Mittwoch, 4. März 1992

Schlager-Festival San Remo: Abglanz früherer Epochen








































Korruption hat den ehemals populären Schlagerwettbewerb, Il Festival della canzone italiana aus den sechziger Jahren ramponiert und den Ruf von San Remo ruiniert; italie- nische Songs der Gegenwart, oft im ge- brochenem Englisch vorgetragen, den Garaus gemacht. Wenn Legenden sich überlebt haben, dann auf den Bühnen des Teatro "Ari- ston", dort wo Italiens Schlagersänger ihre TV-Auftritte unterbrechen müssen - für Katzen- futter, Slipein- lagen oder Barilla-Nudeln.


Gießener Anzeiger
vom 4. März 1992
von Reimar Oltmanns

Da stehen sie nun auf der Bühne, die italienischen Schlagerstars der neunziger Jahre - bedeutungsschwer, aber noch ohne Zeremonienmeister. Das hochbetagte Jugendstil-Teatro "Ariston" zu San Remo, umgeben von weitflächigen Parkanlagen, gibt die Prachtkulisse ab, auf der das kultuerelle Großereignis Italiens schlechthin beginnen kann. Schon Wochen vor dem Festival zu San Remo wird die "Ausscheidungskür" zum besten Schlager alljährlich mit einer Aufmerksamkeit nationaler Trag- weite bedacht; nahezu so, als müsse Italiens inter- nationales Renommé als weltweit dritte Liedernation (hinter den USA und England) nachhaltig verteidigt werden.

20 MILLIONEN ITALIENER VIER NÄCHTE LANG VORM FERNSEHER

Wenn Narzissmus tatsächlich einen fortwährenden Zustand dieser Jahre umschreibt , dann zählt das alljährliche Glanz- und Glimmer-Festival zu San Remo zu seinen tragenden Säulen. Jahr für Jahr hängen etwa 20 Millionen Italiener und Italienerinnen vier Nächte lang vor den Bildschirmen; von live-Schaltung zum Exklusiv-Interview. Weltweit können mithin über eine Milliarde Menschen via Mondovision beim Endaus- scheidungskampf der sogenannten Schlager-Finalisten dabei sein. Schon die Dramaturgie allgegenwärtiger Selbstdarstellung drängt Skeptiker zu Randfiguren. Das ausgesuchte Spektrum des Italo-Spektakels folgt einer allseits akzeptierten Zielgruppenstrategie - Kasse machen.

"GOODWILL-GELDER" - AUCH BESTECHUNG GENANNT

Den Auftakt lieferten in all den Jahren handfeste Korruptionsgeschichten, mal spektakulär vermarktet, mal mühsam versteckt. Da mussten zahlreiche Künstler bis zu 70.000 Euro sogenannte "Goodwill-Gelder" ein- zahlen, um überhaupt zum Wettbewerb der italie- nischen "canzone" zu gelassen zu werden; einen Bühnenpreis für ihren kurzweiligen Auftritt sozusagen. Kein italienischer Sänger oder auch Sängerin kann sich nach dortigen Marketing-"Gesetzmäßigkeiten" solch einer Transferzahlung entziehen. Wer auf seine "Herz-Schmerz-Liebe-Neuigkeiten" auf den Bühnen zu San Remo verzichtet, hat sich damit unweigerlich vom italienischen Schlager verabschiedet. Die allseitige Geschäftslogik : Ohne Schmiergelder kein Gesang, ohne Gesang keine Bühne. Verständlich, dass da der Haupt- organisator des Festivals, Adriano Aragozzini, San Remos Lokalpolitiker mit über 850.000 Euro schmierte und bei solchem Gebaren auch nichts Absonderliches empfand. Legte er doch nur gezielten Wert darauf, auch künftig die einflussreichsten "grauen Eminenzen" begrüßen zu dürfen.

Mit derlei "Begrüßungsgeldern" ausgestattet darf es sodann verkitscht und sentimental zugehen - für Gefühlsdrüsen-Dramaturgien. Das verlangen schon jene Einschaltquoten der privaten Fernsehstationen, für die der Medienmogul und Politiker Silvio Berlusconi ver- antwortlich zeichnet. Die Hommage gilt einem Sänger, der sich in San Remo vor mehr als 25 Jahren jählings das Leben nahm. Luigi Tenco war noch keine 29 Jahre alt, als er sich während des Festivals in San Remo im Januar 1967 im Hotel "Savoy" mit Whisky und Grappa vollpumpte und erschoss. Seinerzeit war Tenco mit seinen Texten der allzu oft sinnentleerten italienischen Bewusstseins-Industrie seiner Zeit offenkundig weit voraus und damit zur Erfolglosigkeit beschieden. Sein Haupttitel: "Ich habe mich in dich verliebt, weil ich nichts zu tun hatte." Nicht einmal eine Gedenkminute widmete seinerzeit das Festival seinem toten Inter- preten. Das soll nun nachgeholt werden, "weil wir ohne Legendenbildung nicht leben können", bedeutet Adriano Aragozzini knapp, "Charisma und Wehmut müssen her". Mit aufwühlenden Gefühlen in aktuell frisierten Nostalgien versucht Italiens Schlagerindustrie, der langanhaltenden Krise des Schlagers Schärfe, Langeweile und stereotype Dumpfheit zu nehmen.

ÄLTESTES FESTIVAL

Seit dem Jahre 1951 wird nun dieses Festival fort- während veranstaltet; Jahr für Jahr ohne Unterlass. San Remo ist das älteste Musik-Festival in Europa, älter gar als der Grand Prix de la Chanson, den es seit 1956 gibt. Seine besten Jahre erlebte San Remo, als Lieder von jeweils zwei Künstlern mit unterschiedlichen Orchester-Arrangements vorgetragen wurden. Seinerzeit sollte noch der Schwerpunkt des Festivals als Komponisten- und nicht als Sängerwettstreit akzentuiert werden. - Lang, lang ist's her.

Lieder wie Volare (Nel blu dipinto di blu) von Domenico Modugno (1958) oder Se piangi, se ridi von Bobby Solo (1958) sind unwiederbringliche Vergangenheit - Welt- hits verwehter Epochen. Mittlerweile reduziert sich der Flair von San Remo auf nationales Mittelmaß Italiens. Das Festival wurde auch zu selten von Rockmusikern oder den Canautori wahrgenommen. Musiker wie Fabrizo de André (*1940+1999) wie auch Francesco Guccini , dem italienischen Bob Dylan, hatten sich der hastigen Neuzeit ohnehin verweigert. de André wurde durch die hohe literarische Qualität seiner Texte und meisterhafte Interpretation zu einem der beliebtesten Sänger Italiens. Er erzählte hauptsächlich Geschichten der Ausgegrenzten und Enterbten. Er starb an Lungen- krebs.

GEBROCHENES ENGLISCH GETRÄLLERT

Die Songs der Gegenwart. oft im gebrochenen Englisch vorgetragen, sind ein Abglanz auf eine einst große beschauliche Ära des Festivals in San Remo. Italiens Musik-Experte Gianni Borgna resümiert: "Wer heute jung ist, hat wirklich nicht mehr so intensive Musik- erlebnisse wie in den sechziger Jahren. Das ist traurig, aber eine Tatsache." So kommt es nicht von ungefähr, dass viele Stars von ehedem Abend für Abend bei ihren jährlich etwa zweihundert Auftritten Säle und ihre Bankkonten füllen - und vor allem eine gediegene , ja vehemente "italienische Atmosphäre" verströmen, die heutzutage offenkundig ausgestorben zu sein scheint. So sind es die sogenannten "Oldies", die der Schlager- industrie einen jährlichen Verkauf von fast 300 Millionen Euro einbringen. Meist sind es Original-Aufnahmen aus den sechziger Jahren. San Remo lebte einst vom Mythos einer längst verflossenen Volare-Ära.

Ganz im Sinne italienischer Kommerz-Dramaturgie stehen ausnahmslos fast alle Sieger des Festivals schon vorher fest. Schon zu Beginn der San-Remo-Show schrieben unisono Italiens Gazetten - nach Absprache versteht sich - einen unbekannten Namen ins Rampen- licht. Er heißt Lucca Barbarossa ist 30 Jahre alt und kommt aus Rom. "Portami a ballare" (Nimm mich mit zum Tanzen) trällert er ins Mikrofon. Dieser Sänger nahm sich für seinen Vortrag erstaunlich viel Zeit. Neben seinem Liedchen zelebrierte Schlagerstar Lucca höchst persönlich kleine Slip-Einlage-Tütchen dort droben im Scheinwerferlicht zu San Remo. Folgerichtig wollte Chanteur Lucca an diesem Abend , wie er sagte, "auch nur mit meiner Oma tanzen" - wegen Slip, Sicherheit, Sorgfalt und so.