Montag, 19. November 1990

Im Polit-Theater Deutschland: "Das Schwierigste ist Glaubwürdigkeit"




























 Biografie. - Rita Süssmuth wurde am 17. Februar 1937 in Wuppertal geboren. Nach dem Abitur am neusprach- lichen Gymnasium in Rheine/Westfalen studierte sie Romanistik und Geschichte an den Universitäten Münster, Tübingen und Paris. Das Staatsexamen für das Lehramt am Gymnasium legte sie in Münster an und schloss dort noch ein weiteres Studium in Erziehungswissenschaften, Soziologie und Psychologie an. Im Jahre 1964 promovierte sie zum Dr. phil. und heiratete den Historiker Hans Süssmuth, der später Professor an der Technischen Universität Düsseldorf wurde. Die Süssmuths haben eine Tochter namens Claudia.
Ab 1967 lehrte Rita Süssmuth als Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Ruhr. Im Jahre 1970 wechselte sie als wissenschaftliche Rätin und Professorin an die Universität Bochum und kehrte ein Jahr später - 1971 - als ordentliche Professorin für Erziehungswissenschaften an die Pädagogische Hochschule Ruhr zurück. Schon damals hat sich Rita Süssmuth über den Hochschulrahmen hinaus politisch und gesellschaftlich engagiert. Im Jahre 1977 wurde sie Mitglied der 3. Familienberichtkommisson, 1982 des Bundesjugendkuratoriums. Zudem übernahm sie 1982 die Leitung des Forschungsinstituts "Frau und Gesellschaft" in Hannover. Zwei Jahre später avancierte Rita Süssmuth zur Vorsitzenden der 7. Jugendberichtskommission in Bonn.
Am 26. September 1985 übernahm Rita Süssmuth als Nachfolgerin des CDU-Politikers Heiner Geißler das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit. Konfrontiert mit Aids, war sie es, die in Deutschland eine viel beachtete Aufklärungs- und Vorbeugungskampagne gegen diese Immunkrankheit zu verantworten hatte. Auch forderte Rita Süssmuth einen neuen, möglichst weit gefassten Gesundheitsbegriff für Deutschland und wandte sich gegen die Aufhebung des kassenärztlichen Schutzes bei Abtreibungen.
Im Rahmen einer Kabinettsumbildung am 6. Juni 1986 wurde ihr Ressorts um die Zuständigkeit für Frauenfragen erweitert. Am 9. Juni 1986 wählte die CDU-Frauenvereinigung Rita Süssmuth in einer Kampfabstimmung zu ihrer Vorsitzenden, die sie bis ins Jahr 2001 blieb. Damit zog sie automatisch ins höchste Spitzengremium - Präsidium der Partei ein, obwohl sie erst 1981 der CDU beigetreten ist. Dem CDU-Präsidium gehörte Rita Süssmuth bis ins Jahr 1998 an.
Bei der Bundestagswahl vom 25. Januar 1987 gewann Rita Süssmuth mit klarem Vorsprung ein Direktmandat in Göttingen. Sie war zuletzt (14. Wahlperiode 1998-2002 ) über die Landesliste Niedersachsen ins Parlament gekommen.
Schon am 25. November 1988 musste Rita Süssmuth auf Geheiß von Kanzler Helmut Kohl (1982-1998) das Amt des Bundestagspräsidenten übernehmen. (Ihr Vorgänger Philipp Jenninger (1984-1988) hatte nach einer verunglückten Rede im Parlament zur "Reichskristallnacht" zurücktreten müssen. Damit war Rita Süssmuth die zweite Frau nach der SPD-Politikerin Annemarie Renger (*1919+2008, Bundestagspräsidentin (1972-1976) die dieses zweithöchste Staatsamt bekleidete.
Im März 1991 gerät Rita Süssmuth mit der sogenannten "Dienstwagenaffäre" ins Zwielicht. Danach sollte ihr Ehemann, so der Vorwurf, einen Dienstwagen der Bundestagsverwaltung für private Zwecke benutzt haben. Zudem habe sich Rita Süssmuth mehrere Male mit der Bundesluftwaffe nach Zürich zum Wohnort ihrer Tochter Claudia fliegen lassen. Erst als der Missbrauch aufflog, stellte die CDU-Spitzenpolitikerin ihre Freiflüge ein. Gleichwohl entlastete der Ältestenrat des Bundestages Rita Süssmuth von den gegen sie erhobenen Vorwürfe des Amtsmissbrauchs. Im Jahre 1998 befürwortete Rita Süssmuth vergeblich die Einführung der Frauenquote bei den in der CDU zu besetzenden Parteiämter . Ihr letztes politisches Engagement galt dem Problemfeld "Zuwanderung in Deutschland". Sie gehörte zu der so benannten Kommission, die im Jahre 2001 ihren Bericht vorlegte. Der Titel: Zuwanderung gestalten - Integration fördern.

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Frauen an der Macht
Protokolle einer Aufbruchsära
athenäums programm
by anton hain; Frankfurt a/M
19. November 1990
von Reimar Oltmanns
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Es war eine jener denkwürdigen Redaktionskonferenzen der Illustrierten stern, die sich in meinem Gedächtnis festgesetzt hat und an die mich noch nach Jahrzehnten zu erinnern vermag. Einfach deshalb, weil wohl erstmals der Name Rita Süssmuth hinreichend die Gemüter erregte, er zur sattsamen Belustigung beitrug. Damals hatte der Frauen-Aufbruch noch keinen Namen. Aber immerhin pochte er bereits schüchtern und vereinzelt an die Türe - auch gegen die Schubläden, in denen sich sogleich sämtliche unliebsamen Frauen wiederfanden.
MÄNNER-HOCHBURG DES HOCHMUTS
Im klinkerverputzten Hamburg, der Männer-Hochburg des erkalteten Hochmuts, dort draußen am Affenfels mit Weitwinkelblick auf die anmutige Außenalster, traf sich wie an jedem Montag die stern-Mannschaft, um über Geschichten und etwaige gesellschaftliche Trends künftiger Ausgaben zu befinden - eben über Storys, die das Publikum >von den Stühlen reißen<.
BRANDT UND BUSEN FÜR 1,80
Wir schrieben das Jahr 1977, und der stern schnellte von einer ungeahnten Auflagenhöhe zur nächsten. Die Heftmischung aus, wie es da hieß, "Frischfleisch" (barbusige, möglichst kokett Eis schleckende Mädchen mit üppigen Popos) quasi als Appetithäppchen und Bonner Politik als seriöse Hausmannskost schien sich auszuzahlen - noch dazu unter einem fortschrittlichen Anstrich. "Brandt und Busen für 1,80" betitelte seinerzeit die ARD eine Fernsehreportage über die Illustrierte.
KHAKI-HEMDEN, CAMELSTIEFEL
Wie selbstverständlich bestand die "legendäre Mannschaft" zu über 95 Prozent aus Männern, von denen viele mit Khaki-Hemden und kniehohen Camel-Stiefeln die Redaktion beglückten. Die wenigen Frauen durften damals vornehmlich die Leserbriefe betreuen, Ticker-Meldungen der Nachrichtenagenturen an die "Herren Redakteure" weiterreichen und sich vielleicht zwei Mal im Jahr, über die obligatorischen Kochrezepte samt Horoskop-Spalten hinaus, den "speziellen" Frauenthemen annehmen.
MARKANTE TUGENDEN - SÄRGE ÖFFNEN
Schließlich gehörte es zu den markanten Tugenden dieses wie so vieler Massenmedien, "Witwen zu schütteln" oder "Särge zu öffnen", womit redaktionsintern jene Taktik gemeint ist, den Angehörigen von Katastrophen-Opfern, etwa nach einem Flugzeugabsturz, Fotos plus Vita zu entlocken, falls erforderlich mit Geld. Versteht sich: Männer-Sache.
STALLKNECHTE DES SCHECKBUCHS
Gleichwohl leistete sich die Redaktion Damen, die so gar nicht zu dem hier vorherrschenden Frauen-Suchbild passten. Frauen, die problemlos die von den Männern aufgestellten Leistungskriterien erfüllten und es mit ihrer vorzüglichen Schreibe mit jenen vom Aufstieg geprägten Stallknechten des Scheckbuch-Journalismus leicht aufnehmen konnten. Aber auch Frauen, die mit ihrem Wissen und ihrer emotional durchlebten Vorstellungskraft den Zeitläuften der siebziger Jahre weit vorauseilten.
VOREINGENOMMENHEITEN
Immer wenn die Redakteurin Christine Heide in den montäglichen Themenkonferenzen das Wort ergriff, standen die auf unterschwelligen Voreingenommenheit rollenden Schubladen schon halboffen. Dabei wurde sie in der Männer-Runde verhalten geduldet. Jeder wusste nämlich, dass Christine Heide vor einigen Jahren einen Selbstmordversuch unternommen hatte, und jeder kannte einigermaßen ihre Beweggründe für diese Verzweifelungstat. Folglich war ein "pfleglicher Umgang" von oben verordnet worden.
SENSATIONSFANG UND SKANDALE
Wie schon so viele Frauen vor ihr war auch sie in Bonn als Korrespondentin gescheitert. - Gescheitert als einzige Frau in einem auf Sensationsfang und Skandale abgerichteten Büro der Männer. Als unbefangene Informationsschlepperin sollte sie auf Geheiß der Redaktionsleitung die Pforten zu den Mächtigen öffnen. Das Bonner stern-Büro glich einem Offizierskasino. Hier gaben Männer den Ton an, die bedingungslos teilhaben wollten an der sie elektrisierenden Omnipotenz, um selber als mächtig wie einflussreich zu gelten. Bonn machte Leute. Dieses Ziel lieferte die Rechtfertigung für nahezu alles - Scheckbuch, Dossiers über Politiker, wer mit wem, Bars , Puffs, Absteigen, Aufsitzen, Besäufnisse.
KEIN MÄDCHEN-PENSIONAT
Zweifeln, lähmende Verzagtheiten wurde stereotyp mit dem Standardspruch begegnet: "Wir sind hier doch nicht in einem Mädchen-Pensionat, sondern bei der größten Illustrierten Europas, Frau Heide, Sie sind doch freiwillig und selten gut bezahlt hier. Wenn es Ihnen nicht passt, können Sie getrost gehen. Keiner hält Sie."
SELBSTMORDVERSUCH
Nach ihrem Selbstmordversuch ging sie fort von Bonn und in die Zentale nach Hamburg. An jenem besagten Montag hockte Christine Heide vorn am Konferenztisch und musste ihre Themen eloquent "verkaufen". Sie habe eine Frau kennengelernt, berichtete sie, deren Zukunftsskizzen atemberaubend und faszinierend seien. Der weibliche Aufbruch aus der gesellschaftlichen Verkrustung werde in den Hinterköpfen schon vorbereitet. Wenn nur ein Bruchteil von ihren Vorstellungen Wirklichkeit werden sollte, dann habe das Zeitalter der femininen Kultur, der weiblichen Identität begonnen. Den Deutschen stehe eine irritierende, nämlich stille Revolution ins Haus. Bis zum Jahr 2000 soll die Gleichberechtigung auch im täglichen Leben als gleiche Beteiligung im wesentlichen durchgesetzt., die "Partnerschaft 2000" erreicht sein. Die Bundesrepublik werde sich Stück um Stück radikal verändern. Der Abschied von der fragwürdigen Männer-Gesellschaft sei fest vorprogrammiert und nur noch eine Frage der Zeit.
VISIONEN, ÄNGSTE, PERSPEKTIVEN
Die Frauen, die ebenso dächten und bislang eher im verborgenen arbeiteten, ständen schon in einem regen Kontakt mit besagter Frau. Sie sei zwar keine bekannte Politikerin in Amt und Würden, aber eine Erziehungswissenschaftlerin, eine Professorin, zudem Mitglied der 3. Bonner Familienberichtskommission: Rita Süssmuth. Sie wolle einen großen Bericht über diese Frau verfassen - über ihre Visionen, Ängste und Perspektiven.
"GANZEN WEIBERKRAM"
Überzeichnungen sind selten ein taugliches Mittel. um Stimmungen einzufangen, verkehren sie sich doch oft zum Klischee. Die stern-Macher hatten gleich den bizarren Einfall, den "ganzen Weiberkram" in einer Doppelseiten-Optik abzufrühstücken. Ohne aufreißende Fotos läuft hier eben nichts. Es galt, den sich zaghaft ankündigenden Frauen-Aufbruch, das emanzipatorische Lustprinzip und die Vermännlichung der Weiblichkeit in einem Bild "appetitlich" einzufangen. Ergo sollte ein Leopard-Panzer der Bundeswehr als Phallussymbol die Stärke des Mannes symbolisieren - Uschi Obermaier, das Fotomodell aus der Berliner Kommune K 1 (Politik, Sex, Musik, Drogen 1967-1969), ihre Brüste zeigen und Rita Süssmuth mit einem Victory-Zeichen vor der Kanone posieren. Titel: Wir kommen ganz sicher. - Stern-Stunden.
FERNSEH-STUDIO "ZAK"
Entmutigt zog Redakteurin Christine Heide von dannen. Die Zeit schien offenkundig noch nicht reif zu sein, und aus ihrer Story wurde nichts. - Fehlanzeigen, wie sie viele in diesem Blatt. - Elf Jahre später begegnete ich - per Zufall - Rita Süssmuth zum ersten Mal. Wir trafen uns am 9. September 1988 im Fernsehstudio des Westdeutschen Rundfunks in Köln. Die Redaktion zak - des flott gemachten Wochenrückblicks - hatte uns unabhängig voneinander zu Live-Gesprächen eingeladen. Aus der engagieren Wissenschaftlerin von einst war längst die vielbeachtete Bundesministerin für Familie, Frauen und Gesundheit geworden - eine Frau mit einer in dem von doppelbödiger Vorsicht geprägten Bonn seltenen Unbefangenheit. Sie war gerade von einer zweiwöchigen USA-Reise zurückgekommen. Eingehend hatte sich Rita Süssmuth in San Francisco, Washington und New York über die Methadon-Programme informiert. Beeindruckt und nachdenklich war sie, "Menschen zu erleben, die vom Heroin loskommen, wieder eine Chance haben". - "Nein", sagt sie, "der Staat macht sich nicht zum Dealer. Er holt Leute aus der kriminalisierten, ausweglosen Szene, wie es harte Entzugstherapien niemals vermochten. Die Akzeptanz von Methadon bei Politikern ist gewachsen."
MÖLLEMÄNNER DIESER REPUBLIK
Ich war in die Sendung geladen worden, um ein wenig über die Beweggründe für mein damals erschienenes Buch "Möllemänner oder die opportunistischen Liberalen" (1988) zu erzählen. Zweifelos symbolisiert Bildungsminister Jürgen W. Möllemann (*1945+2003) , als "Spitze des Eisbergs" sozusagen, für mich den langsamen, unaufhörlichen Abgesang einer überlebten politischen Männer-Kultur, die charakterisiert ist von Karrieresucht, Geschäftsbaren, Darstellungsmanie, einem bedrohlichen Maß an Austauschbarkeit und einer nur mühsam versteckten Frauen-Feindlichkeit. Kurzum: Seither hat die Bonner Männer-Welt für mich ein Synonym: Möllemann, und ein Motto: "Ich bin ja schon das, was ich einmal werden will." - Bonner Männer-Karrieren.
NEUES POLITIK-GEFÜHL
Wir saßen, frisch geschminkt fürs Fernsehpublikum, im Nebenraum des Studios und warteten auf unsere Auftritte. Spitzbübisch schaute mich Rita Süssmuth an. Es war schwer, sich ihrem Charme zu entziehen. Irritiert war ich, weil Rita Süssmuth gar nicht zu dem Bild passen wollte, das ich mir im Laufe der Jahrzehnte - enttäuschungsfähig wie ich bin - von der Politiker-Klasse gemacht hatte. Widerstrebend musste ich mir schließlich eingestehen, dass diese Frau mir ein neues Gefühl für Politik, einen anderen Zugang als die ausgetretenen Trampelpfade nach Bonn und anderswo - eben auch Zukunftsthemen vermittelte.
Ihre Sorge sei, so Rita Süssmuth, dass man als Politikerin Gefahr laufe, zunehmend vorsichtiger zu werden, zu verstummen oder nur noch Allgemeinplätze von sich zu geben. Das wolle sie auf jeden Fall vermeiden: deshalb sei sie nicht in die Politik gegangen, um sich als Charaktermaske bis hin zur eigenen Unkenntlichkeit irgendwo und irgendwann wiederzufinden. - Frauen-Aufbruch.
KRISEN-GEBELLE
Schnell wurde mir klar, warum diese konservative Frau in der Popularitätsskala der Bevölkerung auf den vordersten Plätzen rangiert, warum Rita Süssmuth ein bundesdeutsches Medienereignis ist - und das schon seit Jahren. Rita Süssmuth heißt die indirekte, konsensfähige Antwort vieler Menschen auf Vertrauensbrüche, Verlogenheit, Bereicherung, Zynismus und gockelhaftes Krisen-Gebelle in Parlament und Parteien. Dahinter steht die kaum artikulierte, düstere, weitverbreitete Vorahnung vieler von einem gesteuerten Leben - in einer Ära, in der politischer Gestaltungswille und Veränderungsvorgaben kaum noch spürbar sind. Das Grundgefühl eines sterilen, verplanten und vorbestimmten Lebens hat immer weitere Teile der Bevölkerung erfasst. Vom bedrückenden Parteispendenskandal um das Haus Flick (1981-1984) über den Kieler Waterkantgate des damaligen CDU-Ministerpräsidenten Uwe Barschel (*1944+1987) bis hin zur niedersächsichen Spielbankaffäre in den 1980er und 1990er Jahren oder den illegale gelieferten Blaupausen für den U-Boot-Bau an Südafrika (1990) - dergleichen Machenschaften steigerten zusehends die Entfremdung zwischen Wählern und Gewählten. - Die Stunde der Frauen.
AUSSENSEITERIN
Der politische Außenseiter-Start der Rita Süssmuth vollzog sich in einem politischen Klima, das von Verdruß statt Vertrauen geprägt war. Noch im Jahre 1989 ermittelte das Bielefelder Meinungsforschungsinstitut Emnid rapide Einbußen um Urteilsbefund der Bevölkerung, wenn nach Bonn mit seinen Institutionen gefragt wurde. Der Bundestag sackte in diesen Jahren im Ansehen von 74 auf 60 Prozent ab - die Bundeswehr von 75 auf 50 Prozent, die Bundesregierung von 66 auf 40 Prozent und die Parteien gar von 45 auf 35 Prozent. Es wird den Zeithistorikern überlassen bleiben, die den Frauen-Aufbruch auslösenden Faktoren nach ihrer Bedeutung zu ordnen. Unumstritten ist schon jetzt, dass die Männer ihre Positionen nicht freiwillig geräumt haben - sie mussten, um ihrer Partei beim weiblichen Wählerpotential eine Perspektive zu eröffnen.
LICHTJAHRE ENTFERNT
Tatsächlich liegt das politische Machtzentrum Bonn - und auch später Berlin - um Lichtjahre vom Rest der Republik entfernt. Keine nennenswerte gesellschaftliche Umwälzung nahm jemals in einer Hauptstadt ihren Ausgangspunkt. Ob in Frankfurt, Hamburg, München, Berlin oder in den Ballungszentren des Ruhrgebietes - Frauen waren hier in ihrer Selbst- und Mitbestimmung, in ihren Berufen und gesellschaftlicehn Positionen erheblich weitergekommen. Einfach deshalb, weil ohne sie die Alltagsbewältigung nicht mehr klappte. Begleitumstände, die Männer zähneknirschend zur Kenntnis nehmen mussten - Fakten, die Frauen-Bewusstsein schafften.
RANDGRUPPEN
So glaubten nach einer Erhebung der Dortmunder "Gesellschaft für Sozialforschung" im Jahre 1988 insgesamt 44 Prozent der Bevölkerung, dass die Politik insgesamt besser werden würde, wenn dort mehr Frauen sich engagierten. Was in den sechziger Jahren als Randgruppenerscheinung begann, hatte mittlerweile nachhaltig ein neues Denken, ein neues Rollenverständnis der Geschlechter miteinander geprägt. Nur in Bonn verstanden es die Herren aus Bundestag, Lobby, Journalismus und Bürokratie, ihre Maßgeblichkeit zu konservieren.
FEMINISMUS DER CDU
An jenem Abend im Kölner Fernsehstudio fiel mir ein Aufsatz von Barbara Sichtermann, "Der Feminismus der CDU" ein. Daran schrieb sie: "Die Frauenbewegung will sich mit den Männern anlegen, weil sie sieht, dass es nicht anders geht, und sie tut es längst; die CDU will die Geschlechtsfehde mit ihrem Konzept von Partnerschaft unterlaufen, sie stellt sich vor, dass, wenn Frau und Mann teilen (Erwerbsarbeit, Hausarbeit, Lohn), beide zufrieden sein und die Anlässe für störenden Streit entfallen werden."
MISSIONARIN
Rita Süssmuth wirkte auf mich wie eine Missionarin in Sachen Feminismus. Modern wollte sie sein, modern und aufgeschlossen: Das bedeutet für sie, dass die Union mit langgehegten Tabus bricht, dass die Partei wieder wählbar wird für junge Frauen mit ihren emanzipatorischen Lebenskonzepten, für Teile der Frauenbewegung. Das, was dort vorgedacht, vorgekämpft worden war, wollte Rita Süssmuth Stück um Stück mit der konservativen Welt verzahnen, ohne freilich die Herzstücke des CDU-Panoramas aufzugeben.
KÄRRNERARBEIT - MÄNNER-PARTEI
"Wir Frauen müssen uns zur Macht bekennen und endlich mehr Machtstreben entwickeln. In den vierzig Jahren seit der Gründung der Bundesrepublik hat sich niemand wirklich darüber aufgeregt, dass dies eine Demokratie ohne Frauen ist.- Wir sollten uns stärker und gezielter als bisher Einfluss in Parteien, im Parlament und in den Verbänden erkämpfen", bemerkte sie geschwind und verschwand im gleißenden Kamera-Licht. In der Tat - Rita Süssmuth steckte schon mittendrin in ihrer Kärrnerarbeit für die Männer-Partei.
FRAGILE BESCHAFFENHEIT
Ich wusste aus meinen Jahren in Bonn nur zu gut um die fragile seelische Beschaffenheit mancher Politiker, die sich mit Haut und Haar einer Sache verschrieben hatten. MdB's, die sich wie in Trance verausgabten, keine Distanz mehr zu sich und ihrem Anliegen suchten und fanden. Menschen, die im Bonner Treibhaus weggefegt wurden. Grenzgänger nannte ich diese Art von Politikern, die sich permanent herausforderten - und oft auf Nimmerwiedersehen kurzerhand von der Bildfläche verschwanden.
DING-DONG-ATMOSPHÄRE
Mir schien Rita Süssmuth sehr gefährdet in Bonn. Sie gehört für mich zum sich selbst aufreibenden Typus, der in diesem Milieu nur verlieren kann. Vielleicht will sie deshalb immer dort noch gewinnen, wo schon alles gewonnen ist. Dabei klagte sie heftig über das Politik-Verständnis dieser Jahrzehnte, so als hätte sie erst reichlich verspätet bemerkt, auf was sie sich tatsächlich eingelassen habe, wo sie sich nunmehr befinde, nämlich in der Trutzburg überlebter Verhaltensweisen: Bonn. Dieses Bundes-Bonn mit seiner zuschnürenden Ding-Dong-Atmosphäre war für Rita Süssmuth eine unbekannte Größe. Hinein in die eingeschliffene, oft falsche Erhabenheit. Selbst die Deklarationen und Debatten entblätterten sich als ein ausgeleiertes Politik-Schauspiel. "Aber so", murmelte Rita Süssmuth. "sieht halt bisher das Muster der Politik aus. Man muss auf alles eine Antwort wissen; man darf keine Fehler zugeben; man muss alles schon gewusst haben, obwohl man gar nichts gewusst hat." - Wir verabredeten uns in absehbarer Zeit in ihrem Bonner Ministerium.
KONSERVATIVE MOGELPACKUNG ?
Auf der nächtlichen Rückfahrt vom Kölner Fernsehstudio nach Frankfurt am Main sann ich lange über die Frage nach, ob Rita Süssmuth nicht in Wirklichkeit eine "konvervative Mogelpackung" sei - eingekauft, um die innerparteiliche Intransigenz zu beheben und eine ungläubige Öffentlichkeit wieder zu gewinnen, eingekauft für den Stimmenfang. Mein Gefühl sprach dagegen, meine sachlichen Anhaltspunkte hingegen dafür. Auch für mich waren der Umgang mit Politikerinnen samt intensiver Recherchen in einem weiblich dominierten Umfeld Neuland. An eine durchgängig betriebene Aufbruchs-Ära der Frauen wagte ich freilich zu Beginn meiner Bucharbeiten noch nicht zu denken. - Noch nicht.
NOTNAGEL IM SACHZWANG-STAAT
Aus unserer Verabredung im Ministerium wurde nichts. In jener Phase ihres politischen Daseins wollte und konnte Rita Süssmuth sich offenkundig noch nicht eingestehen, was ihr Kritiker bereits nachriefen, dass sich nämlich der Umbruch exakt an ihrer Person entzünde. Sie sei bei allem Respekt für ihre politischen Veränderungsabsichten letztlich nur ein hin und hergeschobener Notnagel rollen-verunsicherter Männer, die an der Wiederherstellung ihrer einst tragfähigen Bühne zimmern. Überall dort, wo due Blockade der Regenerationsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie durch alteingesessene Politiker bis zur Perspektivlosigkeit jäh sichtbar wurde, der visionslose Sachzwang-Staat als opportunistischer Selbstzweck deutlich wurde, wurde Rita Süssmuth gezielt ins Gespräch gebracht, hingeschickt, um zu kitten, was noch notdürftig zu verkleistern war. Rita Süssmuth als therapeutisch eingesetzte Variante des deutschen Konservatismus bei seiner Suche nach Festigung des starken Staates. Eines Staates, der im Rahmen des Grundgesetzes alles andere sein darf als ein ramponierter Alleinunterhalter.
VORSCHUSS-LORBEEREN
Kein Debütant in der politischen Arena wurde in der bundesdeutschen Geschichte jemals mit derart emphatischen Vorschusslorbeeren, Hoffnungen und Erwartungen willgekommen geheißen. "Komet über Kohls neuer Frauenwelt" - "Bonns neues Glanzstück" - "Des Kanzlers Geheimwaffe". dröhnte es monatelang. "Süssmuth-benommen" , in den Printmedien. Selbst die Abendprograme von ARD und ZDF räumten kostbare Sendezeit ein - ein Novum, und das "nur" für eine Frau namens Süssmuth. Die Dramaturgie der Verfall-Ereignisse hatte eine personifizieren Ausweg parat, hon diese Frau ganz nach oben. Ob als CDU-Parteivorsitzende, als Ministerpräsidentin oder gar als erste Kanzlerin der Republik (CDU-Politikerin Angela Merkel 2005) - öffentlich gehandelt wurde Rita Süssmuth seinerzeit schon nahezu für alle Ämter.
ZWEITHÖCHSTE STAATSAMT
Unverrichteter Dinge war Rita Süssmuth über Nacht aus ihrem Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit "versetzt" worden - erwählt zur Bundestagspräsidentin. Ihr Vorgänger im Amt, Philipp Jenninger (1984-1988), war Opfer des typischen Bonn-Hospitalismus geworden und konnte zunächst überhaupt nicht begreifen, was eigentlich geschehen war. Er hatte sich in einer seiner Reden zum 50. Jahrestag der November-Progome 1938 am 10. November 1988 nicht ausreichend deutlich von der Nazi-Herrschaft distanziert, sondern von einem "Faszinosium" als Ursache für die Begeistung der Deutschen für den Nationalsozialismus lamentiert. Rausschmiss des CDU-Rechtsaußen. Ämterwechsel.
BONN - BAUM UND BORKE
Rita Süssmuth indessen wollte unter keinen Umständen ihre begonnende Arbeit im Ministerium stehen und liegen lassen, über Nacht alles über Bord werfen. Sie fühlte sich "wie zwischen Baum um Borke". - "Ich frage mich, ob es überhaupt noch einen Sinn macht, auf diese Weise weiterzuarbeiten, beklagte sie sich beim damaligen CDU-Generalsekretär Heiner Geißler (1977-1989). Als Helmut Kohl von ihrem Widerwillen erfuhr, gab es mahnende Worte, die kaum Widerspruch zuließen. Rita Süssmuth fügte sich. Helmut Kohl hob seinen Zeigefinger und meinte damit, sie solle endlich das Einmaleins Bonner Politik beherzigen.
DURCHSETZEN, DURCHBOXEN ... ...
Vieles wollte Rita Süssmuth als erste Frauen-Ministerin des Landes bewegen, durchsetzen, durchboxen, in ungewohnte Bahnen lenken. Das sei schließlich der einzige Grund gewesen, weshalb sie sich überhaupt auf die Politik eingelassen habe - im Kabinett diese "riesige Chance für die Frauen zu nutzen". Einiges sprach zu ihren Gunsten , dass es ihr gelingen könne. Doch die Etappen ihrer politischen Alltagsarbeit lesen sich wie der Weg einer Frau, die sich aufgerieben hat, die fast schon zermahlen worden ist in der Bonner Mühle. Männer meldeten sich mit Urteilen über Rita Süssmuth zu Wort, als sei sie schon zum Blattschuss freigegeben. Der in der Bundespolitik gescheiterte einstige CDU-Generalsekretär Kurt Biedenkopf (1973-1977) gab über sie zu Protokoll: "Sie ist Opfer der Anfangserwartungen geworden. Sie wird jetzt eingeholt von den Alltagsschwierigkeiten, den Zwängen zum politischen Kompromiss und den Abnutzungseffekten, die damit verbunden sind." Und Arbeitsminister Norbert Blüm (1982-1998) frohlockte süffisant: "Die verwechselt PR mit Politik. Sie wird überall gefeiert und denkt, das wäre schon Politik. Das ist es eben nicht." - Männerbünde.
FEHLSCHLÄGE ÜBER FEHLANZEIGEN
Lange mühte sich Rita Süssmuth um mehr Zuständigkeiten ihres Hauses. Aber weder erhielt sie das Initiativrecht (mit dem sie frauenfreundliche Gesetzesvorhaben bewirken kann) noch das Vetorecht, um frauenfeindliche Maßnahmen zu stoppen. Sie bekam lediglich das "Vertagungsrecht" zugesprochen, um eine Frauen benachteiligende Politik zu verzögern. Sie wollte die Pille auf Krankenschein einführen. - Fehlanzeige. Sie wollte - entsprechend den EU-Richtlinien - spürbare Strafen jenen Arbeitgebern in Aussicht stellen, die immer noch Frauen diskriminieren; dafür sollte sogar die Beweislast umgedreht werden. - Fehlanzeige. Sie wollte durchsetzen, dass Frauen für ihre oft jahrelange Pflege von Angehörigen einen Rentenanspruch erwerben. - Fehlanzeige. Sie wollte im Rahmen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf das monatliche Erziehungsgeld von derzeit 600 Mark erhöhen. - Fehlanzeige. Sie wollte die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe stellen. - Fehlanzeige. Sie wollte eine auch für Frauen akzeptable Lösung für das Beratungsgesetz des Abtreibungsparagrafen 218 errreichen. - Wiederum Fehlanzeige. Und trotzdem. "Dass ich meine Arbeit nicht weitermachen kann, ist bisher der größte Misserfolg meiner Zeit hier in Bonn."
VILLA, BUTLER, CHAUFFEUR
Ich sollte noch mehrere Male - nicht ins Ministerium, sondern ins Bundeshaus nach Bonn fahren, um Rita Süssmuth zu sprechen. Wir treffen uns in ihrem provisorischen, weitflächigen Büro im ehemaligen Bonner Hotel "Tulpenfeld", 5. Stock. Zimmer 505. Weißgestrichene Wände, großer Empire-Schreibtisch, darauf Nachschlagewerke, ein Organisationsschema der Bundeshaus-Verwaltung. Akten, ein Schälchen Gummibären. Ihre Insignien als Bundestagspräsidentin: 290.000 Mark Jahreseinkommen, kostenlose Villa am Rhein, Butler, grauer Dienstmercedes 380 SE mit Chauffeur. Die ersten negativen Folgen: Der Bonn-Streß schlägt ihr auf die Augen - beginnende Netzhaut-Ablösung als Folge von Hektik und Kreislaufproblemen.
TRAFFIC ON THE ROAD - IRGENDWO
Mir gegenüber sitzt eine 53jährige Frau, auffällig müde, beherrscht, mit Ringen unter den Augen. In den vergangenen achtzehn Nächten hatte sie meist nur für drei Stunden Schlaf gefunden. Ansonsten trafov on the road irgendwo in Deutschland, irgendwo auf dem Erdball, mal mit Helmut Kohl, mal mit Ernst Albrecht, dem CDU-Ministerpräsidenten von Niedersachsen (1976-1990), mal mit Georg Bush (US-Präsident 1989-1993) oder Michail Gorbatschow (Staatspräsident der UdSSR 1985-1991), mal als "Grünkohl-Königin". Zerfließende Grenzen zwischen Individualität und Identität auf der einen, Entäußerung und Entwirklichung bis zur Unkenntlichkeit auf der anderen Seite: Folgen der Zentrifugalkräfte im Treibhaus Bonn. Fast entschuldigend sagt sie zu mir: "Ich will doch keine Frau sein, die in die Politik kommt und bald wieder geht. Dann würde es doch nur heißen: wieder eine, die gescheitert ist. Das will ich nicht."- Leistungsdruck.
IDEEN-NOT, VERSAGER-ÄNGSTE
Sie ist eine Frau, die die Ausnahmesituation braucht, die sich deshalb unablässig unter Starkstrom setzt. Unruhig rutscht Rita Süssmuth auf dem Stuhl hin und her. "Wir dürfen nicht länger auf Geduld setzen. Wir sind es leid, durch politisch kurzsichtige, am Mandatsbesitz klebende Kandidaten unserer Partei an der Verwirklichung unserer Ziel gehindert zu werden." Sie wird auch zornig - nicht über die anderen, sondern über sich selber. "Als ich vierzehn Tage im Amt war, erlebte ich etwas für mich Ungewöhnliches. Ich hatte plötzlich das Gefühl, mir gehen die Ideen aus." - Versager-Ängste.
WEIBLICHE ZERRISSENHEIT
Bei meinem letzten Besuch im März 1990 in Bonn sprach Rita Süssmuth erstaunlich oft von der "weiblichen Zerrissenheit" dieser Jahre und vom trotzigen Durchstehen. Ich fragte mich, ob sie sich damit selber meine. Kein Zweifel, sie dachte an sich. "Dass das Geschäft in der Politik so schwer ist, habe ich nicht glauben wollen. Jetzt weiß ich es." Anflügee von Ermattung bei ihr, Ratlosigkeit bei mir, wollte ich doch ein Buch über die Aufbruchs-Ära der Frauen schreiben.
KINDERLAND-VERSCHICKUNG
Sie ahnte, was auf sie zukam und ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen konnte. Längst war es ihre Rolle, "Männer-Lücken" in der Partei zu schließen. Kanzler Kohl nannte das lapidar "Kinderlandverschickung". Sie sollte zurückkehren an jenen Ort. wo ihr feministischer Aufbruch am "Institut Frau und Gesellschaft" seinen Ausgangspunkt genommen hatte: nun als Sozialministerin in Hannover, recht bald als erste Regierungschefin eines Bundeslandes - ausgestattet mit der föderalen Kompetenz in der Sozial-, Familien- und Bildungspolitik. In Niedersachsen zog sie mti dem Slogan durchs Land: "Kinder brauchen mehr als gute Worte" - womit sie tatsächlich alle Männer im Visier hatte und nicht nur jene in Bonn. Die CDU erlitt eine Wahlniederlage, und Rita Süssmuth blieb in Bonn.
VERSCHLEISSPROZESSE
"Wenn eine Partei Zukunft haben will, dann entscheidet sich das mehr denn je daran, wie sie mit Männern und Frauen in der Partei umgeht und ob die Frauen erleben, dass sie ernst genommen werden mit ihren Problemen, mit ihren Bedürfnissen und - ich unterstreiche - mit ihren Fähigkeiten." Rita Süssmuth im November 1987. Für die neunziger Jahre will sie dem nichts hinzufügen. - Verschleißprozesse.






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GLAUBWÜRDIGKEIT DER RITA SÜSSMUTH:
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"In jüngster Zeit sagt man mir nach, ich hätte ein erotisches Verhältnis zur Macht entwickelt. So ein Satz irritiert mich nicht, wenn er mich auch nachdenklich stimmt. Ich habe nämlich noch nie über Männer gehört, dass sie ein "erotisches Verhältnis" zur Macht hätten. Die Diskriminierung, die daraus spricht, ist eindeutig: Die Verbindung von Frauen mit Macht scheint durchgängig negativ besetzt zu sein, während es geradezu selbstverständlich ist, Männer und Macht in einem Atemzug zu nennen. Da muss ich jedoch klar sagen: Ich wäre nicht in Bonn, wenn ich nicht Einfluss nehmen, das heißt letztlich Macht ausüben wollte.
Entscheidend ist, ob jemand Macht lediglich aus Machtwillen für sich beansprucht, also Macht quasi als Selbstzweck, oder - das ist meine Sicht - ob jemand etwas durchsetzen , inhaltlich etwas für die Menschen bewirken will - so jemand braucht dazu Macht. Das sage ich gerade den Frauen: Wenn ihr glaubt, politisch tätig sein zu können ohne reale Macht, dann gebt ihr euch einem Trugschluss hin. Ihr müsst einflussreich sein wollen und eure Positionen geltend machen, denn anders könnt ihr eure Ziele nicht verwirklichen. Heute ist es dringender denn je, sich darüber im klaren zu sein.
Natürlich fragte ich mich zu Anfang meiner politischen Tätigkeit in Bonn oft, was habe ich als Wissenschaftlerin ausgerechnet in der Politik verloren? Ist das nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil ich keine politische Erfahrung habe? Mein Wechsel von der Wissenschaft in die Politik war nicht geplant. Ich konnte mich darauf nicht systematisch vorbereiten. Aber es gab eine Verbindung zwischen beiden Bereichen, die diesen Weg nicht ausschloss.
Mehrere Jahre hatte ich im Grenzgebiet zwischen Wissenschaft und Politik gearbeitet. Seit dem Jahre 1982 führte ich am "Institut für Frau und Gesellschaft" in Hannover Untersuchungen durch, bei denen es zentral um die Benachteiligung von Frauen ging sowie um die Möglichkeiten weitreichender Veränderungen. Meine wissenschaftliche Arbeit war in diesem Sinne schon immer angewandte Forschung und auf politische Umsetzung angelegt. Das gilt auch für meine Mitarbeit beim Familienministerium seit 1971 und für mein Engagement am Familienbericht der Bundesregierung in den Jahren 1976/1977. Damals stellte sich mir die konzeptionelle Aufgabe, wie eine Politik aussehen müsse, die die Benachteiligung der Familien nicht in Kauf nimmt, sondern abbaut.
Als ich dann das Angebot erhielt, in die Politik zu gehen, verband ich damit die Erwartung , hier konkret etwas für Frauen und Familien umsetzen zu können. Es ging für mich nicht un die Macht als solche. Zwei Überlegungen drängten sich mir auf, die für meine Entscheidung, rein in die Politik: ja oder nein, wichtig waren. Also, welche Risiken sind für mich, die ja über keinerlei politische Erfahrungen verfügtem nit einem Engagement in der Politik verbunden. Der andere Vorbehalt hing mit der Tatsache zusammen, dass ich dem Institut sehr verbunden war, das ich mit einer Gruppe von Frauen aufgebaut hatte.
Dieses Institut war das erste in der Bundesrepublik, das sich intensiv mit Problemen von Frauen in der Gesellschaft befasste. Wir hatten sehr klein angefangen, mit nur sechs Mitarbeitern. Als mein Ruf nach Bonn kam, befanden wir uns am Ende des dritten Jahres - mit nunmehr 26 Angestellten, und der Durchbruch schien geschafft. Die Arbeit machte mir sehr viel Freude. Hier wusste ich, was ich konnte. Der Tatbestand, dass Frauen benachteiligt sind, lag auf dem Tisch. Unser zentraler Ansatz war, Frauenforschung von der Patriarchenforschung abzugrenzen, so dass auch deutlich wurde, welche politischen Maßnahmen zu ergreifen waren.
Ich war mit Begeisterung bei der Arbeit und fühlte mich wie eine Pionierin. Wir waren ein kleines, stark motiviertes Team, das den Erfolg des Instituts wollte. Oft haben wir abends stundenlang um Konzeptionen gerungen. Wir arbeiteten selten allein, fast immer im Team. Je kleiner ein Institut, desto effektiver ist es. Inhalte bewegten uns - nicht die Frage, wie am besten verwaltet wird. Es war eine produktive und für meinen frauenpolitischen Standpunkt sehr wichtige Ära. Ein Abschnitt, in dem ich mich in die Frauen-Familien-Problematik vertiefte und mir einen Wissensfundus aneignete, mit dem ich in der Politik weiterarbeiten, auf den ich zurückgreifen konnte. In dieser Zeit wurde meine frauenpolitischen Positionen entschiedener, klarer. Das Wort kompromisslos wäre in diesem Zusammenhang nicht richtig. Denn wir müssen ha immer Kompromisse eingehen. Jedenfalls bin ich seither zunehmend weniger bereit, mal hier, mal dort immer ein bisschen nachzugeben. Diese Standortfindung half mir später in der Politik gegen harten Widerstand vielerorts. Dort kann man nicht einfach Türen aufmachen und sich dann sagen, jetzt habe ich mein Ziel erreicht. Kurzum: Ich wusste, wohin ich ging, auf was ich mich einliess und was ich wollte.
Fast alle Themen, die wir wissenschaftlich untersuchten, wurden, um einige Jahre zeitversetzt, zentrale gesellschaftspolitische Anliegen. Wir hatten Problemfelder theoretisch aufgearbeitet und auf Handlungsbedarf hingewiesen, was dann erst viel später politisch umgesetzt wurde: die Forderung nach flexiblen Öffnungszeiten für Kindergärten, Studien über die Situation von Frauen im ländlichen Raum, sowohl innerhalb der Familie wie auch im Arbeitsbereich, umfangreiche Untersuchungen über Frauen als Selbständige, über Mütter als Alleinerziehende, über Rehabilitation im Arbeitsleben und über Ehescheidungen und ihre Folgewirkungen.
Die Initiative zur Institutsgründung ging von der CDU-Frauen-Union aus, vornehmlich von Helga Wex ( *1924+1986, Vorsitzende der CDU-Frauen-Union 1971-1986). Damals drückte die CDU/CSU in Bonn die Oppositionsbänke. Als meine Vorgängerin im Vorsitz der Frauen-Vereinigung hatte sie sich an alle Bundesländer gewandt, auf der Suche nach einer Landesregierung, die dieses Institut unterstützen würde. Niedersachsen wurde im Jahre 1982 Geldgeber. Die CDU-Frauen-Union war weder direkt noch indirekt beteiligt. Es sollte ja kein parteipolitisches Institut sein, sondern offen für alle frauenpolitischen Richtungen. Darauf habe ich besonderen Wert gelegt. Wenn auf ein Forschungsinstitut erst einmal der Verdacht fällt, parteipolitisch abhängig zu sein, dann verliert es jegliche Reputation. Das führte zwar manches Mal zu Spannungen mit der von Ernst Albrecht geführten Landesregierung (1976-1990) - trotzdem.
Der für das Institut zuständige Sozialminister Hermann Schnipkoweit (1976-1990) - früher Arbeiter im Braunkohlerevier - hätte sich nicht träumen lassen, ausgerechnet mit Frauenforschung mal etwas zu tun zu haben. Als wir uns das erste Mal trafen, hatte ich das Gefühl, zwischen uns könne es nicht gutgehen:; er war gegenüber Akademikern mehr als skeptisch eingestellt. Aber schnell stellte sich heraus, dass wir in den Haushaltskämpfen des Landtages, die er für uns führte, keinen besseren Mitstreiter hätten finden können. Wer mich für die Bonner Politik entdeckte: Ich glaube, dass es mein Amtsvergänger im Jugend-, Familien und Gesundheitsministerium, der damalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler ( 1982-1985) war, den ich 1985 als Delegierte auf dem Essener CDU-Frauenparteitag persönlich kennenlernte; wenige Monate später rief mich der Bundeskanzler zu Hause an und fragte mich, ob ich nicht als Ministerin nach Bonn kommen wolle. Als ich dann nach Bonn ging, verabschiedete ich mich vom Institut mit Trauer; ich wusste, wenn ich jetzt fortgehe, dann wird es für immer sein. Ein Teil meines Lebens lag hinter mir, in dem ich einst meine Zukunft gesehen hatte.
In Bonn hat sich meine Grundhaltung zur Arbeit nicht verändert. Ich meine, dass es nicht ausreicht, nur die positiven politischen Leistungen, die Erfolge zu bilanzieren, Ich muss auch den anstehenden Problemen und Schwachstellen ins Auge sehen, konket benennen, was noch nicht geleistet wurde. Das heißt nicht - wie manche Kritiker meinen - Politik mit unpolitischen Mitteln betreiben. Woran mir liegt, ist zweierlei. Ich will sachliche Konflikte nicht mit schönen Worten vom Tisch wischen. Aufklärung und Glaubwürdigkeit also statt Nebel und Rhetorik. Nur so kann es zu fruchtbaren Diskussionen kommen, nur so ist es möglich, zum Beispiel auf Veranstaltungen, wo ich eine Rede halte, wirklich Zuhörende zu gewinnen. Das ist keine bloße Frage des politischen Stils - dahinter steht eine Definition von Politik, die davon ausgeht, dass Politik mehr ist als ein Geschäft mit dem vordergründigen Erfolg.
Zum anderen - in diesem Punkt lernt man nie aus - ist es sehr kompliziert klarzumachen, dass bestimmte Ziele nur unter bestimmten Voraussetzungen erreicht werden können. Die Durchsetzung von Vorschlägen auf parlamentarischem Weg erfordert einen breiten Konsens, das heißt, Gespräche und Verhandlungen sind konituierlich zu führen - der Weg ist lang. kraftzehrend, aber jeder Teilerfolg, der erreicht wird, ist ein Schritt nach vorn. Wer in der Politik etwas durchsetzen will, der wird Kompromisse schließen müssen. Aber es sollten immer - das möchte ich betonen - vertretbare, keine "faulen" Kompromisse sein; sie müssen einen Schritt weiter auf das angestrebte Ziel hin ermöglichen.
Eine solche Übereinkunft zu finden ist ein Schritt nach vorn und sinnvoller, als gar nichts zu tun, sich zu empören und alles beim alten zu lassen. Nur - das ist mir sehr wichtig - man muss die erkämpften Kompromisse auch transparent machen, sie müssen für den Außenstehenden nachvollziehbar sein: Eine ausgehandelte Vereinbarung ist keine Notlösung, sondern eine Etappe auf einem gemeinsamen Weg zur Bewältigung eines - meistens - komplizierten Problems. Kompromisse in diesem Sinne zu schließen bedeutet, Lösungen unter Ausschöpfung aller Möglichkeiten auf einem gangbaren Weg, das heißt auf dem Weg des zu erkämpfenden Konsenses, zu finden und voranzutreiben. Und man wird nur dann zum Ziel gelangen, wenn man die Verantwortung übernimmt, die Tragfähigkeit von Kompromissen immer wieder zu überprüfen.
Aus Konflikten hervorgegangene Ergebnisse werden nicht leicht gefunden: Dem Resultat geht ein schwieriger, oft heikler Prozess der Lösungsfindung voran. Angesichts von Defiziten und Missständen wird deshalb die Forderung nach neuen Gesetzen laut, anstatt Lösungsansätze, die Alternativen zu scheinbar legislativen Erfordernissen sind, zu entwickeln. Wird denn der Erfolg einer Regierung nur an der Anzahl der von ihr verabschiedeten Gesetze gemessen? Nach dem Motto: Minister sage mir, wie viele Gesetze du gemacht hast, und ich sage dir. wie durchsetzungsfähig und erfolgreich du bist! Eine Frage, die sich ein englischer Minister verbitten würde. Man müsste eigentlich den Schluss umdrehen und fragen, auf wie viele Gesetze hat ein Minister verzichtet, und welche Alternativen hat er statt dessen gefunden. Und wlecher Bürger versteht diese Gesetze eigentlich noch?
Als ich ins Ministerium kam, habe ich manche Gesetze - trotz Universitätsbildung - zunächst überhaupt nicht begriffen, sie fünfmal lesen müssen und schließlich jemanden gebeten, sie mir zu erklären. Solche Gesetze behaupten manche Kritiker, seien bis zur Unverständlichkeit perfekt ausformuliert; es sei deshalb sinnvoller, Perfektion nicht anzustreben und dafür kleine Ungerechtigkeiten in Kauf zu nehmen. Dagegen wende ich ein, aus kleinen Ungerechtigkeiten erwachsen große: Die Gesetze sollten nicht weniger perfekt, sondern verständlicher sein. Also, es kommt darauf an, neue Lösungsvorschläge zu finden. Niemand kann sich dabei absolut sicher sein, dass sein Vorschlag der einzig richtige ist. Deshalb ist es wichtig, den eigenen Standpunkt zu erläutern und zu erklären.
Die politische Argumentation sollte deshalb dann nicht polmisch sein, wenn es darum geht, unterschiedliche Ansätze und Wege zu erklären: Diskussion fusst auf Kritik und muss folglich rational geführt werden. Polemik ist bei diesem Prozess überflüssig, Ich freue mich deshalb, wenn in politischen Diskussionen leisere, nachdenklichere Töne auf positive Resonanz stossen. Ich sehe darin ein Zeichen für ein lösungsbezogenes Gespräch.
Gewiss ist die Überlegung berechtigt, dass die Konfrontation mit dem politischen Gegner dem Bürger eine Orientierungshilfe ist, ihm die politischen Angrenzungen klar präsentiert. Aber auch wenn ich aus Gründen der überdeutlichen Markierung den Schlagabtausch suche, steht für mich die sachliche Auseinandersetzung im Vordergrund. Zu fragen ist dann jeweils nach den politischen Grundaussagen, aus denen die unterschiedliche Behandlung politischer Probleme resultiert. Das gilt beispielsweise für das Staatsverständnis, wo es um die prinzipielle Überlegung geht, wieviel staatlich und wieviel privat geregelt werden kann und muss. Nach meinem Eindruck wird die Bevölkerung dann am stärksten politisch motiviert, wenn Polarisierung in der Sache und nicht durch persönliche Attacken stattfindet. Die Konfrontation scheint mir eher für die Parteimitglieder wichtig zu sein als für die Bürger und Bürgerinnen.
Was resultiert aus diesen Polarisierungsprozessen? Eine Antwort darauf zu geben ist schwierig. Man hält daran fest, dass auf diese Weise Positionen deutlich werden. Aber ist das eine befriedigende Antwort? Ich denke, wir Politiker und Politikerinnen sollten zunächst einmal zugeben, dass wir nicht die Lösung besitzen und nicht immer wissen, was die Zukunft fordert.
Man muss sich einmal vor Augen halten, was in den vergangenen Jahren im politischen Bereich passiert ist. Was haben wir nicht alles vorangetrieben und durchgesetzt, bevor wir innehielten und unsere Fortschrittsgläubigkeit überprüften. Wie groß war und ist noch die Angst bei vielen, sich von diesem Glauben verabschieden zu müssen. Neue politische Ansatzpunkte zu finden - in diesen Prozess kann und sollte man die Menschen einbinden. Aber das wird wiederum nur dann gelingen, wenn Politiker die Probleme und Mängel aufzeigen und die eigene Fehlbarkeit zugeben - nur dann können sie allmählich wirkliche Neuorientierungen in den Köpfen Fuß fassen.
Die Politiker sollten nicht immer so tun, als ob es Patentrezepte gäbe. Wenn die Welt so einfach gestrickt wäre, dass wir mit alten Verhaltensmustern unsere heutigen Probleme lösen könnten, dann hätten wir schon morgen keine Ehescheidungen mehr, dann wären die Frauen wieder zu Hause bei ihren Kindern und die Zahl der Geburten stiege an. Die Dinge wären dann so, wie sie einmal waren. Doch in den Bahnen eines solchen eindimensionalen Denkens wird man die heute anstehenden Schwierigkeiten nicht lösen. Wir müssen tiefer loten und uns mit den Menschen von heute, ihren Bedürfnissen und den an sie zu stellenden Anforderungen auseinandersetzen.
Ich bemerke dabei ein Defizit: wir vernachlässigen die anthropologische Fragestellung. Wir müssen ein rasantes Tempo vorlegen, wenn wir die Entwicklung einholen wollen. Heute stellt sich die Frage nach dem politischen Gestaltungsspielraum und den Sachzwängen völlig neu. Nehmen wir das Ozon-Loch: Der Sachzwang ist so groß geworden, dass wir uns nicht davor "drücken" können, sondern rasch handeln müssen.
Dabei sollten wir im Auge behalten, dass Wissenschaft und Technik nicht nur Sachzwänge geschaffen, sondern zugleich neue Gestaltungsspielräume eröffnet haben. Dass gilt es aufzuzeigen und ins Bewusstsein zu rücken. Denn es ist doch so: Früher hatten die Menschen, die sechzehn bis achtzehn Stunden arbeiten mussten, keinen großen Gestaltungsspielraum, im Vergleich zu heute, wo die Menschen über den bislang weitesten Gestaltungsspielraum verfügen. Dafür müssen sie, individuell, große Verantwortung übernehmen. Noch nie zuvor hatten Menschen so viele Entscheidungen in so komplexen Verhältnissen zu treffen wie heute. Historisch gesehen ist die Zeitspanne sehr kurz, in der den Menschen die Verantwortung für persönliche Entscheidungen zugetraut und zugemutet wird. Die Verantwortungsübernahme wurde immer wieder von Fürsorge und Bevormundung konterkariert. Die Anforderungen an den Menschen erhöhten sich, und die Herausforderungen stiegen. In der letzten Zeit ist dieser Prozess unverhältnismäßig schnell verlaufen. Wir stehen nun vor der Aufgabe, unser Leben an anderen Werten auszurichten als bisher, das heißt Friedenssicherung, Naturschutz, umweltschonendes Wirtschaften, um die lebenswichtigen Ressourcen für die folgenden Generationen zu erhalten, Zu den alten sind neue soziale Herausforderungen hinzugekommen: Überbevölkerung und Geburtenrückgang, stark gestiegene Lebenserwartungen mit allen Chancen und Problemen des Alters, wie Pflege und Alterssicherung. Nicht zu unterschätzen sind die Schwierigkeiten vieler Menschen mit dem Tempo der technischen Veränderung, der Modernisierung unserer Lebensverhältnisse.
Ich sehe nur eine reale Möglichkeit: es gilt, diese Herausforderungen gemeinsam zu lösen, das heißt unter größtmöglicher Einbeziehung der Betroffenen. Es hilft wenig, vorzugeben, dass wir für die neuen Sachverhalte neue passende Antworten hätten. Vieles ist offen. Wir erleben diese Situation gerade im Umgang mit der DDR. Wir dürfen nicht alle Erwartungen auf den Staat richten, von ihm schnellgreifende Patentrezepte erwarten. Andererseits sollten Politiker bzw. Politikerinnen nicht vorgeben, für jedes Problem im Besitz einer Lösung zu sein.
Als Bundestagspräsidentin habe ich die Möglichkeit, in zentrale Bereiche der Außenpolitik Einblick zu nehmen und dort aktiv zu sein. Es gibt keine isolierte Lösung der deutschen Frage. Wir können sie nicht von den Entwicklungen in Polen, der CSSR, Ungarn und der UdSSR trennen. Ich will kein deutsches, nationales Wiedererwachen, sondern eine Übereinkunft im europäischen Zusammenhang - ein europäisches Deutschland. Alles andere wäre ein Rückfall in das überholte nationale Denken des neunzehnten Jahrhunderts.
Wenn ich die Entwicklung in der DDR rückblickend betrachte, dann stelle ich sehr unterschiedliche Stimmungsphasen fest. Zunächst Begeisterung - der Enthusiasmus des wirklich begründeten aufrechten Gangs. Zum ersten Mal fand in der deutschen Geschichte eine friedliche Revolution statt. Um Weihnachten 1989 schlug diese Hochstimmung in der DDR ins Gegenteil um - im Sinne von: wir ertrinken, wir sind nichts, wir sind gestrandet, gescheitert, ihr müsst uns retten. Mit dem Besuch des Ministerpräsideten des Übergangs, Hans Modrow (1989/1990), zu Beginn des Jahres 1990 in Bonn begann die Phase der Zurückgewinnung des eigenen Selbstwertgefühls, des sich wiedersaufbauenden Selbstvertrauens. Durch alle Stimmungsschwankungen zog sich als Kern die wichtigste Frage: die nach der eigenen Identität. Oder, wie mir der erste freigewählte Regierungschef Lothar de Maizière (12. April bis 2. Oktober 1990) einmal sagte: Was wird aus meiner alten Identität? Kann ich sie in meine neue integrieren?
Mit der Öffnung der Grenzen sind wir uns menschlich nahe gekommen. Es sind damit aber nicht alle Fremdheiten überwunden. Das wird erst allmählich gelingen: den bundesrepublikanischen Alltag - trotz Fernsehen - richtig einzuschätzen, sei es nun die Korrektur der Vorstellungen eines ungeheueren Wohlstands aller oder die Korrektur der Vorstellung vom Kapitalismus und unserer scheinbaren Einstellung, die auf alles Äußerliche fixiert und nicht am Innenleben des Menschen interessiert sei.
Eine nächtliche Diskussion in Leiptig im November 1989 nach einer Abendveranstaltung ist mir noch sehr gut im Gedächtnis. Eine junge Frau sagte mir, die schlimmste Nacht für die DDR-Bürgerinnen und -Bürger sei jene am 30. September 1989 gewesen, als Hans-Dietrich Genscher (Außenminister 1974-1992) in der bundesdeutschen Botschaft in Prag erschien und die etwa dreitausend DDR-Flüchtlinge mit Sonderzügen in die Bundesrepublik ausreisen durften. Sie hätten sich damals immer wieder die Frage gestellt, ob nun die guten, freiheitsliebenden Deutschen gegangen und die nicht freitsheitsliebenden geblieben seien? Es war offenkundig der letzte Anstoss zum Handeln, und die Frage tauchte unweigerlich auf, warum das in den 51 Jahren nicht längst versucht worden sei. Nur: Es ist sehr leicht, in einem freiheitlichen System zu fragen, warum habt ihr euch nicht gewehrt. Aber unter den Bedingungen einer totalitär geführten Gesellschaft ist das eine ganz andere Frage. Und, das möchte ich noch hinzufügen, wie mutig sind wir denn eigentlich in der Demokratie?
Bei meinen Besuchen in der DDR hatte ich oft den Eindruck, als beträte ich Wohnungen aus unseren fünfziger Jahren. Wohnungseinrichtungen, Musik, Bücher, auch die. die man sich nur mühsam aus dem Westen besorgen konnte: Sicherlich habe ich dabei eine bestimmte Schicht vor Augen, aber es ist eine breite Schicht, die über ein reiches historisches Wissen verfügt. Die Menschen dieser Schicht kennen die Kirchen und Klöster, die Kulturdenkmäler in ihrer Umgebung, haben viel gelesen: und in diesem Sinne auch viel nachgedacht. Und jetzt werden diese Seiten - die SED-Zeiten - rasch zugeblättert, und man schlägt das Buch der Geschichte dort wieder auf, wo es sie noch nicht gab. Es gibt offenbar historische Konstellationen, in denen Menschen nicht die Zeit gelassen wird, sich ihre eigene Geschichte anzueignen.
Vielleicht hat das auch eine positive Seite, dass sie durch den Druck des Alltäglichen abgelenkt werden. Aber man sollte nicht die eigene Biografie verdrängen. Es ist keine wirkliche Hilfe, einfach zu sagen, man müsse nur die alten Kleider verbrennen und in neue hineinschlüpfen. Damit wird nichts bewältigt. Mir ist ganz wichtig, dass die DDR-Bürger respektiert und akzeptiert werden und dort abgeholt werden, wo sie stehen.
Bemerkenswert ist auch die wichtige Rolle, die die evangelische Kirche eingenommen hat - nämlich zu versöhnen, statt Rache zu über: Erich Honecker (*1912+1994, Staatsratsvorsitzender der DDR) und seine Frau Margot (DDR-Ministerin für Volksbildung 1963-1989) suchten und fanden bei der Kirche Unterschlupf. Wo war der SED-Freund, der ihnen eine Bleibe zur Verfügung gestellt hatte?
Folgerichtig war in dieser Umbruchs-Ära die Gründung einer deutsch-deutschen Frauen-Union. Im Sozialismus schien ja alles gelöst - nur nicht aus der Sicht der Frauen. Die Frauen-Frage spielte in keiner Initiative, weder in der Partei noch in der gewerkschaftlichen Organisation eine Rolle. Doch als es zu Straßendemonstrationen um Demokratie und Freiheit kam, standen sie mit an vorderster Front. In den Programmen der sich gründenden Parteien war dann von der Frauen-Frage oder zum Thema Familie so gut wie nichts zu lesen. Bei der Wahl der Parteivorstände wurde dies noch deutlicher. Aber die ersten, die ihre Arbeitsplätze verloren - waren Frauen. Bärbel Bohley, die Mitgegründern des Neuen Forums, bemerkte zur Situation der Frauen in der DDR: "In der Realität kann von Emanzipation der Frau in der DDR keine Rede sein. Ohne Frauen wäre die DDR-Wirtschaft überhaupt nicht gelaufen. Sie mussten an die Arbeit. Aber trotz dieses Zwangs ist ihnen die Gleichberechtigung versagt geblieben. Ich fürchte, die Frauen sind bei Einführung der Marktwirtschaft die ersten, die entlassen werden. Soziale Fortschritte, wie ein Baby-Jahr, schlagen ins Gegenteil um, weil Frauen oft ausfallen. Die Männer entdecken plötzlich ihre Ellenbogen und drängen die Frauen zur Seite - auch in den neuen Parteien. Jetzt wollen die Männer endlich Politik machen. Wir zahlen wieder drauf."
Zurück in Bonn: Ich nahm mir , als ich hierher kam, vor, nicht so zu handeln, als ließe sich alles in den "Griff bekommen". In der Öffentlichkeit werden Politiker daran gemessen, wie erfolgreich sie sind und wie viele Fehlschläge sie zu verzeichnen haben, ob sie alles "in den Griff bekommen". Doch dieses In-den-Griff-Bekommen ist oft ein Würgegriff. Es kam für mich zunächst darauf an, die Administration in ihren komplexen Abläufen gründlich kennenzulernen, und ich wollte Impulse geben.
Zu Beginn meiner politischen Arbeit hatte ich verständlicherweise Probleme - nämlich die einer Außenseiterin. Ich hatte den Eindruck, dass hinter vorgehaltener Hand getuschelt wurde: In sechs Monaten ist die nicht mehr hier, das schafft die nie.
Hier war mir anfangs alles sehr fremd: das Ministerium, in dem ich zu arbeiten hatte, dann auch die Bundestagsverwaltung. Da war es wichtig, dass mir Menschen hilfreich zur Seite standen, mit denen ich auch etwas bewegen, verändern konnte, Verletzungen gab es natürlich - gerade in der ersten Phase der AIDS-Diskussion - und Ohnmachtsmomente, wenn ich abends manchmal nicht wusste, wie es morgens weitergehen sollte; mit meinen Mitarbeitern habe ich dann oft bis in den Morgenstunden beraten, wie wir am nächsten Tag auf Angriffe reagieren, unseren politischen Weg weitergehen, wie wir uns durchsetzen, unsere Konzeption, von der wir überzeugt waren, weiterverfolgen könnten. Und natürlich mussten wir uns auch manches Mal eingestehen, dass wir unseren Standpunkt nicht mehr aufrechterhalten können, dass wir ihn revidieren, neu durchdenken müssen. In solchen Situationen sind Freunde sehr wichtig: Entscheidungen brauchen die Unterstützung durch andere.
Es waren und sind gerade die mir zugefügten Verletzungen, die mir Kraft, Energie und Widerstandsfähigkeit geben, weiterzumachen. Wenn es brenzlig und haarig wird, werde ich still und ruhig. Das ist so eine Art Schutzmechanismus. Bei unwichtigen Dingen rege ich mich viel mehr auf als bei entscheidenden. Kraft schöpfe ich zudem noch aus der Tatsache, dass ich diejenigen nicht enttäuschen möchte, für die es sich einzusetzen lohnt. Dieses Verantwortungsgefühl ist stärker als Kritiker und Gegner. Psychische Energie gewinne ich vor allem aus persönlichen Beziehungen, die ich auch pflege. Meine Regenerationsfähigkeit hängt von diesen engen menschlichen Bindungen ab. Das was in meinem Leben schon immer so.
Vor allem in der nach wie vor ungelösten Frauenfrage drängt jetzt die Zeit, endlich entscheidende Veränderungen durchzusetzen. Hier muss vehement und konsequent weitergearbeitet werden, weil die Diskussion sich rückläufig entwickelt, während sich die Probleme zum Teil verschärfen. Das Bewusstsein darüber hat sich zwar in den letzten Jahren allgemein positiv verändert. Ausbildung und Berufsmöglichkeiten ebenfalls - aber Beruf und Familie zu verbinden, das ist für viele noch ein ungelöstes Problem Ich denke dabei insbesondere an die gutausgebildeten Frauen, die ihren Beruf wegen ihrer Kinder aufgegeben haben. Im Jahre 1985 wurde ich heftig kritisiert, weil ich entschieden für die Ganztagsschulen eintrat. Körbeweise kamen Briefe bei mir und beim Kanzler an. Erst hieß es, Ganztagsschulen seien familien- und kinderfeindlich, ja sozialistisch amgehaucht. Ich hielt dagegen, dass alle nicht-sozialistischen Länder in Europa, alle EU-Staaten, auch Margaret Thatchers (1979-1990 Premierministerin) Großbritannien, über Ganztagsschulen verfügen. Das hätte doch die Leute nachdenklich machen müssen, dass wir in dieser wichtigen Frage, die fernab von jeder Ideologie liegt, Außenseiter in Europa sind. Wir mussten drei Jahre hart kämpfen, um das Ja zu mehr Ganztagsschulen durchzusetzen.
Die damals CDU-regierten Länder Niedersachsen, Baden-Württemberg und Hessen haben inzwischen Maßnahmen eingeleitet, um die Kinderbetreuung zu verbessern. Man sagt jettz zwar nicht mehr Ganztagsschule, sondern Ganztagsbetreuung. Entscheidend ist jedoch, dass wir Frauen die Kinderbetreuung gegen die entschiedene Ablehnung der Männer durchgedrückt haben.
Etliche Politiker tun so, als seien die Hausfrauen aus den neunziger Jahren noch die gleichen wie in den fünfziger Jahren. Das ist falsch. Im Augenblick besteht ein wichtiges Problem in der Polarisierung zwischen erwerbstätigen und nichterwerbstätigen Frauen. Die Frauen sahen sich in zwei Gruppen aufgeteilt - wobei die Unzufriedenheit darüber bei den akademisch ausgebildeten Hausfrauen besonders groß ist. Sie alle kritisieren zu Recht die mangelnde Anerkennung ihrer Arbeit in der Familie, die fehlende soziale Sicherung, die Unsicherheit über Rückkehrmöglichkeiten in den Beruf und das fehlende familienfreundliche Teilzeitangebot. Bislang ist die Familie diejenige soziale Einheit mit dem größten Anteil an unbezahlter Arbeit. Dadurch spart die öffentliche Hand in den Bereich Pflege und Kindererziehung Milliarden. Probleme, die ohne Verzug gelöst werden müssen.
Die Konkurrez auf dem Arbeitsmarkt zwischen Frauen und Männern wird schärfer. Die Frauen verlassen ihre Jahrhunderte alte Reserve-Position und bringen ihr Potenzial ein. Doch wir Frauen müssen im Auge behalten, dass unser Vorsprung an ungenützten Ressourcen - er ist zur Zeit unser wichtigstes Kapital - abnehmen wird. Zwei Dinge müssen wir weiterverfolgen: Wir müssen die Stukturen verändern und uns weiter qualifizieren. Die soziologische Mobilitätstheorie greift hier: nämlich die Erkenntnis, dass Aufsteigerschichten immense Qualitäten entwickeln; aber die Aufsteiger der ersten nicht zwingend auch die Aufsteiger in der zweiten Generation sind. Das zeigt sich in der Geschichte der Arbeiterbewegung und heute in der Frauenbewegung, die immer wieder auf Widerstand stößt. Doch diese Widerstände haben ihre "positiven" Seiten: Sie fordern uns heraus. Vor Widerständen heißt die Parole nicht Kapitulation, sondern Kampf.
Die Mehrheit der Frauen geht viel handlungsbezogener an die Probleme heran, als dies Männer tun. Das ist wohl erst mal eine Folge ihrer Sozialisation. Männer haben eine ungeheure Ehrfurcht vor Systemen - Frauen nicht. Sie suchen nach Problemlösungen innerhalb oder außerhalb der Systeme, unter der zentralen Fragestellung nach einem menschlichen Leben und nach seinen organisatorischen Notwendigkeiten - im Familienalltag und im Erwerbsleben, bei der Arbeit, beim Wohnen und im Wirtschaftsleben, im Zusammenleben mit Kindern, Behinderten, mit Pflegebedürftigen. In der bisherigen Sozialisationsgeschichte waren es überwiegend Frauen, die sich dafür zuständig gefühlt haben und es auch waren.
Gerade auf dem letzten Sektor ist ein Wertewandel erforderlich. Meine Kernthese hierzu lautet, dass wir den Taylorismus in der Medizin und in der Pflege überwinden, dass wir die Hierarchien abbauen und ein Zusammenspiel von Ärzteschaft, Pflegepersonal und Patienten mit ihrem Angehörigenkreis etc., ermöglichen müssen. Das heißt: eine Reform an Haupt und Gliedern in Krankenhäusern, in Pflege- und Altenheimen. Diese Reform ist nicht nur eine Frage des Geldes. Es kommt vielmehr darauf an, in der Plegearbeit dort aufzuholen und dort mitzureden, wo bislang allein die Medizin bestimmend war.
Die siebziger und die nachfolgenden Jahre standen unter der Flagge des medizinischen Erkenntnisfortschrittes. Zum Beispiel die Krebsforschung mit ihren Voraussagen, wir werden den Krebs besiegen - sie haben sich nicht erfüllt. Ich sage nicht, dass wir nicht intensiv weiterforschen sollten. Aber - das haben wir doch mittlerweile gelernt - es geht nur mit einem ganzheitlichen Konzept. In diesem Zusammenhang finde ich es wichtig, dass die Pflegekräfte über Patientenbefinden, Patientenreaktionen gefragt werden. Die Naturwissenschaften müssen humaner werden. Bisher hatte die medizinische Erkenntnis den höchsten Wert - dann kam - viel später - die Pflege. Gefragt ist jedoch ein Miteinander in einem Interaktions-Gefüge. Nicht hierarchisch, sondern partnerschaftlich. Was ereignet sich im Aktionsfeld Patient (mit seinem Umfeld Angehörige und Seelsorge), Arzt, Krankenpflege?
Hier findet man möglicherweise Aufschluss darüber, unter welchen Bedingungen Menschen eigene Kräfte entwickeln, beispielsweise ihr geschwächtes Immunsystem zu stärken in der Lage sind. Dazu gehört dann, dem Krankenhauspersonal fachliche Weiterbildung zu ermöglichen, konkret: Stationsschwestern eine Weiterbildung auf Hochschulniveau bereitzustellen - in Amerika und anderen Ländern ist das selbstverständlich. Die Denkweise, mit neuem medizinisch-technischen Gerät ließe sich Personal einsparen, führt nicht zu mehr, sondern zu weniger Humanität. Damit greife ich die Medizin als solche nicht an, aber ein bestimmtes Denken. Was ich kritisiere, sind die Prioritäten, denen wir jahrelang gefolgt sind.
Um diesem Wertewandel zum Durchbruch zu verhelfen, ist eine fraktionsübergreifende - fernab von jeglicher parteipolitischer Polemik - Frauenbewegung im deutschen Parlament wünschenwert. Wir Frauen wollen mit den Kirchen, Gewerkschaften, Verbänden und der Wirtschaft inhaltlich vorankommen und Zukunftsaufgaben angehen: Wir wissen, dass wir anders arbeiten, als es unter Männern üblich ist. Wir stellen das parteipolitische Gezänk zurück und fragen nach den Sachproblemen und den Menschen. Das kostet viel Disziplin. Denn schließlich sind wir Frauen ja auch geprägt vom normalen Politik-Stil. Wir sind gespannt, ob wir es hingekommen werden. Es scheint zu gelingen, obwohl wir noch viele Bewährungen zu bestehen haben werden.
Wir nennen uns Frauenbündnis '90 - Fraueninitiative gegen Rassismus und Frauenfeindlichkeit, wobei Fremde eben nicht nur Ausländer sind, dazu gehören sowohl die Aussiedler wie die Übersiedler. Und "das Fremde in uns": Damit meine ich die Forderung nach Bereitschaft zur Grenzüberschreitung. Diesen Aspekt finde ich wichtig, weil wir sowohl Grenzen in uns haben als auch Grenzen nach außen immer wieder ziehen - nach dem Motto, was lassen wir zu, was nicht. Ich meine also unsere Schwierigkeit, mit Andersdenken umzugehen. Ich meine damit auch unseren unterschwelligen Vorbehalt, in und mit kultureller Vielfalt zu leben. Wir müssen endlich begreifen, dass unsere Unterstützung unabhängig davon erfolgen muss, ob die Betreffenden auch tun, was wir uns vorstellen. Wenn ältere Menschen mit wenig Geld pflegebedürftig werden und Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssen, dann sollten sie künftig nicht daran gehindert werden, im Rahmen angebotener Heime selber zu wählen, wohin sie gehen wollen - und nicht einfach von Amts wegen zugewiesen werden.
Wir Frauen erst in Bonn, dann fortwährend in Berlin sehen uns ja häufig - im Plenum des Bundestags, in den Ausschusssitzungen und auf den Empfängen -, und da sagt diese oder jene aus dieser oder jener Partei , wir sollten uns doch mal treffen, wir müssten dies oder das tun. Ich habe bei diesen informellen Frauen-Zusammenkünften eine Menge gelernt. Zum Beispiel ging ich anfangs falsch mit den rechtsradikalen Republikanern um, nur abgrenzend und nur konfrontativ. Wir diskutierten sehr lange darüber, tauschten unsere Erfahrungen aus. Zwei Frauen kannten jugendliche Skinheads, gepanzert mit Jacken voller Hakenkreuze und ihrem gesellschaftlichen Protestpotenzial. Wir überlegten , was an die Stelle der Konfrontation treten müsse, zumal wir wissen, dass unsere Hinweise auf den Nationalsozialismus nicht mehr fruchten, eher gegenteilige Reaktionen auslösen. Wir halten mehr vom "abholenden Prinzip": Jemanden dort abholen, wo er / sie steht. Das kenne ich aus der Pädagogik. Wir in Bonn denken aber immer zuerst an die politischen Führer und nicht an die Leute, die sich in solchen Gruppierungen zusammenschließen.
Zweifelsohne bringen wir Frauen spezifische Erfahrungen und andere Problemlösungen ein als Männer. Die Gestaltung des Wohnbereichs ist dafür symptomatisch. Die Aufteilung der meisten Wohnungen verrät den männlichen Planer: die Männer stehen nämlich nicht in der kleinen Küche. Sie haben große Wohnzimmer eingeführt zur Erholung nach der Berufsarbeit. Küche und Kinderzimmer sind die kleinsten Einheiten in der Wohnung, was ja nicht gerade kinder- und familienfreundlich ist. Männliche Wohnungsvorstellungen - wie man schon bei Theodor Heuss (Bundespräsident 1949-1959) nachlesen kann, der ja bekanntlich von einem männlichen Verstehen, um darauf hinzuweisen, dass es kein ren menschliches ist, also nicht gesellschaftsbedingtes sprach. Doch allmählich lernen auch die Männer umzudenken; wir sind auf einem guten Weg.
Anfangs war es für mich hier in Bonn schwierig - vor allem die menschliche Seite. Im ersten Vierteljahr prägte ene distanzierte Atmosphäre den persönlichen Umgang. Mittlerweile kann ich das auch nachvollziehen: Es ist für gestandene ideenreiche Politikerinnen schon bitter und schwer zu verkraften, wenn jemand von draußen für ein Ministeramt geholt wird. Sie haben schließlich Jahre von früh bis spät gerackertm sich für die Sache der Frauen eingesetzt. Die meisten Politiker verfügen über erhebliche Politik- und Parlamentserfahrung, ehe sie für politische Ämter vorgeschlagen werden. Für mich verlief der Weg genau umgekehrt: Das Parlament erschien mir, aus der Perspektive einer Ministerin, zunächst wie ein Buch mit sieben Siegeln. Aber der politische Alltag zwingt zu schnellem Lernen.
Im Laufe der Zeit entwickelte sich mit den Frauen aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion eine gute Zusammenarbeit - interessanterweise gerade mit jenen Kolleginnen, die mich zuerst am heftigsten abgelehnt hatten. Diese Erfahrung habe ich schon oft gemacht; Konflikte am Anfang schließen eine spätere Freundschaft nicht aus. Dass ich in Bonn eine Hausmacht brauche - darauf wurde ich von Frauen häufig angesprochen. Es hat auch keinen Zweck, um etwas ständig herumzureden. Ich nahm meine Arbeit schon damals sehr wichtig und kämpfte deshalb in einer Gegenkandidatur um den CDU-Vorsitz der Frauen-Union. Ich benötigte ein festes Standbein in der Partei, weil ich ja dort keine Insiderin war. Meine Kritikerinnen sagten, ich sei schon Bundesministerin - das wäre genug. Aber wenn etwas prinzipiell richtig ist, heißt das noch nicht, dass die konkrete Situation nicht ein anderes Handeln erforderlich machen würde. Dass mich die Parlamentsarbeit so faszinieren würde, hätte ich niemals gedacht.
Wie wichtig eine Frauen-"Unterorganisation" ist, zeigt die rasante Entwicklung in der DDR deutlich. Es ist unabdingbar, dass wir unsere eigenen Standpunkte und Interessen formulieren. Zudem lassen wir uns auch nicht mehr "nur" mit den klassischen Bereichen Familie und Soziales trösten. Es geht uns um die Umwelt-, Deutschland-, Finanz- und Sicherheitspolitik. Denn die Ära, in der die Frauenpolitik sich auf Familie und Soziales als ihre ureigenste Domäne beschränkte, ist endgültig zu Ende. Nach wie vor ist das Ziel des Artikel 3 des Grundgesetzes, nämlich die Gleichberechtigung, nicht durchgesetzt. Gleichberechtigung heißt gleiche Beteiligung. Und das führt zu immer neuen Auseinandersetzungen mit den Männern. In meiner Zeit ist der Beschluss gefasst worden, der Anteil der Mandate sollte im Verhältnis der weiblichen Mitglieder entsprechen. Bekanntlich ist die CDU gegen eine Frauen-Quotenregelung. Aber schafft sie es nicht ohne Quote, dann wird die Quotenregelung kommen. Da bin ich mir sicher.
Ich sehe unsere Aufgabe darin, rechtzeitig Zukunftsvisionen zu entwickeln und die Bedürfnisse von morgen zu problematisieren. Die Frauen-Union war immer die erste politische Gruppierung, die die Themen von morgen beizeiten angegangen ist. Zuweilen brauchten wir dafür einen sehr langen Atem, Geduld und Stehvermögen. So dauerte es dreizehn Jahre - die Idee des Muttergeldes stammte schon aus den Jahren 1968/69- , bis das Erziehungsgeld und der Erziehungsurlaub Realität wurden. Aber wir haben es geschafft. In den kommenden Jahren dürfte es vornehmlich darum gehen, wie wir eine familienfreundliche Arbeitswelt mit familienfreundlichen Arbeitszeiten schaffen.
Wir leben in einer Zeit des rasanten Umbruchs, die Umsetzung langgehegter Vision har begonnen. Wenn jemand vor wenigen Jahren die Prognose gewagt hätte, dass die Mehrheit des Berliner Senats unter dem Regierenden Bürgermeister Walter Momper in den Jahren 1989/91 Frauen sein werden, wäre lächelndes Kopfschütteln die Reaktion gewesen. Als ich meine Rede zum Tag der Deutschen Einheit am 17. Juni 1989 im Deutschen Bundestag hielt, hatte niemand ahnen können, dass die Entwicklung der DDR solch eine atemberaubenden Verlauf nehemn würde. Die Einheit beider deutscher Staaten ist keine Utopie mehr, sie verwirklicht sich. All das nenen ich Visionserfüllung, Wir stehen nicht hoffnunglos im Hier und Jetzt."