Samstag, 29. Februar 1992

Optimale Fernsehkulisse
























Melancholie und Delirium - nach einer Zwangspause führt beim Carnevale di Venezia Medienzar Silvio Berlusconi Regie. Will er den Markusplatz für teures Geld über seine privaten Fernsehsender weltweit vermarkten. Märchenkulisse für Sinnestaumel, Maske oder Theater - es ist das Fest des Jahres in Italien.


die tageszeitung, Berlin
29. Februar 1992
von Reimar Oltmanns


Canale Grande, ein Anlegesteg. Leicht verknautscht klettern sie aus dem Boot und flanieren feierlich zum altehrwürdigen Portal des legendären Palazzo Grassi: Casanovas, Kurtisanen, Kavaliere, Kardinäle, Prinzessinnen, Patrizierinnen. "Die Hunnen-Invasion hat längst begonnen", schrieb die venezianische Zeitung "Gazzettino" lakonisch. Weit mehr als 800.000 Menschen, so lauten die Rekordprognosen, werden in diesem Jahr zur Faschingszeit in nur vierzehn Tagen Venedig bevölkern.

Ob Deutsche, Amerikaner, Japaner oder auch Australier: allesamt schlendern sie einträchtig im Pulk ins glorreich ersehnte Vorgestern. - In der Tat: Der jahrhundertealte Karneval in Venedig wird neu inszeniert, feiert eine unvermutete Renaissance. Kein anderer als der Mailänder Medienzar und Politiker Silvio Berlusconi führt nunmehr mit finanzkräftigen englischen und schweizerischen Großkonzernen Regie - mit einem Geldaufwand von vorerst zwei Millionen Euro und weltweiten Übertragungsrechten versteht sich. Alles soll organisatorisch noch viel besser, umsichtiger, wahrheitsgetreuer, romantisch-nostalgischer, eben perfekter werden, wenn Venedig sich ins 18. Jahrhundert verabschiedet - für vierzehn Tage zumindest.
VIAREGGIO BIS RIO
Was fasziniert die Menschen nur derart, dass sie teilweise mit strahlenden Kinderaugen weltumspannende, teure Fahrten ins Ungewisse buchen, wenn nur vom venezianischen Karneval die Rede ist? Schließlich gibt es Karneval auf dem ganzen Erdball - von Mainz bis München, Viareggio bis Rio. "Alle Städte dieser Welt sind gleich, nur Venedig ist ein bisschen anders", bedeutet sein Bürgermeister Ugo Bergamo. "Im letzten Jahr ließen wir den Karneval wegen des Golfkrieges ausfallen. Jetzt verspüren die Menschen Heißhunger danach."

Es sind die einzigartigen grandiosen Paläste dieser Stadt, der Markusplatz, die Gassen und Gässchen, Kanäle und Brücken. Sie bilden eine Märchenkulisse für Sinnestaumel, Maske und Theater - auch für Melancholie und Delirium in einer zunehmend von Digitalrhythmen beherrschten Welt. Wohl kaum gibt es einen stärkeren Magneten für die sogenannten "tollen Tage" als Venedig, um wenigstens stundenweise dem grauen Alltag zu entfliehen. Masken als surrealistische Visionen, Theater als unentdeckte Selbstwahrnehmung. Hunderte von Schauspielgruppen aus aller Welt fanden ihren Weg schon in die Lagunenstadt und mischten sich unters Publikum. Nicht selten nahmen Zuschauer nur ein Stichwort auf, um gleich wenige Meter entfernt daraus ein kleines, eigenes Stück zu improvisieren. Animiert durch Straßentheater, Bänkelsänger, Musikanten und Pantomimen gerät jedes Jahr ganz Venedig aus dem Häuschen. Karneval in Venedig '92 - das ist insgeheim das Fest des Jahres in Italien.

FALSCHER CASANOVA AUF DEM FEST DER FESTE


Die falsche Madame Pomadour nippt am Spumante in "Harry's Bar", wo der echte Hemingway sich früher betrank. Oder der falsche Casanova auf den Spuren des echten, der hier vor 260 Jahren geboren wurde. Seinerzeit ging Venedig bekanntlich prassend und klatschend unter. Der europäische Adel verjubelte seine Reichtümer meist im ewigen Karneval der Lagunenstadt, weil offenkundig nirgendwo sonst so lustvoll und frivol der historische Untergang einer Epoche gefeiert werden konnte. Die Französische Revolution stand vor der Tür. -

Bella Venezia. Tatsächlich hat der Karneval in Venedig eine fast 900jährige Tradition. Seine größte Zeit dürfte er wohl vor der Renaissance erlebt haben. Die glanzvollen Feste der Medici in Florenz galten als Vorbild der Karnevalsfeiern. Gelage, Maskentreiben, Tierhatzen und Feuerwerke waren sein unverkennbares Markenzeichen. Im Jahr 1797 besetzte Napoléon Venedig und verbot kurzerhand den Karneval. Erst vor 14 Jahren fanden sich 120 Personen in Venedigs Compagnia della Calza zusammen, um der ursprünglichen Karneval-Idee neues Leben einzuhauchen.

Karneval in Venedig '92 - die alten, ehrwürdigen Figuren, die beispielsweise in Gemälden von Canaletto verewigt worden sind, leben in ihren Kostümen maßstabsgetreu wieder auf. Aber auch das ist der Karneval - die Rückbesinnung auf bodenständige Werte und Traditionen. Vorbei sind die Zeiten, in denen scheinbar alles machbar schien, schrill, vulgär, gesponsert von CocaCola, laserbestrahlt von Philips, mit jaulender Musik beschallt. - Venedig war drauf und dran, seinen Ruf zu ruinieren, ein "mostro" (Ungeheuer) zu werden. Etwa 200.000 Rockfans um die perfekte Licht- und Tonmaschine Pink Floyd verwandelten den Markusplatz zur Abfallhalde, auf dem ein Heer von Obdachlosen seine Schlafstätte gefunden hatte. Passé sind jene Jahre, in denen großflächige Bühnen, Diskotheken, Verstärker, Neonlichter, Pommes frites, Rotwein und Schlafsäcke Venedig die Richtung wiesen, erste Drop-out City Europas zu werden. - Wendezeiten.
SEHNSUCHT NACH BESCHAULICHKEIT

Statt grelle Scheinwerfer leuchten wieder wie einst Kerzen auf den Markusplatz. Statt Pink Floyd bilden Kinder in Kostümen aller Länder den größten Friedenskreis, den es je gegeben haben soll. Und weil nun einmal Musik die Sprache ist, die am ehesten ein friedliches Miteinander ermöglicht, spielen über ganz Venedig verteilt 560 internationale Musikgruppen auf; vom Samba, Reggae, Rock 'n' Roll, Rhytm&Blues, Twist bis hin zu Beethoven und natürlich Vivaldi - in Erinnerung an die erste Begegnung mit amerikanischen Länden vor nunmehr 500 Jahren. Mit derlei beschaulich-anmutender Karnevalsstrategie wollen Hotels und Restaurants ihr Tief überwinden. Immerhin mussten sie in vergangenen Jahren einen empfindlichen Rückgang von 15 Prozent an Besuchern verzeichnen. Bekanntlich leben 70 Prozent der Menschen in Venedig vom Tourismus. So ist eines der zentralen Themen "Venedig, Rückkehr zur Zukunft". - "Seit diese Botschaft weltweit die wichtigen Anzeigenblätter beglückt, steigt jedenfalls die Besucherkurve wieder unaufhaltsam nach oben. Für den Karneval '92 waren schon im Dezember vergangenen Jahres alle Hotelbetten ausgebucht. Scheinbar für die Restaurants und Wassertaxifahrer Anlass genung, sich in ihrem Preisgebaren zu Raubrittern zu mausern, gar das Dreifache abzukassieren.

KEIN STAAT - ABER GUTE FERNSEHKULISSE

Überhöhte Preise hin, Karneval Venedig her - eines will sich der markt- und machterprobte Sponsor Silvio Berlusconi aber auf keinen Fall entgehen lassen. Auf sein Geheiß hin entsteht mit Blick auf den Markusplatz eine mit 300 Pumpen nach oben geschossene Mega-Leinwand aus Wasser. Die darauf projizierten Karnevalsbilder sind nicht nur fürs Publikum und für seine privaten Fernsehsender gedacht. Sie sollen möglichst für teures Geld in viele Länder verkauft werden. Ganz nach der Devise: "Italien existiert vielleicht schon nicht mehr als Staat", schrieb amüsiert Andrea Barbato in der Zeitung "Indipendente", "aber es gibt immer noch eine optimale Fernsehkulisse ab."