wachungszentrum des französischen Kernkraftwerkes Le Bugey im Rhône-Tal unaufhaltsam auf Bildschirme, Farbskalen, Schalter samt Knöpfen. Völlig abgeschottet, ohne Tageslicht, so steuern bislang diese auserkorenen Männer-Mannschaften die atomare Stromversorgung von etwa 13 Milliarden Kilowattstunden in einem Jahr, eine Energie-Produktion, die etwa 3,3 Millionen Tonen Heizöl entspricht.
ATOMARE AVANTGARDE
Im Werk Le Bugey und auch anderswo in Frankreich verstand es sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten nahezu von selbst, die Atom-Männer in sensiblen Kommandozentralen der 61 Kernkraftwerke der Re-publik als "Tabu" zu behandeln. Zu unangefochten nimmt sich ihre Position zwischen Leben und poten-zieller Massen-vernichtungsgefahr aus, zu autoritär und sicher kam ihre scheinbar in sich ruhende Selbstge-wissheit männlicher Machbarkeit daher. Unausge-sprochen - aber im alltäglichen Verhalten nachhaltig vermittelt: Wir sind der zivile Atomstaat Nummer eins in der Welt, die nukleare Festung Europas, la France als atomare Avantgarde schlechthin. Wir haben einen omnipotenten Leistungswillen. Unser Motto heißt: Tout nucléaire - Atomstrom total. Dabei stehen wir konse-quent in der Tradition der Fünften Republik. Erst ließ Charles de Gaulle (*1890+1970) die Bombe zur mili-tärischen Abschreckung bauen, dann überzogen wir nach dem Ölschock Anfang der siebziger Jahre das Land systematisch mit Reaktoren - eine Tat des Friedens, friedlich durchgesetzt.

KADER UND MÄNNLICHKEIT
Atom und Männlichkeit in einem Atemzug zu nennen, scheint jedenfalls im Dunstkreis der französischen Kernkraftwerke nur folgerichtig zu sein. Selbstwahr-nehmung und Lebensgefühl sind hier seit jeher getragen von einem Bewusstsein, zur Elite des Landes, zu einer hochkarätigen, abgeschotteten Kaste der Republik zu zählen. Denn Frankreich verfügt über keine nennens-werten Energiequellen. Dank der Atomkraft gelang es in den letzten zwanzig Jahren, die Kosten für Energieim-porte um die Hälfte zu reduzieren - somit die Wirt-schaftskraft der Nation beträchtlich zu stärken.
DIE EDF - STAAT IM STAATE
Praktisch bildet der nationale Stromversorger Electri-cité de France (EDF) mit seinen 145.000 Angestellten, als größter Stromexporteur Europas, einen Staat im Staates - weder von der Politik maßgeblich kontrolliert, noch gesellschaftlich mit seinen ehrgeizigen Atom-programmen thematisiert, gar kritisiert. In Frankreich ist das kein zentrales Thema.Immerhin durften die Abgeordneten des Pariser Parlaments gelegentlich auch schon mal über Energiepolitik debattieren - dreimal in den vergangenen zwanzig Jahren. Neue Minister können kommen, alte Regierungen gehen, nur gegen den Club der Nukleokraten "gegen diesen militärisch-industriellen Komplex, hatte bisher so niemand eine reelle Chance", beteuert Madame Huguette Bouchar-deau, die Anfang der achtziger Jahre als Umwelt-ministerin scheiterte. Allesamt bilden sie eine Kaste: dieselbe Eliteschule, dasselbe Pariser Wohnviertel und die gleiche Denkweise: Ermattet fügt sie hinzu: "Selbst Sozialisten, die als Atomkraftgegner Industrieminister wurden, kamen als Befürworter wieder heraus."
GROSSE AKZEPTANZ
Aber auch sonst ist in Frankreich die Akzeptanz der Kernenergie in allen gesellschaftlichen Lagern sehr hoch. Ob links oder rechts in der politischen Gesäß-geografie des Parlaments, als technikfreundlich und fortschrittlich empfunden sie sich allesamt. Lediglich die beiden Umweltparteien gingen auf Distanz zur "nuklearen Festung", aber eher kleinlaut und halbherzig. Denn ausgesprochene Gegner des Atom-stroms sind auch sie keineswegs. Immerhin betragen die umweltzerstörenden Kohlestoff-Emissionen in Frank-reich nur 1,9 Tonnen pro Einwohner eine im inter-nationalen Vergleich äußerst niedrige Zahl.
DEUTSCHER AUSSTIEG - FRANKREICHS EINSTIEG
Gewiss, die mitunter rigorose Ablehnung der Kern-energie, die über Jahre andauernde Protestmärsche samt AKW-Blockaden wirken in Deutschland vornehm-lich bei den Grünen und auch Teil der Sozialdemokratie identitätsstiftend. Diese leidenschaftlich vorgebrachte Anti-Atomkraft-Politik beeinflusst junge Generationen in ihrem Denken, Fühlen und Handeln maßgeblich. Sie zählt zu den letzten verlässlichen Erkennungsmerk-malen politischer Gesinnungsethik in dem konturlosen und abgefeimten Allerei politischer "Kultur". Aber die überwältigende Mehrheit der Franzosen ist diese be-herzte Form dauer-haften Aufbegehrens fremd. Geht es doch im die Ver-sorgungslage der Nation, die nun ein-mal ganz oben in der Werteskala rangiert. In Frank-reich bringt es selbst die großspurigste Atompolitik, welcher Regierung in Paris auch immer, nicht fertig, so zu provozieren, dass die alten ideologischen Klassen-gegensätze ausgehebelt würden und sich eine Protest-bewegung bildete.
ABWEGIGE GEDANKENSPIELE
Während sich in Berlin die Stromversorger und Politiker von SPD und Grünen zumindest zeitweilig konsensfähig um Gedanken über den "Einstieg in den Ausstieg"
mühten, gar eine Verlängerung der Laufzeiten be-stehender Kernkraftwerke pauschal ablehnten, gibt es in der französischen Sprache nicht einmal eine Ent-sprechung für das bedeutungsschwere Wort "Ausstieg". In Paris jedenfalls werden solche Gedankenspiele von vornherein abwegig genannt. Statt dessen soll bis spätestens zur Jahrtausendwende die Vision Wirklich-keit und der "Reaktor der Zukunft" REP 2000 einsatzbereit sein, technologisch ausgereifter, noch sicherer, heißt es. EDF-Generaldirektor Jean Bergougnoux sprach sogar von einem "erheblichen Bedarf" neuer Kernkraftwerke, mit denen er das Land überziehen beabsichtige. Selbst die Möglichkeit, dass ein Reaktorkern schmelzen könne, wird nunmehr öffentlich ins Kalkül einbezogen, aber nur um Angst-schwellen stückchenweise weiter abzubauen. Eine aberwitzige Eventualität, die früher stets kategorisch ausgeschlossen worden war.
DEUTSCHE KONZERNE IM GESCHÄFT
In Frankreich regt sich allein deshalb kein auffälliger Protest. Und die deutschen Stromkonzerne sind mit Beteiligungen samt Investitionen munter dabei - vorsichtshalber und für den Fall, dass die Laufzeiten deutscher Kernkraftwerke jäh enden, Braunkohle wie erneuerbare Energie für eine Exportnation immer noch kein Ersatz darstellen. Allein im Jahre 1991 steckte Frankreich knapp 140 Milliarden Euro in seine Atom-kraft. Zu Beginn des achtziger Jahrzehnts beanspruchte der Reaktorbau ein Fünftel aller französischen Investi-tionen. Und die Strompreise sind nicht nur die weitaus günstigsten in Europa, sie fielen auch zudem noch um zehn Prozent, "weil wir", so frohlockte es aus der EDF-Zentrale in Paris, "konsequent auf die absolut modernste Technologie gesetzt haben".
ELITE-UNIVERSITÄTEN
Irgendwie ist das gigantische Atomprogramm Frank-reichs schon ein wenig der Stoff, aus dem einst die Träume von Armeegenerälen und Atomgläubigern gebastelt wurden. Schließlich sind die EDF-Herren des Brennstoffkreislaufes allesamt Absolventen franzö-sischer Eliteschulen, die Kaderschmieden für den Staat und dessen Rückgrat. Für die meisten ist die École Polytechnique, die renommierteste der französischen Grandes Écoles, lediglich eine Art Vorschule. Bis ins Jahr 1975 blieb diese bekannteste Ingenieurschule Frankreichs ausnahmslos Männern vorbehalten. Frauen mit noch so exzellenten mathematischen oder natur-wissenschaftlichen Eingangsqualifikationen wurde der Zugang verwehrt. Allmählich nun rücken die ersten ausgebildeten Frauen in Spitzen-Positionen nach. Immerhin belegen mittlerweile etwas weniger als ein Drittel Studentinnen jene begehrten Plätze an den Grandes Écoles. Nach erfolgreichem Abschluss steht nochmals eine dreijährige Zusatz-Ausbildung an der École de Mines bevor.
GANZTAGSSCHULEN
Unter diesen Bedingungen versteht es sich von selbst, dass Frauen in französischen Kernkraftwerken in verantwortlicher Position eigentlich nicht vorgesehen waren. Und das in einem Land, in dem weit über 43 Prozent aller Frauen voll berufstätig sind, in dem es - anders als in Deutschland - ausreichend Krippen- und Kindergartenplätze - vor allem durchgängig Ganztags-schulen gibt. Verständlich, dass für 80 Prozent aller Französinnen ein Leben ohne Beruf undenkbar ist und ihr Einstieg in klassische Männer-Domänen als die wichtigste Veränderung in den vergangenen zwanzig Jahren beurteilt wird. Verständlich auch, dass sich gar 82 Prozent ein Leben ohne festen Partner vorstellen können. Es entzog sich dem männlich zugeschnittenen Anforderungsprofil des EDF-Mangements noch Anfang der achtziger Jahre, dass jemals Frauen als Ingenieur-innen, Physikerinnen, Chemikerinnen oder Mathema-tikerinnen Atomkraft-Kader führen können. Allenfalls schien denkbar, den Damen die Verantwortung für die sonnig-muntermachende Gelb- und Blautönung der labyrinthischen Korridore der Kernkraftwerke zu übertragen.
VON EINEM ANDEREN PLANETEN
Das weiträumige Kasino des Kernkraftwerkes Le Bugey: Draußen wachen Kühltürme, drinnen Palmen. Mittagszeit. Nur ein flüchtiger Blick in den Speisesaal für Führungskräfte verrät schon, dass sich in Frankreich in den letzten fünf Jahren mehr verändert hat als in den 25 Jahren zuvor. Die Frauen sind da. Ausnahmslos an allen Tischen essen, diskutieren, gestikulieren, feixen und rumoren Frankreichs jüngste Atom-Manager-innen. "Unvorstellbar war diese vitale Frauen-Präsens in unseren Kernkraftwerken noch vor einigen Jahren. Jetzt ist sie aber längst eine von uns Männern ausgesuchte Realität", bemerkt EDF-Direktor Albert Leconte. Dabei lacht er schelmisch, als seien les Dames de l'atome soeben gerade von einem anderen Planeten gekommen.
27.000 INGENIEURINNEN
Mit den Frauen zog zunächst ein psychosozialer Klimawechsel in die einstige französische Männer-Trutzburg Kernkraft und Nuklearforschung ein, deren langfristige Folgewirkung qualitativ noch gar nicht auszumachen ist. Immerhin arbeiten nunmehr über 3.000 Frauen in Kernkraftwerken (14 Prozent) und an die 5.000 Frauen in der Nuklearforschung (24 Prozent) - als Wissenschaftlerinnen in Führungsetagen versteht sich. Insgesamt verfügt das Land über ein Potenzial von 27.000 Ingenieurinnen.

COCORICO-GETUE
Die Ingenieurin Isabelle Taillois-Galbano meint: "Auch wenn wir es mit viel Mühe geschafft haben, hier im Kernkraftwerk zu arbeiten, so sind doch in erster Linie Frauen in unserem Denken, Fühlen und Handeln. Unser Frausein verträgt nun einmal schlecht diese unbe-gründete Männer-Herrschaft aus der Steinzeit, dieses undurchsichtige Cocorico-Getue. Partnerschaft, Trans-parenz und Einfühlungs-vermögen sind gefragt denn je. Solange wir Frauen in der Minderheit sind, werden wir von diesen Machos nur halbwegs geduldet. Aber dieses Mann-Verhalten bricht ein. Mal sehen, was dann auf uns zukommt."
EINMAL EDF - IMMER EDF
Ihre Alltagswirklichkeit ist bestimmt von steriler Abgeschiedenheit und der Kälte der Apparate mit all den peinlich genauen Sicherheitsauflagen. Dort, wo Gefühle belächelt, Hoffnungen begraben, der Leidens-druck umgeleitet und Enttäuschungen standhaft genommen werden. Klinisch-rein hat das Seelenleben der Kernkraft-Frauen ohnehin zu sein. Tagsüber am Reaktor, abends in der Freizeit in den von der EDF nur für Mitarbeiter gebauten Wohnsiedlungen. "Einmal EDF - immer EDF, auch privat EDF", murmelt die 31jährige Murielle Vivier-Bessard. "Ja, ja richtig, auch mein Vater war schon bei der EDF", fährt sie süffisant fort.

HAB-ACHT-STELLUNG
Das Leben der Murielle Vivier-Bessard scheint in gewisser Weise symptomatisch für den französischen Frauen-Aufbruch zu sein. In ihrem Arbeitszimmer türmen sich hohe Papierberge auf ihrem Schreibtisch. Und irgendwo blickt da ein Bubikopf mit großen hellen Augen in auffälliger Hab-Acht-Stellung heraus. Ihre äußeren Merkmale wollen so gar nicht zum franzö-sischen Schick passen: Pulli und Jeans, ziemlich schüchtern schaut sie drein, latente Berührungsängste.
DIE DA OBEN - WIR HIER UNTEN
Wenn sie oder ihre Kolleginnen von den Männern sprechen - und das müssen sie allzu oft tun - so heißt es nur lapidar: "Ceux d'en haut"- "die da oben" - als Synonym für den Mann, als Kürzel für die Männer-Welt in den Kernkraftwerken an den Kommandozentralen versteht sich - noch. Seit einem Jahr leitet Murielle Vivier-Bessard die Abteilung Buchhaltung des Kern-kraftwerkes, als Chef-Buchhalterin mit 30 Mitarbeitern. Sie verdient etwa 2.500 Euro monatlich.
HAUSMANN IM HINTERGRUND
Als die Angestellte zum ersten Mal ins Werk kam, befand sie: "Angst vor der französischen Atomtechnik habe ich nicht, sondern durch Wissen begründetes Vertrauen. Dennoch muss ich einen hohen Preis für mein berufliches Fortkommen zahlen. Aber ich will - und zwar bar." Gerade erst hatte Murielle Vivier-Bessard in Clermont-Ferrand geheiratet. Um der Karriere willen ließ sie ihren Mann, einen Bankan-gestellten, zurück. Und dieser kann in Le Bugey und Umgebung trotz emsiger Anstrengungen keine An-stellung finden."Also wird er wohl langfristig einfach so kommen", mutmaßt Murielle, "als Hausmann, warum denn eigentlich nicht. Die Männer sind doch sowieso in einer gesellschaftlichen Krise, suchen verbissen nach einer neuen Identität." Aber noch ist es nicht selbst-verständlich, dass Frauen in leitenden Positionen akzeptiert werden. - Immer wieder fragen ich mich stereotyp die Herren, wie viele Kinder ich denn schon zu Hause hätte, wenn es Sachprobleme zu erörtern gilt. Quasi als Qualifikationsnachweis für meinen Job im Kernkraftwerk. Es ist nervig und beschämend zugleich. Dabei wollen wir mit diesen Männern zusammen-arbeiten. Wir sind hier keine militanten Feministinnen. Nur sie müssen endlich in ihrem Verhalten begreifen, dass wir nicht die Püppis der Nation sind."
JEANNE d'ARCS DER NEUZEIT ?
Isabelle, die zugehört hat, signalisiert Einvernehmen. Isabelle Taillois-Galbano ist Ingenieurin in Le Bugey, für die Einstellung von Technikern verantwortlich. Sie ist eine eloquente Frau von 33 Jahren, Mutter dreier Kinder und eine mathematisch-physikalisch versierte Wissenschaftlerin, die die von Männern kalkulierten Leistungskriterien voll und ganz erfüllt. Sie könnte es durch ihre Qualifikation, das weiß jeder im Werk, mit all den Herren leicht aufnehmen, wenn man doch nur ließe. Vielleicht wird Isabelle ja die zweite Frau Frank-reichs, die ein Kernkraftwerk leitet. Es hätte ihr schon gefallen, die erste gewesen zu sein. Bekanntlich wurde es ihre Kollegin Martine Griffon-Foucault in Le Blayais, die sie aus der gemeinsamen Studienzeit in Paris kennt und schätzt.
REAKTOR UND SEGELBOOT
Frankreich feierte damals mit großer Presse die erste Chefin eines Kernkraftwerkes, seine Madame Martine, überschwänglich als nahezu auferstandene Jeanne d'Arc der Neuzeit, mit wehenden blonden Haaren vor dem Reaktor, im Segelboot, zu Pferd und auch kuschelig an der Bar - ganz im Stil: so verführerisch kann Atom-spaltung sein. Isabelle Taillois: "Würdelos war das für uns Frauen in den Kernkraftwerken alle. Als hätten unsere strengen Anforderungen in Wissenschaft, Tech-nik samt Sicherheit etwas mit illustrer, voyeuristischer Erotik zu tun."
NUKLEARVISION - MÄNNERTRÄUME
Und was passiert nicht alles in diesen Jahrzehnten in Frankreichs sicher gewähnten Atommeilern. Für Männer sind es noch routinegeübte Petitessen. Für die Frauen hingegen sind es alarmierende Vorkommnisse, die sie nicht mehr ruhen lassen. Ihre Alarmglocken schrillen, sagen sie, beruhigen sie, versichern sie. Aber - hier im Atom-kraftwerk - wachen sie über ein Leben, das ihnen sind schon fortwährende bedenkliche Aus-nahmesituationen genehmigt hat - und das in einem schleichenden Gewöhnungsprozess, der sich da Alltag nennen darf.
KERNKRAFT-SZENARIEN
Explosion im Atomreaktor. Bei einer Natriumexplosion im südfranzösischen Atem-forschungszentrum Cada-rache kam ein Arbeiter ums Leben, vier wurden verletzt. Nach Angaben der Präfektur des Départements Bouches-du-Rhône geschah das Unglück bei Arbeiten zum Abbau eines vor zwölf Jahren stillgelegten Ver-suchsreaktors. Die Explosion ereignete sich gegen 19 Uhr im Trakt des ehemaligen Reaktors "Rapsodie", eines Prototyps für den Schnellen Brüter. In Kraft-werken dieses Typs, die mehr radioaktiven Brennstoff erzeugen , als sie verbrauchen, wird das Kühlmittel Natrium eingesetzt, das bei der Berührung mit Sauer-stoff in die Luft gehen.
MINI-GAU
Erdstöße erschüttern das südfranzösische Atom-forschungszentrum Cadarche. Zu Testzwecken haben Nuklearexperten einen Mini-Gau gezündet. Immer wieder er-schüttern neuerdings Erdstöße die Funda-mente der Anlage. In den letzten vier Mo-naten bebte der Boden insgesamt 40mal. Seither gab die Erdkruste unter dem 50 Kilometer nordöstliche von Marseille gelegenen 1.625 Hektar großen Areal keine Ruhe.
HAARRISSE
Anderenorts sind Haarrisse am Deckel des Reaktor-druckbehälters entdeckt worden: am Stutzen des Reak-tordeckels der Kernkraftwerke Fessenheim und Le Bugey; Grund für den Defekt sei Korrosion des Mate-rials, sagt man, die durch Temperaturen bis zu 300 Grad nach rund 50.000 Betriebsstunden entstanden sei. Angesichts tiefreichender Materialfehler an der Naht-stelle zwischen Sekundär- und Primärkreislauf mussten mehrere Röhren ausgewechselt werden. Beim Hoch-drucktest des Primärkreislaufes im Block 3 des Kern-kraftwerkes Le Bugey trat ein Liter Wasser pro Stunde aus dem Deckel des Reaktordruckgefäßes aus.
ALS ES IN TSCHERNOBYL KRACHTE ... ...
Als es in Tschernobyl krachte, an die 70.000 Menschen starben und Millionen von Menschen radioaktiv ver-seucht wurden, da erinnerte sich die Ingenieurin an ihre ersten Angst-Zustände in der Kindheit. Vage Erinner-ungen schienen plötzlich wieder erlebbar. Kennedy wurde 1963 in Dallas ermordet. Isabelle Taillois war damals drei Jahre als. Die Familie hörte seinerzeit Radio. Für sie als Dreißigjährige ging damals die Welt unter. Beim Atomkraft-Desaster von Tschernobyl dachte sie nur: "Diese blöden Russen." Zu Mittag aß sie weiter unbesorgt ihren Kopfsalat. Angeblich hatten sich die radioaktiven Wolken nicht über den Rhein nach Frank-reich gewagt.







































Mittwoch, 24. März 1993

Hitlers langer Schatten in Frankreich
















































Mit Schlagringen und Leibwächtern geht ein Professor der Universität Lyon III für die rechtsradikale Front Nati0nal auf Stimmen-fang. Auch Freiheits- und Geldstrafen können Bruno Gollnisch längst nicht daran hindern, systematische Judenvernichtung in Auschwitz zu relativieren. Am liebsten verkleidet er sich als Kolonialherr mit obligater Peitsche am Hosenbund; mit Parolen des "Rassenhasses" im Gepäck
.
TRIERISCHER VOLKSFREUND
vom 24. März 1993
von Reimar Oltmanns

Es waren allesamt notable Professoren des gehobenen französischen Bürgertums, die sich am Wahlabend zur Pariser Nationalversammlung diskret in ihrer Universität Lyon III trafen. Unauffällig deshalb, weil die Hochschullehrer auf ihre "Leibwächter" verzichtet hatten. Sie wollten einfach nur mal unter sich sein, "den Schiffbruch der Moderne, das Desaster der Sozialisten" am Fernseher möglichst hautnah miterleben - als Gemeinschaftsgefühl natürlich, bedeutete der Wirtschaftswissenschaftler Bernard Notin, 43. Bevor er durchs Hauptportal des Gemäuers aus den Gründerjahren verschwand, warf er noch schnell einen Happen hin: "Das ist der Wendepunkt Frankreichs. Es waren doch Jahre des Überdrusses, der Kapriolen, der Korruption, der sozialistischen Vetternwirtschaft." - Triumphgefühle.

Am Wahlabend des ersten Durchgangs zur Pariser Nationalversammlung waren sie jedenfalls alle an ihrem sicheren "Ankerplatz" eingekehrt. So nennen diese zehn Professoren ihre im Jahre 1973 gegründete Universität Lyon III. - auch nach dem französischen Widerstandskämpfer Jean Moulin benannt. Tatsächlich entwickelte sich diese junge Hochschule mit ihren dominanten Köpfen zu einer machtstrategischen Denkfabrik der rechtsextremen Front National des Jean-Marie Le Pen. Hier in Lyon, drittgrößte Stadt der Republik, mit konservativ empfindenden Bürgern samt französischer Wohlanständigkeit, wird Le Pen vorgedacht, vorprogrammiert, vorinszeniert.

"FRANKREICH DEN FRANZOSEN"

Hier werden Parolen des Rassenhasses ("fremdvölkische Bevölkerung", "schwarze Banden-Gettos", "Leisetreterei unter dem D-Mark-Banner", "Frankreich den Franzosen", "die Aidskranken aus Afrika") getestet, verworfen, letztlich für gut befunden. Hier wird unter professoraler Federführung jenes liebsame Gemisch aus Begriffsleere, Aggressivität und Spektakelsucht zusammengebraut - eben Emotionen aufwühlende Reizwörter, mit denen Le Pen landauf, landab den Politik-Verdruss weiter schürt, als Wählerstimme einzufahren gedenkt. Immerhin gelang es ihm auf diese Weise landesweit 3.158.843 Voten auf die Front National zu vereinen - das sind 12,52 und ein Plus von drei Prozent zur letzten Nationalwahl - und sich als dritte politische Kraft Frankreichs zu etablieren.

Und da versteht es sich nahezu von selbst, die "Schmerzgrenze" der um ihre nationale Identität bangenden Franzosen zu testen, dem Rechtsradikalismus einen Weg zu weisen. Nein - heißt es auf einmal wohlbedacht aus besagter Dozenten-Ecke, Auschwitz, "die angeblichen Gaskammern Hitlers und der angebliche Massenmord an Juden sind eine einzige historische Lüge." - Französische Professoren auf Lebenszeit.

POLIT-KRIMINELLE STECKBRIEFE

Mitunter gab es Sanktionen aus Paris. Der eine musste Buße zahlen ( 4.500 Euro), der andere wurde kurzweilig vom Campus verwiesen. Doch schon beizeiten vor den Wahlen waren allesamt wieder in Amt und Würden. Keiner wagte die von dem Lyoner konservativen Abgeordneten Raymond Barre, einst unter Staatspräsident Giscard d'Estaing Ministerpräsident, angemahnte "Unabhängigkeit der wissenschaftlichen Lehre" anzutasten. Aus gutem Grund hatte Wirtschaftsprofessor Barre dem Rektor der Universität das Kreuz der Ehrenlegion überreicht - im Sinne einer Auszeichnung als Trutzburg gegen die sozialistischen Weltverbesserer.

Die Biografien der hoch dotierten Wissenschaftler zu Lyon lesen sich mitunter wie polit-kriminelle Steckbriefe aus Frankreichs unrühmlichen Tagen. So manche Professoren sind vorbestraft, saßen gar schon im Gefängnis ein. Immer wieder drehten sich ihre Delikte um ein und dasselbe Vergehen - Gewalt und nochmals Gewalt. Der Vordenker für Le Pens rechtsradikales Frankreich-Erwachen - Professor Robert Faurisson - kämpfte nicht nur militärisch-subversiv in der OAS gegen die Befreiung Algeriens. Im Jahre 1983 fuhr er nach Los Angeles. Sein Reisethema: Sinn und Zweck der Gaskammern. Ausgerechnet 1987 im Jahr des Prozesses gegen den einstigen Lyoner Gestapo-Chef Klaus Barbie startete Professor Faurisson mit der Herausgabe seiner "Jahrbücher" über die sogenannte "revisionistische Geschichte". Zentrales Thema für die Studentengeneration dieser Jahre: "Eine befreiende Erkenntnis für die Deutschen, eine gute Nachricht für die Menschheit schlechthin: Gaskammern haben nie und nimmer existiert." Hitlers langer Schatten in Frankreich '93.

Es war naheliegend, dass die Front National auf solche "wissenschaftliche Kapazitäten der Neuzeit" nicht verzichten mochte. Kurzerhand kürte Le Pen jenen Universitäts-Herren zu seinen "persönlichen Beratern". Seither wird halt möglichst leise vorgedacht, Gaskammern hin, Auschwitz her, mittlerweile haben sich die Herren im Sinne Le Pens darauf verständigt, dass sie "lediglich eine Detailfrage in der Geschichte des Zweiten Weltkrieges ist", befand Le Pen und fügte hinzu: "Ob ein Jude oder sechs Millionen Juden, wer weiß das wirklich schon. Ich persönlich habe nie eine solche Gaskammer gesehen."

SEHNSUCHT NACH VICHY

Mittlerweile treiben Le Pen und seine Professoren ganz andere Themen um: Nämlich die Sorge vor einem Ausverkauf Frankreichs oder die verstohlene Sehnsucht nach Vichy. - Jene vier Jahre also (1940-1944), in denen deutsche Truppen Frankreich besetzt hatten. Damals wurde Paris Sitz der deutschen Kommandantur, Vichy ein gutbürgerlicher Kurort im Zentralmassiv die Hauptstadt Frankreichs. Zu dieser Zeit stimmten unter dem greisen 84jährigen Marschall Philippe Pétain scheinbar noch die Grundwerte des alltäglichen Lebens, die da hießen: Arbeit, Familiem Fleiß und Vaterland. Irgendwie sieht sich Professor Bruno Gollnisch, der als Kandidat der Front National in Lyon stolze 24,5 Prozent der Wählerstimmen auf sich zog, hinlänglich bestätigt. "Wir wollen unsere jahrhundertelange kulturelle Dominanz wieder haben. Überall, wo ich hingehe, höre ich fremdländisches Palaver, muss ich mich als Franzose fast entschuldigen. Und abends zu Hause vor dem Fernseher hämmern uns die angloamerikanischen Filme ins Gesicht. - Frankreich, was ist aus dir geworden?"

KOLONIALHERREN MIT PEITSCHE

Zumindest einen scheinbar aufbauenden Gedanken begleiten Gollnisch und seine Universität nach den Parlamentswahlen. Wenigstens einmal noch wollen die Professoren fröhlich auf dem Campus ein Fest feiern dürfen wie es einst früher doch so üblich war. Als Kolonialherren mit obligater Peitsche am Hosenbund verkleidet, mit Kolonialliedern wehmütig verflossene Kolonialzeiten besingend. Sollte diese Maskerade wieder von "unsittsamen Randalierern" gestört werden, versprechen Le Pens Hochschullehrer noch in der späten Nacht, "dann gibt es von unserem hart trainierten Ordnungsdienst richtig eins in die Fresse - erst recht nach dieser Wahl der nationalen Wende."












Samstag, 6. Februar 1993

Frankreichs Alpen: Langlauf auf dem Vulkan




































Nicht überall, wo die Alpen scheinbar unberührt dreinschauen, ist das Gebirge noch intakt. Die Bergwelt ist längst geplündert, Alpengletscher schrumpfen. Indes: Winter für Winter schieben sich Blechlawinen die Berge hinauf, Autokarawanen blockieren Zufahrtstraßen in den Tälern, Wartezeiten an den Liften, überfüllte Restaurants, abgasvergiftete Luft, Tonnen von Abfällen, verseuchte Bäche, Lärm, Hektik, Gestank. Und die Skiurlauber hausen in Block-Zitadellen. - Mit Schussfahrt in die Winterwüste.


Hannoversche Allgemeine
Zeitung
vom 6. Februar 1993
von Reimar Oltmanns


Durch die Sonnenbrille geluchst, ist der Himmel über dem felsigen Panorama fast rabenschwarz. Doch ohne Augenschutz hält es wohl keiner auch nur wenige Stunden aus, da das pralle Sonnenlicht in höchster Intensität durch die löchrige Ozonschicht auf die glitzernden Schneehänge prallt. Winter für Winter dasselbe Szenarium. Hunderttausende von Ski-Touristen drängen in die französischen Regionen Savoyen, Hoch-Savoyen und Isère - eben in Europas größtes Wintersport-Areal mit seinen 420 Liften (mit einer Förderkapazität von 200.000 Personen in der Stunde), mit mehr als 800 Schneekanonen und exakt 1.100 Pistenkilometern. Mehr als tausend Skilehrer wedeln tagsüber über die Loipen und abends beim Après Ski in den Bars, Champagne schlürfend.

WUCHT UND WOLL-LUST

Ein bisschen Chaos, ein bisschen Wildwest. Überall spürt der Neuankömmling Wucht und Wolllust. Von beschaulicher, in sich ruhender Winterromantik fehlt jede Spur. Aber immerhin gibt es sehr lange Abfahrten, Riesenabfahrten,Traumabfahrten, die den üblichen Rahmen sprengen, die steil und einsam ihre Schleifen über anscheinend unberührte Tiefschneehänge ziehen.

In sieben Tagen 600 Kilometer Abfahrten zu bewältigen, ist eine vorzeigbare Leistung. Täglich sechs Stunden über Buckelpisten, Firnschneeflächen und plattge-
walzte Schneeautobahn zu zischen, zweitausend Meter talwärts, dann per Lift im computergesteuerten Sportzirkus wieder nach oben. Umweltschutz hin, Umwelt-schutz her - hier dürfen Ski-Flitzer und Snowsurfer noch kreuz und quer durch die Wälder toben. Dafür lassen sich Touristen gern in Block-Zitadellen internieren, jene graumäusigen Betonkasernen, die bedrückend an den sozialen Wohnungsbau der späten siebziger Jahre erinnern.

VERSEUCHTE BÄCHE, HEKTIK, GESTANK


Winter für Winter schieben sich Blechlawinen die Berge hinauf, Autokarawanen blockieren Zufahrtsstraßen in den Tälern. Hinzu kommen endlose Wartezeiten an den Liften, überfüllte Restaurants sowie Parkplätze, abgasvergiftete Luft, Tonnen von Abfällen, verseuchte Bäche und Flüsse, Lärm, Hektik, Gestank. Nervös sind die Einheimischen allemal, die Winterurlauber werden es zunehmend - denn der Wald stirbt leise, aber unaufhaltsam.

Frankreichs alpine Wintersaison zu Beginn der neunziger Jahre - das ist ein noch unbekümmerte Langlauf auf dem Vulkan. Hier marschierte einst der Fortschritt voran, und zwar bis zur letzten Hütte. Schon ein Jahr nach den prestigebeladenen Olympischen Winterspielen von Albertville (1992), droht eine ganze Region aber der jähe Absturz. Es blieb dem französischen Tourismusministerium vorbehalten, die unverhoffte Kehrtwende kleinlaut einzugestehen, "dass in den Alpen nicht mehr so sein wird, wie es einstmals war." Vorbei sind jene Jahrzehnte des hemmungslosen Wachstums. Jahre, in denen die Grenzen zwischen Fortschritt, Perfektion samt Großmannssucht verwischten. Zeiten, in denen bedenkenlos Ski-Stationen aus der Retorte gestampft, Berge wegplaniert wurden, Kunstschnee samt Skikanonen anscheinend ewige Urlaubsfreude verhießen. Epochen, in denen technisch "die Zukunft schon begonnen hatte". Nur der langsame Tod der Berge war nicht eingeplant. In Frankreichs Goldgräberzeit in den Alpen gab es keinen Platz für Warnungen.

STATT SCHNEE - BALD NUR NOCH REGEN

Doch schon ein Jahr nach den Winterspielen von Albertville mit seinen 13 Stationen, dem Fest der Superlative, weist der Weg nun überdeutlich in eine Richtung, die sich Abgrund nennt. Den französischen Alpen droht der Kollaps.

Zwischenfälle dieser Tage: Die Bergwelt ist geplündert, die Natur als Basiskapital des Tourismus ermattet, zuweilen ramponiert. Ohnehin hält die alpine Landschaft die heute Masseninvasion der Winterurlauber kaum noch ohne tief greifende Schäden aus. Die Alpengletscher schrumpfen, früher oder später wird statt Schnee nur noch Regen vom Himmel fallen.

Dabei sollte gerade der Wintertourismus dieser Region den verarmten Bergbauern eine gesicherte Zukunft bescheren, den verlassenen Dörfern neues Leben einhauchen. Angefacht vom olympischen Rausch fiel der Wintersportboom wie ein gewaltiger Bergsturz über so manchen Ort her. Verständlich, dass viele kleine Dörfer in der Waldregion um La Plagne kaum wiederzuerkennen sind. Alte Bauernhäuser wurden saniert, neue Ferienwohnungstrakte errichtet. Oftmals signalisiert nur noch der Kirchturm, dass es hier schon ein Leben vor 1992 gab.

BANKEN, BAUERN - PLEITEGEIER

"Bauern - werdet Hoteliers!" lautete einst die Aufforderung an die Bergbauern in den abgelegenen Dörfern. Und die Bauern verschuldeten sich für ihr Leben. Es waren die Banken, die dabei eine bedenkliche Rolle spielten. Zur Zeit der Olympischen Winterspiele war noch genügend Geld vorhanden. Man musste es nur gewinnträchtig unter die Leute bringen. Jeden, der sich als gebeutelter Landwirt zum Hotelier berufen fühlte, versorgten die Banken mit üppigen Krediten. Nach Rentabilitäts-berechnungen, Betriebskonzepten oder betriebswirtschaftlichen Grundkenntnissen fragten sie erst gar nicht.

Verständlich. dass in manchen Gegenden heute Gerichtsvollzieher öfter an die Tür klopfen als Touristen. Gerüchten zufolge, sollen sich drei französische Großbanken den ländlichen Teil um La Plagne bereits aufgeteilt haben. Pfändungen un Zwangs-versteigerungen samt Landverkauf wurden für die Bauern zum ständigen Wegbegleiter - zur Schreckensvision. So auch für den 45jährigen Daniel Brun aus der Gegend von Val d'Isère, den viele nur unter seinem Spitznamen "Commandante Kikki" kennen. Deprimiert lehnt er an der Gartenpforte vor seinem aufgemöbelten Hof. "Mit falschen Planungen, falschen Bedarfberechnungen und falschen Erwartungen", stammelt er wurden wir besoffen geredet. Erst wurden uns die Gelder nachgeschmissen, dann trieben sie uns in den Ruin. Überall in der Region flattert hungrig der Pleitegeier. Mir und meiner Familie gehört nichts mehr, kein Land, kein Stein - nichts. Mein Leben ist verpfuscht." Ob gutgläubige Bauern oder auch zahlreiche Dörfer in dieser Alpenregion - allesamt haben sie sich weit über den Tellerrand hinaus mit Millionen von Euro verschuldet. Hoffnungsfroh und euphorisch schauten sie einst drein. Ein Jahr später weiß kaum eine Gemeinde so recht, wie Schulden samt Zinsen zu tilgen sind. Katerstimmung überall.

Etwa hundert Kilometer von Val d'Isère entfernt liegt die 350-Seelen-Gemeinde Entremont. Ihr Bürgermeister Gilles Maistre trat im Rathaus in einen zwölftägigen
Hungerstreik. Er sagt: "Wenn es um unsere Schulden geht, hört in Frankreich niemand mehr zu, da die Olympischen Winterspiele nur noch Schnee von gestern sind. Deshalb muss ich öffentlich hungern, um wenigstens ein Quäntchen Aufmerksamkeit zu erhaschen." Die Gemeinde benötigt dringend Sozialwohnungen, ein Jugendheim und ein Feuerwehrhaus. Fehlanzeige! Die gesamten Gelder des Dorfes sind für Olympia draufgegangen.

"Ja, ja", verlautbart es aus dem Tourismusministerium in Paris, "viele ist schiefgelaufen. Aber ihr Alpendörfler müsst um Gespräch bleiben - der Marketing- und Verkaufsstrategie wegen. Nehmt eine Schwerpunktverlagerung eures Images vor. Zeigt Sensibilität und Kompetenz in Sachen Umweltschutz, setzt auf Luftveränderung in den Bergen, produziert Gemütlichkeit in euren Hütten und neue Broschüre, dafür gibt es dann wieder Geld."

Der Bürgermeister schüttelt den Kopf. "Schon wieder Kredite aufnehmen? Nein danke!"