Dienstag, 4. September 1990

Sittengemälde: Kalter Krieg der Männer - das Politikerinnen-Dasein der Marie-Schlei
















































In Gedenken an die Pädagogin und Politikerin Marie Schlei. - Sie wurde am 26. November 1919 in Reetz in Pommern als Kind einer Arbeiterfamilie geboren. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie sich als Verkäuferin und Postangestellte. In Berlin nutzte sie 1947 die Chance, ohne Abitur Lehrerin zu werden, stieg im Arbeiterbezirk Wedding bis zur Schulrätin auf. Seit 1969 agierte sie für die SPD im Bundestag, wurde im Jahr 1974 unter Helmut Schmidt parlamentarische Staatssekretärin im Kanzleramt, zwei Jahre später gar Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Dort bliesen Medien-Männer im Treibhaus zu Bonn zur Schlei-Treibjagd. Rücktritt. Nach der Bundestagswahl 1980 kehrte sie als Vize-Vorsitzende in die SPD-Fraktion zurück. Am 1. November 1981 erklärte die Berlinerin ihren Rücktritt, konnte keine Hoffnung mehr haben, den Krebs zu besiegen, der sie über all die Jahre in Bonn begleitet hatte. - Marie Schlei starb am 21. Mai 1983 in Berlin.

"Frauen an der Macht"
athenäums programm
by anton hain, Frankfurt a/M
4. September 1990
von Reimar Oltmanns


"Die Zukunft hat viele Namen
Für die Schwachen ist sie die Unerreichbare
Für die Furchtsamen ist sie die Unbekannte
Für die Tapfere ist sie die Chance."
Victor Hugo



Wir lernten uns an der Theke kennen, im Bonner bürgerlich-rustikalen "Kessenicher Hof". - Marie Schlei, seit wenigen Monaten parlamentarische Staatssekre-tärin im Bundeskanzleramt und Reimar Oltmanns, Bonn-Korrespondent, jung und neugierig, immer auf der Suche nach der Nähe zur Macht und den Mächti-gen. Kontakte zu pflegen gehörte zu meinem Job und befriedigte die Eitelkeit. Marie Schlei saß am Tresen und prostete mit rebellischem Lächeln ihren Parteige-nossen zu.

Ich mochte den "Kessenicher Hof", die SPD-Stamm-kneipe rechts gestrickten "Kanalarbeiter", der "Freunde für saubere Verhältnisse" (Egon Franke, *1913+1995, Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen 1969-1982). Hier lief das Kontrastprogramm zum staatlich inszenierten Vorzeige-Bonn der Alleskönner und des bedeutungsvollen Gehabes, Bonpoly genannt, wo der seelische Ausnahme-Zustand als normal gilt. Die Bonner Alltagswirklichkeit sah ganz anders aus, war geprägt von einem Hauptstadt-Hospitalismus unter männlicher Regie.

Ich konnte manchen Parlamentariern vom Gesicht ablesen, dass sie sich in steriler Abgeschiedenheit und Kälte der Parteiapparate nicht besonders wohlfühlten, wo Gefühle belächelt, Hoffnungen begraben, der Lei-densdruck umgeleitet und Enttäuschungen standhaft genommen wurden: Klinisch-rein hatte das Seelenleben der Abgeordneten nach außen hin zu sein.

BIEDERSINN

Zum Glück gab des den "Kessenicher Hof" - Fluchtort nicht etwa für Aussteiger, sondern für den kurzfristigen angeschlagenen Biedersinn, der im Gewand des Bundes-tagsabgeordneten daherkam. Das Interieur des "Kesse-nicher Hof" hatte nichts Neureiches, war vom Haupt-Stadt-Flair verschont geblieben. Hier dominierte die verkitschte Stoffblumen-Atmosphäre von Bahnhofs-wartesälen aus den fünfziger Jahren, und es roch nach Bratkartoffeln. Hier konnte man sich wohlfühlen, war man irgendwie für kurze Zeit zu Hause, als Zwischen-station sozusagen.

Klar, dass hier am Abend nach den Sitzungen die auf-gestaute Spannung Ausgleich verlangte. Und - das war genau so wichtig - in dieser Gesellenrunde aus Politikern oder auch solche, die sich dafür hielten - in diesem lockeren Bier-Verbund ließ sich so mancher Wunsch nach Fortkommen ein Stückchen weiter vorantreiben.

WO DIE POST ABGING ... ...

Im "Kessenicher Hof" also ging regelmäßig die Post ab, und mit von der Rutschpartie waren einige wenige er-lesene Hofschreiber, die sich auf absolute Diskretion verstanden. Die durften mitbechern, und ihnen wurden auch alkoholbedingte "Ausfallerscheinungen" nach-gesehen. Egon Franke war der Boss, und nicht nur hier. Ohne das Ja des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen lief in der Sozialdemokratie nichts. Ein SPD-Politiker konnte sich auf den SPD-Landeslisten für die Bundestagswahlen nur dann abgesichert fühlen, eine Gesetzesvorlage, vor allem zur Entlastung der Frauen, besaß nur dann eine Chance, wenn Egon sein Plazet gab. Und wenn Egon im "Kessenicher Hof" er-schien, direkt aus den Kabinettssitzungen, mit seinen Eindrücken und Mutmaßungen, dann wurden die Ohren gespitzt, und das Schwatzen unterblieb einst-weilen.

Damals waren Frauen in der Politik eigentlich nicht vorgesehen - allenfalls geduldet als "Konzessionsdamen" am Rande mit Alibifunktion. In Bonn wurde jede Frau mit Mandat wie eine importierte Exotin taxiert, zu-weilen auch behandelt. Es herrschte Krieg in dieser Stadt, der kalte, subtile in der Öffentlichkeit halbwegs versteckte Krieg zwischen Männern und Frauen. Eine große Koalition hatte sich gebildet, ohne Programm, nur auf der Grundlage von Vorurteilen: die große Koalition der Männer. Noch nie lief die parteiübergreifende Ver-ständigung so leicht. Man war sich darüber einig, dass Politikerinnen keine Weichen schalten und keine Per-spektiven zu entwickeln imstande seien; dass es ihnen an Kompetenz fehlte. Wenn eine Frau den Weg nach Bonn geschafft hatte, wurde sie dort in selbst-zweiflerische Defensive getrieben. Die Angst, hier nicht zu bestehen, wurde zu ihrem Wegbegleiter.

AUSGRENZUNG, INTOLERANZ

Bonn in den siebziger Jahren: Jahre der Ausgrenzung, Intoleranz, der Vernichtungsfeldzüge, der Diskrimi-nierung Andersdenkender. Die Republik rüstete auf dem elektronischen und gesetzgeberischen Überwachungs-staat; der RAF-Terrorismus kulminierte; Berufsverbote als Ausdruck des Feind-Denkens in diesem Land.

Wir schrieben das Jahr 1974. Die sozialliberale Koa-lition wurde unter Helmut Schmidt fortgesetzt. Die Aufbruchphase seines Vorgängers Willy Brandt ("wir wollen mehr Demokratie wagen") war durch dessen Rücktritt abgebrochen worden. Helmut Schmidt, der Kanzler (1974-1982) - und Marie Schlei wurde seine parlamentarische Staatssekretärin (1974-1976) , später Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit (1976-1978).

Doch zurück an den Tresen des "Kessenicher Hof". Ich traf Marie Schlei häufig dort, auch in anderen Kneipen und Bars. Sie hatte die ihr von den Männern zugewie-sene Rolle begriffen und akzeptiert und sich in infor-mellen Nischen eingerichtet. Ihr blieb - Staatssekretärin hin, Ministerin her - letzten Endes keine andere Wahl, als sich an die Bartheke zu setzen, wenn sie Aufmerk-samkeit und Einfluss gewinnen wollte. Die Nischen waren und blieben die Einflusszonen. Als wir uns näher kannten, sagte sie mir einmal: "Ich musste mein Aus-kommen mit diesen Männern suchen und meine Ideen durchbringen. Da war mir jede Bar recht. Veränder-ungen gehen nur mit ihnen, und das wird noch sehr lange so sein."

FARBTUPFER, FRAUENTUPFER

Frauen in der Politik interessierten mich damals reich-lich wenig. Das weibliche Geschlecht hatte in Bonn und auch anderswo im politischen Geschehen nicht viel zu bestellen, wenn es um die Macht ging. Und die faszi-nierte mich außerordentlich. Die Damen waren vorzeig-bare Farbtupfer im dunkelgrauen Männer-Einerlei - ein Grüppchen von dreißig Frauen im Parlament, der pro-zentual geringste weibliche Anteil in der Nachkriegs-geschichte.

Marie Schlei gegenüber hatte ich natürlich Vorbehalte. Sie passte auf den ersten Blick genau in die von Män-nern entdeckte politische Marktlücke. Sie vereinte die ideal-typischen Eigenschaften einer Mutter. Immer warm- und offenherzig, wollte sie anderen helfen und Geborgenheit vermitteln. Das war in Bonn eine Selten-heit. Marie Schlei als Mutter der Politik und zugleich von den Männern in Amt und Würden gesetzt als Bei-spiel dafür, wie überflüssig die feministische Frauen-bewegung sei. Objektiv betrachtet bildete Marie Schlei ungewollt die Speerspitze gegen den aufkommenden Feminismus, den sie in seiner Aussagekraft paralysieren sollte. Dafür schien sie den SPD-Männern mehr als geeignet zu sein. Denn jenen militanten weiblichen Typus, den Christa Randzio-Plath in ihrem bemerkens-werten Buch "Frauen-Macht" charakterisiert, wollten die Männer nicht in ihre angestammten Bereiche lassen. "Eine Frau, die Frauen sich wünschen, muss ein der Frauenbewegung sein, und gegen Krieg und Ab-rüstung, Gewalt, Ausbeutung und Armut, Sexismus und Diskriminierung kämpfen. Sie aber wollen Männer nicht und lassen sie deshalb nicht an die Macht."

ALS KELLNERIN POLITIKER BEDIENT

Marie und ich hatten eine Gemeinsamkeit, wir beide hielten Ausschau: Marie nach Entscheidungsträgern, ich nach Informanten. Offen gesagt, mir war das burschikose Auftreten der Marie Schlei anfangs sehr unangenehm und ging mir ziemlich auf die Nerven. Ich musste immer an eine Marktfrau denken, die sich mit unerschütterlicher Fröhlichkeit in alles einmischt. Als ich Marie Schlei eines Tages im Kanzleramt traf, wo sie Schnaps mit Witz für eine Gruppe angereister Feuer-wehrleute und später, im Kellnerinnendress, auch noch für die hohen Herren der Politik servierte - da fiel bei mir die Schublade ins Schloss.


Aber das Bild war schief, kannte ich doch eine Marie Schlei, die viel und heftig über die Männer in Bonn klagte und die Emanzipation der Frau auf die Tages-ordnung setzte. Und ich fragte mich, wieso gerade so eine Frau nach Bonn geholt wurde. Da musste doch eine Absicht dahinterstecken. Diese Frau fiel doch nicht vom Himmel ins Kanzleramt. Man hatte sie hierher gestellt, weil sie ins Bild passte, das man von ener Hauptstadt geben wollte.

MILIEU MENSCHLICHER IGNORANZ

Den Trümmerfrauen der ersten Stunde, die den Kriegs-schutt der Männer weg-geräumt hatten, folgten nun - nach Jahren in Heim und Herd - die Landes-Mütter. Frauen wie Marie Schlei hatten nach draußen die In-taktheit eines Milieus menschlicher Ignoranz glaub-würdig darzustellen. Der politische Gestaltungswille und der Drang nach Veränderung fristeten damals in Bonn ein dürftiges Schattendasein. Wenn in späteren Jahren Begriffe wie Staatsverdrossenheit, der stille Rückzug ins Private zu den häufigsten benutzten Schlag-wörtern des gesellschaftlichen Unbehagens wurden, dann auch deshalb, weil die von der politischen Männer-Kultur vorgetäuschte omnipotente Leistungsfähigkeit, der Machbarkeitswahn, in einem kläglichen Verhältnis zu den tatsächlichen Ergebnissen stand. Man nannte das Vertrauenskrise und begegnete ihr mit Krisen-management. Es waren die Jahre, in dem der SPD-Politiker Erhard Eppler (Bundesminister für wirtschaft-liche Zusammenarbeit 1968-1974) ein viel beachtetes Buch schrieb: "Das Schwierigste ist Glaubwürdigkeit". Es war die Stunde der Marie Schlei. Sie zimmerte im guten Glauben mit an einer morschen Bühne, wo Ver-trauen, Kompetenz, gar menschliche Integrität die Hauptrollen spielen sollten. Was ihre Politiker-Kollegen nicht mehr rüberbrachten - diese Glaubwürdigkeits-defizite vermochte sie zeitweilig auszugleichen: Eben dafür war sie da, war sie ins Kanzleramt, später ins Entwicklungshilfeministerium geholt worden - Mütter-Jahre, Maries Jahre.

MÜTTER-JAHRE

Marie Schlei vereinte Eigenschaften einer weich-herzigen Mutter, die Verhärtungen, Rüpeleien, Machen-schaften abzufedern vermochte. Schnell hatte man ihr im Bonn der "Zampanos" - wie sie die Männer in An-spielung an den Fellini-Film "La Strada" nannte - ein Etikett verpasst: Mal hieß sie "Mutter Marie", mal "Mut-ter Courage". Marie Schlei verstand die ihr zugedachte Rolle in der Politik keineswegs falsch. Sie wusste nur zu gut, dass sich "Unabhängigkeit nicht kaufen lässt". Ihr schwebte deshalb auch kein Frauen-Aufbruch, schon gar kein Frauen-Durchbruch, keine Autonomie vor. "In Bonn war ich die Trösterin, die die Arme ausbreitete, um alle vom Kanzler auf den Schlips Getretenen wieder aufzumuntern. Und wenn ich selbst zum Kanzler musste, brauchte ich immer einen Notizblock und ein Taschentuch zum Weinen."

ARBEITER-MÄDCHEN

Doch Marie Schlei musste sich mit Härte als Frau durch-setzen. Quasi als Selbstschutz kultivierte sie in ihrer scheinbar klassenbewusst-groben Manier das arrivierte Arbeiter-Mädchen: "Ick bin dat typisch chancenbehin-derte Menschenkind. Mutter wa Fabrikarbeeterin, Vater Klempner. Mensch, ich lass mir doch nicht verscheis-sern." Das war einer ihrer Standardsätze - nicht nur am Tresen. Doch hinter ihrem scheinbar burschikosen Selbstbehauptungswillen gab es Selbstzweifel, lauerte eine sie lähmende Resignation.

KREBS ALS "STAATSGEHEIMNIS"


Marie Schlei war zumindest gut beraten, den an ihr nagenden Krebs wie ein "Staatsgeheimnis" zu hüten. Die Ärzte im Berliner Virchow-Krankenhaus hatten sie ge-warnt, wenn sie weiter so besessen arbeite, sei das glatter Selbstmord. Aber auf die Ärzte wollte oder konnte sie nicht hören. Sie hatte noch die Kraft, um ihrem "Haustier", wie sie den Krebs bezeichnete, einige Lebensdaten anzutrotzen. Bekannt wurde sie damals in der Öffentlichkeit mit dem Stempel "Mama Kanzler-amt". Marie Schlei erlebte einen ungeahnten Durch-bruch. Sie war nämlich in der Lage - wie ihre Fraktions-kollegin Renate Lepsius in ihrem 1987 veröffentlichten Buch "Frauenpolitik als Beruf" bemerkte - "mit ihrem Charme und ihren strahlend blauen Augen und ihrer Persönlichkeit, Menschen zu faszinieren. Sie machte das auch mit einer großen dramaturgischen Darstellungs-kunst ...". Die Gefühlslage der Nation war bestimmt von der Mutter-Suche. Und in Marie Schlei hatten sie eine gefunden. Sie wurde mit verheißungsvollen Tönen salon-fähig gezeigt, kompetent für alle Lebensfragen. Sie jagte von Talkshow zu Talkshow, von Interview zu Inter-view. Die Bonner Sprechblasen-Kultur bedurfte einer Auffrischung.

LETZTE GESPRÄCHE

Wenige Monate vor ihrem Tod im Sommer 1982 fuhr ich immer wieder nach Berlin-Reinickendorf, besuchte Marie Schlei in ihrem Fünf-Zimmer-Reihenhaus der Arbeitergenossenschaft "Freie Scholle" im Allmendeweg 112. Damals konnte ich noch nicht ahnen, dass ich meine mit Marie Schlei aufgenommenen Tonband-Protokolle erst Jahre später veröffentlichen sollte. Ich hatte zu jener Zeit auch keine Mut-maßung darüber, dass es in diesem Land des neunziger Jahrzehnts zu einem Frauen-Aufbruch kommen würde. Wie sollte ich auch. Mich interessierte das Schicksal einer Frau, die in Bonn, zuletzt als Entwicklungshilfeministerin, verheizt, ein Opfer der Intrige geworden war. Ich wollte hören und sehen, wie Marie Schlei den Kalten Krieg der Männer verarbeitet hatte.

Ein kraftzehrendes Leben intensiv erfahrener deutscher Widersprüchlichkeiten lag hinter ihr. Ihre einst hell-wachen blauen Augen hatten sich längst zu Sehschlitzen verengt, ihre Wangen waren eingefallen, ihre Lippen waren rissig, auf der Stirn perlte Schweiß. Wehmut, die sie zu verbergen suchte, Trauer und Verzagtheit. Sie hatte ihr Gegenüber geortet - den Tod.

Als ich mich von Marie Schlei verabschiedete, klingelte es an ihrer Tür. Reporter baten um Einlass. "Mein Kampf mit dem Krebs" hieß ihr Bericht über Marie Schlei. Fotos von der todkranken Frau wollten sie "mög-lichst hautnah" schießen. - Erst ihren politischen Auf-stieg als "Mama Kanzleramt", dann ihren Rausschmiss aus dem Kabinett, nun der Einbruch in die Privatsphäre mit ihren nahenden Krebstod: mit illustrer Gründlich-keit gnadenlos vorgeführt, umschmeichelt - vermarktet.

Marie Schlei starb im Alter von 63 Jahren am 21. Mai 1983 - eine "Sozialdemokratin aus dem Bilderbuch", wie die "Augsburger Allgemeine" ihren Bericht einfühlsam betitelte.

Von ihren Genossen aus Bonn mochte sie vor ihrem Tode die meisten nicht mehr sehen.

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LEBENS-PROTOKOLL DER MARIE SCHLEI:

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"Als ich im Jahre 1969 - direkt nach der Operation in den Bundestag ging, hatte ich wieder Mut gefasst. Ein langer Weg der Ungewissheit lag hinter mir: Es schien jetzt so, als hätte ich den Krebs besiegt. Ich schöpfte Hoffnung, weil keine neuen Krebszellen entdeckt wurden. Es war wie der Beginn eines neuen Lebens. Und es machte mir Mut, dass meine Berliner Partei mir zutraute, der Herausforderung in Bonn gewachsen zu sein.

Dieser Weg von Berlin nach Bonn war für mich ein einschneidender Bruch. Ich war damals schon fünfzig Jahre alt. (In diesem Lebensabschnitt wird man nicht mehr für besonders lernfähig gehalten.) Zudem hatte ich mir - Arbeitertochter ohne Abitur - in Berlin etwas Ungewöhnliches aufgebaut. Ich hatte viel ar-beiten müssen, bis ich Schulrätin wurde.

Bei meinem Abschied von Berlin wusste ich, dass ich eine Lücke hinterließ: Ich hielt mich ja nicht für aus-tauschbar. Für viele war ich ein Mensch, der aussprach, was sie vielleicht dachten, aber öffentlich zu sagen sich nicht trauten. Die Beziehungen, die zwischen Schul-räten, Lehrern, Rektoren und Schulkindergärtnerinnen entstanden, waren wirklich freundschaftlich. Wir woll-ten vieles an der Schule verändern. Jahrelang beschäf-tigten wir uns mit der Umgestaltung der Lehreraus-bildung oder der Anerkennung der Vorschule. Durch Überzeugungskraft schafften wir es, dass Kinder aus sogenannten einfachen Verhältnissen mehr wurden als angelernte Arbeiter, sich für einen Beruf qualifi-zierten. Wir erreichten, dass Mädchen auf weiter-führende Schulen gingen, so dass in den siebten Klassen Jungen und Mädchen im Verhältnis von 50:50 waren.

Ich habe für meine Veränderungsvorschläge Lehrer, Eltern, Auszubildende gewonnen. Dabei lernte ich, was Reformen tatsächlich bedeuten: nämlich die Men-schen dort abzuholen, wo sie stehe, das heißt, sich nicht als Heilsprediger aufzuspielen und sich nicht die Lebens-konzeption anderer anzumaßen.

Schon unsere Sprache ist der Beweis für Ver-fremdung und Entfremdung. Mit unserer Schein-Fremdsprache versuchen wir, einfache Menschen, denen diese Sprache nicht geläufig ist, zu diskrimi-nieren, auszugrenzen. Dadurch wird eine neue Klasse geschaffen. Wir unterhalten uns ja nicht mehr, wir verfremden - quasi eine neue Sozialtechnik - mit Satz-bau und Wortschatz. Dies führt zwangsläufig zu einer Entdemokratisierung unseres Miteinanders. Unsere Sprache verbindet uns immer weniger - mit ihr schaffen wir als Ausdruck unsere Identität neue Schranken. Auch ich ertappe mich immer wieder dabei, dass ich Fremd-wörter, die im Journalismus gang und gäbe sind, einfach übernehme.

Als ich in der Nachkriegszeit nach Berlin gekommen war, lernte ich als erstes, wie man berlinert, weil ich mich mit den Arbeiterkindern unterhalten und ihnen etwas beibringen wollte. Vom Lernen habe ich immer viel gehalten. Meine Eltern hatte ich verloren, meinen Mann, meine Heimat, die Aussteuer, auch ich verdient hatte: Nur was ich gelernt hatte, das blieb mir und konnte mir nicht genommen werden.

Für mich war es immer wichtig, mit dem anderen mitzudenken. Meine Mutter erzog mich im christlichen Sinne. Von meinem Vater lernte ich den gewerkschaft-lichen Grundsatz, für den anderen mitzusorgen. Wir waren sehr arm, und ich trug in meiner Kinder- und Jugendzeit die Kleider meiner älteren Cousine.

Jedes von uns in den folgenden Jahren erkämpfte sozialpolitische Gesetz habe ich als einen Gedenkstein für meine früh im Elend gestorbenen Arbeitereltern angesehen. Menschen wie sie haben sich nicht vorstellen können, dass im Laufe einer Generation die soziale Lebenswirklichkeit der deutschen Arbeiterschaft so positiv verändert werden könnte.

Jahrelang drückte mich ein Schuldgefühl gegenüber meinen Eltern, obwohl ich doch nichts mehr tun konnte. Mein Vater starb, als ich siebzehn war. Meine Mutter starb auf der Landstraße, auf der Flucht vor sowje-tischen Truppen. Wie hätte ich mich gefreut, wenn ich mit ihnen hätte teilen, für sie an ihrem Lebensabend hätte sorgen können.

Mein Leben in Berlin, das heißt meine Arbeit als Lehrerin, füllte mich aus. Der Lehrerberuf ist etwas Wundervolles. Die Beziehung zu jungen Menschen er-öffnet ungeahnte, immer neue Möglichkeiten. Und was ich gab, bekam ich auf unterschiedliche Weise zurück. Vielleicht klingt das wie eine allzu egoistische Ein-stellung, aber es ist andererseits eine, bei der man selber nichts zurückhält.

Anfang der siebziger Jahre waren wir in der Gleichbe-rechtigung der weiblichen Menschen ein gutes Stück vorangekommen. Das war Kärrnerarbeit gewesen. Damals war es normalerweise so: Auch wenn Mädchen gute Zeugnisse bekamen, blieben sie auf der Haupt-schule. Die Jungen dagegen, auch mit miserablen Noten, wurden ganz selbstverständlich auf weiter-führende Schulen geschickt. Ich redete wie ein Wasserfall auf die Eltern ein, ihrer Tochter doch eine Chance zu geben, die Realschule oder das Gymnasium zu besuchen. Wir hatten ein Schulsystem mit einer zehn-jährigen Schulzeit für Jungen und Mädchen entwickelt. In Berlin arbeitete ich in Zirkeln, die in ihren Reformbe-strebungen beherzter waren als die Kreise in der Bundes-republik, vor allem im methodisch-didaktischen Bereich.

Insgesamt gesehen verspürte ich kein Bedürfnis, wo-anders zu wirken, zumal ich ja wusste, dass ich in Bonn keine Schulpolitik machen würde, weil dafür die Bun-desländer zuständig sind. Ich wusste auch, dass all das, was ich in der Entwicklungs- und Erziehungspsycho-logie und in der Didaktik gelernt hatte, hier in Bonn nichts zählen würde. Berlin war also eine ganz andere Welt, wo Aufgeschlossenheit, Bewegtheit, Lachen und Weinen eine Rolle spielten. Wer lacht und weint denn heute noch - und sind Lachen und Weinen nicht gerade die Eigenschaften, die den Menschen vom Tier unterscheiden; Merkmale, die direkt ausdrücken, welche Gefühlsspanne der Mensch hat?

Der Erfolg unserer schulpolitischen und pädagogischen Bemühungen in Berlin schien nach Jahren greifbar nahe gerückt. Klar, dass auch enge menschliche Bin-dungen gewachsen waren, die durch meinen Weggang jäh auseinandergerissen wurden.

In der Sozialdemokratie hatte ich mich bis dahin eher als Zaungast gefühlt. Ich setzte mich nur, sozu-sagen im kleinen Rahmen, in den Arbeiterbezirken Wedding und Reinickendorf für sie ein, ohne Aufsehen zu erregen. Kontakte mit der Bevölkerung hatte ich über meine Funktion als Lehrerin, Rektorin und schließlich als Schulrätin. Hier machte ich mir vielleicht einen Namen als jemand, der sich um Gerech-tigkeit bemüht und beharrlich und einfallsreich für die Rechte von Kindern und Eltern eintritt.

Das hatte sich wohl bis zu Herren in der Berliner Parteizentrale herumgesprochen. Sie meinten, ich sollte doch meine Durchsetzungsfähigkeit, mein Engage-ment und meine Art, Politik zu machen, im Bundestag unter Beweis stellen. Die Genossen sagten: 'Wenn du nicht gehst, dann wird mit Sicherheit ein Mann in das nächste Parlament kommen.' Mit diesem psychologi-schen Trick haben sie mich erwischt. Letztlich war es genau das Argument, das mich nach Bonn gehen ließ. Ich wäre mir anderenfalls selbst ziemlich unglaub-würdig vorgekommen. Denn ich regte mich fortwährend darüber auf, dass in den führenden Gremien so wenig Frauen saßen. So versuchte ich immer, Frauen in obere Schulpositionen zu bringen, zum Beispiel wenn eine Rektorenstelle neu besetzt werden musste. Und in den Parteiversammlungen war ich es, die sich seit eh und je darüber mokierte, dass zwar über die Hälfte der Menschheit Frauen sind, aber in der Politik nichts, aber auch gar nichts zu melden hätten. Von daher gesehen konnte ich dieses - überraschende - Angebot nicht ausschlagen. Hätte ich abgelehnt, dann wären unsere Frauen zu Recht verärgert gewesen und hätten mich mit ihrem berechtigten Vorwurf getroffen, ihnen eine Chance vermasselt zu haben. Für mich persönlich war die Entscheidung für Bonn eine Art Lebenswende.

Wie alle Menschen hatte ich große Angst vor dem Krebs und war zutiefst erschlagen, als es mich unver-mittelt traf. Zum Glück blieb ich fest verankert in meiner Arbeit und Fürsorge für meine damals sechzehn- und siebzehnjährigen Kinder Christine und Ulrich, so dass schon diese Beanspruchung wie ein Heilmittel auf mich wirkte. Und allmählich gelang es mir, meine Todesangst zu verdrängen, so dass mir noch Lebens-kraft blieb.

Früher hatte ich immer gesagt, wenn ich einmal Krebs habe, dann fahre ich sofort gegen einen Baum - gegen eine uralte Eiche im Weserbergland, die mir dort unmittelbar nach dem Krieg - in ihrer ruhigen Gelassen-heit zu einer Art Symbol geworden war.

Nach all dem Leid, dem Unrecht und der Grausamkeit, die von Nazi-Deutschland ausgegangen sind, sah ich in dem Baum ein Symbol dafür, dass es an der Zeit war, endlich unsere Friedenshaltung gegenüber den Polen unter Beweis zu stellen. Das wünschte ich mir - ich, die auch eine Heimatvertriebene war, und auch in Anbe-tracht der Tatsache, dass elf Millionen Deutsche ihr Zuhause verloren hatten und in die Bundesrepublik integriert werden mussten. Es war vielleicht das mich bewegendste Erlebnis, dass die Deutschen fähig waren, diesen Schritt zu gehen, dass es mit den Ostverträgen Willy Brandts möglich war, das Bewusstsein der Menschen zu verändern.

Als Heimatvertriebene konnte ich gut nach-empfinden, dass die älteren Menschen ihre Ver-wurzelung in der Heimat verstärkt spüren - es wird dann alles wieder lebendiger - die alten Beziehungen bekommen eine neue Intensivität. Dazu die Traurigkeit über den Heimatverlust und die Erinnerung an die Nöte, die man als Flüchtlinge durchleben musste. - Die Ost-verträge - das war eine großartige Friedensleistung der Deutschen gegenüber den Polen, die nie in Frage gestellt werden darf.

Als ich wusste, dass der Krebs mein Wegbegleiter sein würde, fuhr ich nicht gegen die Eiche, sondern nach Bonn. Ich war besessen von der Absicht, in den mir noch verbleibenden Jahren etwas zu bewirken, gesellschaft-liche Veränderungen zugunsten der Frauen anzu-stoßen. Ich nahm mir gar nicht die Zeit, über diesen Schicksalsschlag Krebs nachzugrübeln. Das erlaubte ich mir nicht.

Bis dahin kannte ich keinen der Herren aus der Bonner Politik persönlich. Die ersten Wochen als frische Bundes-tagsabgeordnete in Bonn reduzierten sich auf mehr oder weniger schüchterne Begegnungen mit prominenten Männern, die ich bisher nur vom Radio oder, später, vom Fernsehen kannte. Ich neigte anfangs dazu, sie zu überhöhen. Hießen sie nun Willy Brandt (*1913 +1992), Herbert Wehner (*1906 + 199o), Helmut Schmidt, der legendäre Chefdenker Carlo Schmid (*1896 +1979) oder vielleicht auch andere. Doch meine Einstellung gegenüber den Führungs-Figuren änderte sich schnell. Sie kamen mir menschlich näher, als ich merkte, wie nervös und angespannt sie waren. Sie mussten ein Arbeitsvolumen bewältigen, das ich für unmenschlich hielt, und sie standen unter einem immensen Erfolgsdruck.

Ich war völlig andere Arbeits- und Umgangsformen gewöhnt. (Allein schon das Rheinländische war mir irgendwie fremd.) Mein angestammtes Milieu glich einer Art Kinderwelt mit unverklemmten, geraden Menschen. Ich musste ich lernen, meine Zeit noch zielbewusster einzuteilen und mit noch weniger Schlaf auszukommen. Ich musste mein Arbeitstempo enorm steigern, um all den Verpflichtungen nachzukommen, wie die Fraktion zusammenzuhalten, Kompromisse zu finden, Plenarreden vorzubereiten; und ich wollte Kon-takte aufbauen zu den Menschen. So musste ich mir ge-wisse Fähigkeiten regelrecht antrainieren, wie Texte schnell durchzuarbeiten und Sachverhalte rasch zu re-kapitulieren. Erst als ich diese Norm erfüllen konnte, glaubte ich, nicht ganz überflüssig zu sein.

Und trotzdem hatte ich das Gefühl, Schütze im letzten Glied zu sein. Ich sah mich plötzlich mit so vielen par-lamentarischen Könnern konfrontiert, die mir meine Wissenslücken verdeutlichten - was ich, Preußin und Pädagogin, die ich nunmal bin, als sehr unangenehm empfand. Eine Abgrenzung meinerseits von der doch von Männern vorgegebenen Arbeitsnorm gab es nicht: Ich hatte Respekt vor ihren Leistungen und ihrer Fähig-keit, unterschiedlichste Politikbereiche zusammen-zubringen.


Mit der Zeit wurde mir klar, dass Bonn auch eine Arena für Karrieristen ist - ein Schauplatz bundes-deutscher Politik, der von absichtlichen Verdrehungen und Unterstellungen lebt, wo verletzende Polemik einen Eigenwert darstellt und entsprechend kultiviert wird. Ich bekam auch mit, wie groß die psychischen Probleme der Kollegen mit sich selber waren, wie die Politik-Szenerie sie fertig machte, während sie sich gleichzeitig als omnipotent darzustellen versuchten.

Bonn hat mir zunächst imponiert. Dann merkte ich, dass da oft nur eine Show nach der anderen abgezogen wird, um im Rampenlicht zu stehen. Persönliche Eitelkeit trieb viele umher. Ich traf auf hartgesottene Handwerker, die stundenlang isoliert in ihren Zimmern vor sich hin werkelten, und wenn sie dann endlich zum Vorschein kamen, dann ballerten sie mit Zynismus und Polemik aus allen Rohren. Da stellt man sich natürlich die Frage, wieso Veranstaltungen wie der Bundestag solche Verhaltensdeformationen zur Folge haben. Mein Motto lautete dagegen immer: Mensch mit Menschen zu sein. Weshalb lebt man denn sonst? Ich habe meine Aufgabe als Volksvertreterin nie als Job aufgefasst. Wer diese Einstellung hat, der ist hier fehl am Platze.

Wenn ich mir die Bonner Qualifikationskriterien an-schaue, dann möchte ich am liebsten von einer Stu-dienräte-Republik sprechen. Wer rhetorisch geschickt ist, wer eine gute Schulausbildung verfügt und sich noch Doktor nennen darf, der hat für eine Karriere in Bonn eine optimale Ausgangsposition. Aber das Volk setzt sich nicht nur aus Juristen, Oberstudienräten, Politologen und Soziologen zusammen, in unserem Volk leben zig Millionen sogenannter einfacher Menschen: Diese Menschen müssen doch mitbeteiligt werden.

Und dann kommt hinzu: Die Politik muss nachvoll-ziehbar sein. Nehmen wir zum Beispiel die Fach-arbeiter. Sie wissen, dass sie wichtige Exportprodukte herstellen und fühlen sich auch gar nicht - wie die marxistische Theorie behauptet - entfremdet, weil sie nur einen Teil des Produktes produzieren. Nein, ihre Fantasie reicht weit genug, um ihre Arbeit zum End-produkt in Beziehung zu setzen. Und sie wissen genau, wohin ihre Produkte gehen; auch, dass ihre Arbeit die wirtschaftlich notwendigen Devisen bringt, ohne die wir schlecht dastünden würden. Ohne ihre Arbeit wäre unser Lebensniveau viel niedriger; für Reformen hätten wir mit Sicherheit kein Geld, von der Entwick-lungshilfe für die Dritte Welt ganz zu schweigen. Und so manche wissenschaftliche Institution müsste ersatzlos gestrichen werden, wenn in den Fabriken nicht ein beträchtliches Bruttosozialprodukt erwirtschaftet würde. Aber, so frage ich mich, wie steht es mit dem gesellschaftlichen Ansehen unserer Facharbeiter?

Ich persönlich war nie eine Männerfeindin, obwohl es bei vielen Männern auffällig nur um ein Thema geht: wie wird man mit dieser oder jener Person fertig, wie kann man auf die Arbeit abwälzen, wie kann man sie diskriminieren und für die eigenen Ziele gebrauchen. Es gibt ja die Möglichkeit, zu schweigen und mit einer ge-wissen Gleichgültigkeit alles über sich ergehen zu lassen. Ich habe meistens meinen Mund ziemlich weit aufge-macht und meine Meinung gesagt. Die Männer können es aber nicht ertragen, die zweite Geige zu spielen. Das Bonn der Politik ist ein sprechender Ausdruck unserer Gesellschaft - die leider immer noch eine Männer-Gesell-schaft ist, wo Männerinteressen höher als Frauenbe-lange angesehen sind. Obwohl mehr als die Hälfte der Bevölkerung Frauen sind, sitzen in den Führungs-gremien vor allem Männer. Da ist etwas Grundsätzliches nicht in Ordnung, und das ist auch nicht im Sinne des Grundgesetzes.

So tüchtige Frauen wie Käthe Strobel (*1907+1996), Katharina Focke oder Antje Huber sind ja in Bonn nicht an ihrer Regierungs-verantwortung gescheitert. Viele der von ihnen durchge-setzten Reformen halfen Millionen Menschen. Nein, nicht im Amt sind sie gescheitert, sondern an der Bonner Männerwelt, die schnell alle Vorurteile parat hat, wenn einer Frau ein Fehler unterläuft, wie jedem Mann doch auch.

Da reichen dann diskriminierende Wörter wie ,glück-los' ,graue Maus' , 'Kabinettsdame', 'farblos' aus. Männer halten es eben nicht aus, wenn eine Frau die Nummer eins ist. Als Mitarbeiterinnen sind die Frauen anerkannt, ja sie können mittlere Führungspositionen erreichen wie etwa in der Fraktion, in den Bundestags-ausschüssen oder in den diversen Arbeitskreisen. Die überwiegende Anzahl derer, die in Bonn Meinung machen, die Ministerialbürokraten, die Jour-nalisten, die Parteileute, sind Männer, die in der Bewertung Männer-Maßstäbe anlegen. Für diese Männer ist die Ordnung gestört, wenn eine Frau ganz oben ist, beispielsweise als Ministerin. Da spielt sicher das Unbewusste auch eine Rolle. Wenn Frauen Karriere machen, dann ist das für Männer eine Art Palast-revolution.

Die Bonner Meinungsmache spielt sich am Biertisch oder an der Bar im Bundeshaus ab. Dort sitzen die Männer zusammen, schieben sich Informationen zu, kungeln Jobs aus, werten sich gegenseitig auf und setzen Urteile über andere in Umlauf: Männerbünde im alten Sinne, modern verpackt in einer beschränkten Nadelstreifenanzug-Mentalität. Sicher, Frauen können heute an solchen Stammtischsitzungen teil-nehmen. Aber die Frauen, die ich kenne, lehnen das ab, weil sie meinen, ihre Zeit in Bonn besser nutzen zu können.

Dass die Frauen in der Politik eine Minderheit sind, das ist auch das Problem bei der vielzitierten weiblichen Solidarität. Aber wir Frauen vermögen eine andere Art der menschlichen Beziehungen zu entwickeln, eine andere Art des Umgangs in den Ministerien und mit der Presse. Ich denke dabei an die Abertausende von Briefen, die ich erhielt, in denen oft zu lesen stand: "Ich wende mich an Sie, weil Sie eine Frau sind." Demzufolge scheint in unserem Volk der Wunsch virulent zu sein, gerade Frauen in der Politik zu sehen, weil und insofern diese für Menschlichkeit stehen. Doch die Ellenbogen-politik der Männer dominiert. Darin sind die Bonner Männer stark. Aber solche Werte und Umgangsformen haben heutzutage auch in den Regierungsetagen nichts mehr zu suchen. Wir Frauen hingegen sind darin geübt, direkt und frei zu beschreiben, was wir fühlen, meinen, erfahren. Darin liegt auch die Schwierigkeit, Veränder-ungen durchzusetzen: Wenn wir Frauen etwas refor-mieren wollen, sind wir ja meitens selbst noch Such-ende, und wir werden dann von Männern als Auf-rührerinnen und Umstürzlerinnen disqualifiziert. Dabei nehmen wir nur die Herausforderung ernst, die Gesellschaft ein wenig menschlicher zu gestalten.

Insgesamt hinkt das Bonn der Politik der gesamtge-sellschaftlichen Entwicklung des Geschlechter-Verhältnisses hinterher. In diesem Punkt ist das Be-wusstsein und die daraus resultierende Haltung dort unterentwickelt. Nach dem Krieg war es ungemein schwer, den Gleichberechtigungsgrundsatz in der Verfassung zu verankern: An den Hindernissen, die sich der Sozialdemokratin Elisabeth Selberg in den Weg stellten, wäre schon erkennbar gewesen, was uns Frauen in der westdeutschen Gesellschaft noch bevorsteht. Während der Jahrzehnte der konservativen, ja restau-rativen Regierung unter Adenauer sind die krassen Benachteiligungen und das Überfordertsein der Frauen überhaupt nicht ins Blickfeld gerückt worden. In der entscheidenden Wiederaufbau-Phase wurde ver-säumt, Frauen-Anliegen und die Notwendigkeit ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz aufzunehmen.

Damals war alles viel zu materialistisch ausgerichtet. Auch die konkreten Vorstellungen der Frauen waren seinerzeit ziemlich verschwommen. Sonst hätte es wahr-scheinlich zu einem längerem Atem gereicht und zur Klarheit darüber, was für eine Sisyphusarbeit noch zu bewältigen ist, um aus dem schwer erkämpften Verfassungsgrundsatz Wirklichkeit werden zu lassen. Dieses Problem ist in seiner ganzen Schärfe nicht angegangen worden. Deshalb wurden auch keine Kampfformen entwickelt. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir uns doch eingestehen, dass die Frauen, die sich seinerzeit um Parteimandate bemühten, als wahlstrategisch platzierte auf Stimmenfang für die Männer-Welt geschickt wurden. Dabei forderten die Fakten in diesem Land ein anderes Vorgehen. Es dauerte ja zum Beispiel sehr lange, bis in den Gewerkschaften die schlechte Bezahlung von Frauen, der nie-drigere Lohn für dieses Arbeitskräftereservoir, thematisiert werden konnte. Das wurde oft verhindert durch die Heuchelei und den Neid der Männer, die ihre Existenz gefährdet sahen. Es war ja für den Nicht-Facharbeiter nicht leicht, nachzuvollziehen, dass seine Arbeit nach nur vierzehn Tage Anlernzeit von einer Frau übernommen werden konnte. Und sie wollte auch noch den gleichen Lohn haben! Das war zu viel fürs männ-liche Gemüt: Einkommen bedeutet eben gesellschaft-liches Ansehen und den Anspruch auf die Moral des Stärkeren.

Dennoch stand ich immer in einer gewissen Distanz zur Frauenbewegung, die mit ihrer Art des Kampfes um Gleichberechtigung, mit ihren Methoden und ihrem Sprachgebrauch die Mehrzahl der Menschen nicht erreichte. Etwas durchsetzen heißt für mich zuerst, die Leute dort abzuholen, wo sie tatsächlich stehen. Ich kann einen Emanzipationskampf nicht so führen, als gäbe es nur Akademikerinnen oder Frauen mit guter Schulbildung. Die Frauen, die die Hausarbeit verrichten und die Kindererziehung über-nehmen, also zig Millionen Frauen, die werden dabei vernachlässigt.

Ganz im Sinne des schwedischen Wirtschaftswissen-schaftlers Gunnar Myrdal(Nobelpreis im Jahr 1974, *1898+1997), der einmal sagte, er kenne niemanden, der zugunsten seiner Ideale bereit ist, seine Privilegien aufzugeben, ist es auch bei den Männern, die trotz aller Sonntagsreden ihre Privilegien vehement verteidigen. Die Frauen müssen lernen wie die Männer, sie müssen wissen, wohin sie wollen, und dass, wer Einfluss nehmen will, hart arbeiten muss. Wir Frauen haben eine andere Lebensdevise einzubringen. Wer werden dann eines Tages schaffen, was der deutsch-ameri-kanische Philosoph und Psychoanalystiker Erich Fromm (*1900+198o) fordert. Er verlangt, dass wir unser Leben nicht vom Haben, von der Gier nach Besitz bestimmen lassen, sondern uns auf eine Lebens-weise einlassen, die vom Sein geprägt ist, davon, dass der Mensch einen Eigenwert hat, der Mensch an sich gilt, also die Frau soviel wie der Mann.

Wenn ich nur an meine Cousine denke, dann sehe ich, wir haben uns schon ein Stück in diese Richtung be-wegt. Mit 47 Jahren war es ihr endlich möglich, sich fortzubilden. Sie hatte die Schule nicht besuchen dürfen und war Verkäuferin geworden. Ihr Leben war ziemlich mühselig. Mit Hilfe des Arbeitsförderungsge-setzes konnte sie sich kostenlos zur Sekretärin aus-bilden lassen. Das war schon von Kindesbeinen an ihr Wunsch gewesen. Heute ist sie Sekretärin im Lehrer-seminar. Wenn ich diesen Fortschritt anderen zu ver-deutlichen versuche, wird leider allzu oft nur auf die kurze Zeit der Geldzuwendung hingewiesen - mehr nicht. Nach dem Motto, was nichts kostet, ist nichts wert.

Ich persönlich habe mich nie auf Positionen beworben. Das klingt vielleicht etwas überheblich. Ich wurde aufgefordert, mich für die Rektorenstelle zu melden und später mich als Schulrätin zu bewerben. Und ich wurde aufgefordert, für den Bundestag zu kandidieren. Die SPD-Spitze bat mich, Helmut Schmidts parlamen-tarische Staatssekretärin und schließlich Entwicklungs-hilfeministerin zu werden. Die Sucht nach Ämtern, koste es, was es wolle, hat mich nie getrieben. So etwas liegt mir völlig fern. Dieses Hecheln nach Be-deutung und Macht war in meiner Zeit ganz den Männern vorbehalten.

Als Beispiel für die ortsübliche männliche Karriere-Kultur muss ich mir nur den einstigen Juso-"Rebell" Wolfgang Roth (Vorsitzender der Jungsozialisten 1972-1974) vor Augen führen. Er meldete sich nach seinen schlagzeilenträchtigen Juso-Eskapaden für den Parteivorstand, für den Bundestag sowieso, und dann marschierte er schnurstraks nach oben auf den stell-vertretenden Fraktionsvorsitz zu. Durch sein feinge-sponnendes Selbstanmeldungsnetz fiel dann eine Frau: Ich hatte mir die hellwache Renate Lepsius als meine Nachfolgerin gewünscht. Aber in Sachen Selbstan-meldung sind in Bonn die Frauen den Männern weit unterlegen. Für die ist das oft ein egomanisches Muss. Sie planen für sich ihre Karrierestufen, wann und unter welchen Bedingungen sie dies oder jenes erreichen können - und vor allem, mit welchen Entscheidungs-trägern sie sich gut zu stellen haben. Bei uns Frauen hingegen ist das in erster Linie ein vieldiskutierter Findungsprozess, der sich ganz offen in der Gruppe abspielt. Schon deshalb sind wir Frauen nie auf diese für uns seltsame Idee gekommen, Selbstanmeldung zu betreiben und das politische Handeln dieser Maß-gabe unterzuordnen. Wir Frauen redeten miteinander über unsere Leistungsgrenzen, über unsere Handicaps im politischen Betrieb. Ich sah Frauen - auch Männer -, die seit Jahren ohne viel Medienrummel kompetent schufteten, aber nie etwa , obwohl sie viel eher einen Anspruch darauf hatten, eins höher zu rücken.

Jedenfalls war Karriere für mich nie ein Thema; ich brauchte mir nichts zu beweisen. Viel später allerdings, als ich üblen Attacken ausgesetzt war, da wollte ich schon den klaren Beleg dafür antreten, dass eine Frau - in diesem Fall Marie Schlei - eine von den vielen ist, die etwas kann. Macht hatte ich auch - aber eine ver-tretbare Macht, die nicht darauf ausgerichtet war, andere Menschen zu verletzen, zu verdrängen, zu de-mütigen oder gar zu zerstören. Was ich im Unterricht von meinen Mädchen und Jungen an Verhaltensweisen gefordert hatte, versuchte ich auch in Bonn in die Tat umzusetzen. Mein Lebensversuch war es, immer Suchende zu sein, immer wieder zu wagen, sich und die Umgebung in Frage zu stellen. Das ist sicherlich nicht die einzige Lebensform, aber es ist eine sehr intensive, mitunter auch gefährliche.

Helmut Schmidt musste mir lange zureden, um mich als Staatssekretärin im Kanzleramt zu gewinnen. Er kam auf mich zu und sagte: >Du wirst mein Staatssekre-tär<. Na ja, ich reagierte darauf mit blassem Entsetzen. Ich fühlte mich nämlich im Bundestagsausschuss für Arbeit und Sozialordnung sehr gut aufgehoben. Hier konnte ich mitwirken an der Reformpolitik für die Be-nachteiligten in unserer Gesellschaft. Ich denke nur an die Dynamisierung der Hinterbliebenenrente, an die Mitbestimmung, an die Sicherung der Betriebsrenten. Was so ein Staatssekretär, der ja ein Staatsminister ist, zu tun, welche Aufgaben er zu bewältigen hat, das konnte ich mir zwar vorstellen, genau gewusst habe ich es freilich nicht.

Dann wurde ich Staatssekretärin. Ich musste zwischen Kanzler und Fraktion als Bindeglied arbeiten. Unab-lässig, immerfort galt es, in strittigen Sachfragen zu informieren und zu vermitteln. Das Stellenprofil des parlamentarischen Staatssekretärs hat sich in der Zwischenzeit erheblich verändert. Früher hatte er vor allem eine vermittelnde Funktion, war mehr oder weniger der Abgesandte der Fraktion bei den alltäg-lichen Regierungsgeschäften. Heute ist der parlamen-tarische Staatssekretär eher ein Junior-Minister, damit die unweigerlichen Loyalitätsbrüche im Wett-bewerb um die richtige Lösung vermieden werden. Wenn nämlich vertrauliche Informationen aus den Ministerien zu früh in die Fraktionen gelangen, kommt es zu Reibungsverlusten.

Es war wohl Herbert Wehner, der mich in diese Position brachte. Ich sollte im Kanzleramt Verbin-dungen herstellen, Ergänzungen ermöglichen. Es sollten ja ein Neuanfang der sozialliberalen Koalition sein. Mit dem Kanzler Willy Brandt wusste Wehner, was lief. Helmut Schmidt kannte er zwar aus der Fraktion und aus dem Finanzministerium, aber er konnte nicht vor-hersehen, wie er als Kanzler sein und auf die Abge-ordneten wirken würde. Jedenfalls sollte ich im Umgang mit den Parlamentariern verbindlich sein, auch mal leise reden und nicht nur fordern, mir meine Meinung nicht nur im Kanzleramt formen, sondern vor allem in der SPD-Bundestagsfraktion genau hinhören. Herbert Wehner war der Ansicht, dass ich das alles beherrschte. Als ich später Bundesministerin wurde, schrieb mir Herbert Wehner einen schönen, sehr knappen Brief: "Marie, das gibt es nur einmal, das kommt nie wieder." Demnach musste er mit meiner Arbeit, mit meiner Art, zufrieden gewesen sein. Diese Zeilen haben mich ganz glücklich gemacht. Denn ich machte oft ein Fragezeichen hinter mich, weil die Aufgaben so umfassend waren, dass ein 48-Stunden-Tag eigentlich nicht ausreichte.

Es war - unausgesprochen - meine Aufgabe, den Kanzler ständig auf etwas hinzuweisen und als jemand nach außer darzustellen, der nicht arrogant ist, der andere nicht bevormundet, eben als Mann, der Herz hat und mit Menschen umgehen kann. Er empfing ja dann auch Frauengruppen oder eine Feuerwehrmannschaft, die sich beim Löschen des Großbrandes in der Lüneburger Heide hervorgetan hatte. Aber jedes Mal war es ein Ringen mit dem Terminkalender. Mit lag sehr daran, einen Kanzler Helmut Schmidt zu zeigen, der gut zuhörte und nicht immer selber redete. Für mich war das wichtig, damit zum Beispiel gerade auch die Frauen in Deutschland ernster genommen wurden als bisher. Es muss doch möglich sein, dachte ich mir, dass Gruppen von Bürgern, die in Bonn zu Besuch sind, auch mal den Kanzler sehen und in den Park des Palais Schaum-burg gehen dürfen. Wir sollten in Bonn doch nicht wie in einer abgehobenen Isolierstation herumwerkeln und quasi als Alleinunterhalter ins Land ziehen - mit dem Wissen darüber, welches Thema nach den demos-kopischen Untersuchungen am besten in der Bevölkerung ankommt. Wir sollten doch teilhaben am Leben, an den Widersprüchen, Verzagtheiten und Hoffnungen der Menschen, daran, was sie denken und was sie bewegt. Auch Schriftsteller wie Heinrich Böll (*1917+1985), Günter Grass, Susanne Engel-brecht und Taddäus Troll (*1914+1986)fanden ja zu uns, zumal sie zu Willy Brandt zeitweilig ein geradezu inniges Verhältnis hatten - später war es angespannt.

Ich glaube, die Pflege menschlicher Beziehungen spielt sich auf sehr unterschiedlichen Ebenen ab; sie wird oft schon im kleinsten Bereich vernachlässigt und bleibt unterentwickelt. Dann klagen alle über die Eiszeit der Herzen. Diesen frostigen Stil, diese abweisenden Umgangsformen versuchte ich im Kanzleramt zu ändern. Das fanden viele nicht gut. Ich habe zuweilen Briefe, die nach draußen gingen, dreimal zurückgehen lassen, weil sie wie ein Formblatt, mit genormten Sätzen, abgefasst waren. Ich stellte mir vor, welche Wirkung solche Briefe auslösten; da wandten sich Bürger mit ihren Problemen direkt an den Bundes-kanzler, und sie erhielten ein abweisendes, unverständ-liches Null-Acht-Fünfzehn-Schreiben als Antwort zurück. Ich habe die Referenten immer wieder neu formulieren lassen, weil sie unfähig oder auch nicht willens waren, etwas verständlich auszudrücken, die Bürger lieblos mit x-beliebigen Paragrafen eindeckten. Ohne Verständnis, ohne Anteilnahme, ohne reale Hilfestellungen wurden die Briefe im Schnellverfahren herunterdiktiert. Das sprach sich schnell herum, dass ich so etwas nicht durchgehen ließ, und eine Flut von Briefen kam dann auf mich zu. Man glaube, dass ich die Post für alle machen könnte. Die Konsequenz war, dass ich einen zusätzlichen Referenten als Briefeschreiber benötigte. Da intervenierte hilfreich der Bundeskanzler persönlich, was ungewöhnlich ist, weil er sich um die Verwaltung ja nicht kümmern muss.

Helmut Schmidt nahm mich überall dorthin mit, wo er bei schwierigen Verhandlungen Verhärtungen der Positionen vorhersah. Diese Versteinerungen aufzulösen oder erst gar nicht aufkommen zu lassen, das war meine Aufgabe, und sie ist mir gelungen. Ob bei Mao Tse-tung (*1893+1976) in China, bei Lyndon B. Johnson (*1908+1973) oder später bei Gerald Ford (*1913+2006) in Washington oder auch bei Alexej Kossygin (*1904+198o) in Moskau, selbst beim Bundespräsidenten Gustav Heinemann (*1899+1976) - dort, wo es brenzlig zu werden drohte, wich ich keinen Zentimeter von Helmut Schmidts Seite. Er wollte vorbeugen, und ich strahlte vor. Bevor ich ihn zum damaligen Bundespräsidenten begleitete, wo er sich seine Ernennungsurkunde abholen sollte, meinte er zu mir, dass in meiner Gegenwart die Gespräche fried-licher, aufgeschlossener und angenehmer verlaufen würden.

Helmut Schmidt befürchtete, dass uns das Ausland für zu stark, zu mächtig, zu reich hielt. Seine Ängste waren nur zu berechtigt. Denn wenn wir aus unserer tatsächlichen wirtschaftlichen Stärke heraus Politik gemacht hätten, dann hätte man doch nur mit Miss-trauen gegenüber uns Deutschen reagiert. Für meine Begriffe hat Helmut Schmidt diesen Trapezakt gut absolviert. Er bemerkte im kleinsten Kreis oft: Wenn bloß die bundesrepublikanischen Wirtschaftsrepräsen-tanten und die Pressevertreter im Ausland nicht so protzig auftreten würden.

Vielleicht gehört es auch zu meinen Eigenarten, dass ich mir immer alle möglichen Probleme auflade. Wenn ich dann hart angegangen worden bin, habe ich mir das aber nie gefallen lassen. Ich mochte nicht, wenn ich im Arbeitsverhältnis nur als Frau angesehen wurde, der die Ministerialbeamten oft mit gequälten Höflichkeiten und Komplimenten begegneten. Darauf habe ich meistens sauer reagiert. Wie, wenn sich eine Frau so verhalten würde? Dieses ganze Theater ist doch absurd und ver-logen. Denn hinter den Masken stecken doch Ab-sichten. Das musste ich in Bonn lernen. Andererseits entwickelte sich in diesem Bonn eine mir sehr wertvolle Frauen-Freundschaft mit Loki Schmidt, mit der ich oft zusammen war.

Zu Helmut Schmidt fühlte ich mich schon wegen der Sachaufgaben hingezogen. Wir sagten uns auch zu-weilen offen die Meinung, ohne uns irgend etwas zu verübeln. Manchmal haben unsere Gespräche einen Austauschcharakter gehabt. Und es war für mich immer ein Erfolgserlebnis, wenn er sich meinen Rat-schlag zu eigen machte. Es kam auch vor, dass ich ihm via Loki - der sicherste Weg überhaupt -meine Meinung über dieses oder jenes sagen konnte. Helmut Schmidt bedankte sich tags darauf kurz bei mir und ging dann schnurstraks zur Tagesordnung über. Das war typisch für Schmidt. Typisch war auch, dass wir uns im Kanzleramt, und nur dort, in der von ihm für alle Mitarbeitere verordneten angelsächsischen Form - Vorname und Sie - anredeten.

In den Jahren, die ich in Bonn war, lag unglaublich viel Gift der Luft; eben Vernichtungswille und Macht-gier. Da dominierte der Hass über die neue Entspan-nungs- und Deutschlandpolitik. Ich sehe noch diese böse blickenden Gesichter aus den Reihen der Fraktion von CDU/CSU vor mir. Bilder, Ausdrücke, Gesten, die sich mir tief eingeprägt haben. Das war irgendwie mein allgemeiner Eindruck: Gesichter, die sich in der Masse auflösten. Auf der Bonner Regierungsbank sitzend, stellte ich mir die Frage: Wer bleibt in diesem Plenarsaal als Mensch und Persönlichkeit übrig? Die einen stram-pelten sich vor und für die Medien ab. Die anderen waren dienende Zulieferer in der Fraktion, blutleer, austauschbar. Schon ihre Physiognomie verriet, dass hier eine bestimmte Klasse ihrem Geschäft nachging. Ich dachte mir, es müssten andere Gesichter dort mal auftauchen. Einfach deshalb, weil sich die Menschen - die Menschen mit ihren Sorgen und den Schwierig-keiten, mit dem Leben fertig zu werden -, mit den glatten, allwissenden, über alles redenden Politikern kaum identifizieren können. In Bonn dominiert die Masse. Damit meine ich jetzt nicht etwas Quantitatives, sondern ein Merkmal, nämlich das Unstrukturierte, Vordergründige. Ja, Courage haben und sich ins politische Geschehen ungeschützt einbringen, das sind seltene Eigenschaften, die immer mehr verlorengehen im taktisch-strategischen Ränkespiel. Und Ver-trauensbrüche gibt es überall auf diesem Weg.

Es ist ein Faktum, dass jemand, der acht oder zwölf Jahre in der Politik tätig war, selbst bei bester Berufs-ausbildung, nur sehr schwer in seinen früheren Beruf zurückfindet. Ein pensionierter Bundeswehr-General hat es mitunter einfacher, in der Wirtschaft sein Aus-kommen zu finden. Aber viele sind materiell von der Politik abhängig. Der Druck nimmt deshalb zu. Von daher wohl dieses Kleinmachen des anderen, das Her-ausstellen der eigenen Person, dieses Aufblähen und Aufplustern wie Puter: Mir fällt in diesem Zu-sammenhang kein besserer Vergleich en. Was für ein Gegacker und Geschnatter.

Wir Politiker haben doch aber die originäre Aufgabe, Mehrheiten zu suchen, zu argumentieren und zu überzeugen. Als Arbeitskreisvorsitzende einer Fraktion kann ich zum Beispiel den ganzen Laden per Verdikt schmeißen. Aber ich kann auch Meinungen zusammen-führen, Klärungsprozesse forcieren und Schlussab-stimmungen reifen lassen. Doch solch ein Verfahren ist viel mühseliger. Wichtig scheint mir vor allem eins zu sein - in Bonn Mensch zu bleiben und nicht die Deformation zum Maß aller Dinge zu erheben.

Ich habe in Bonn gearbeitet, als sei ich jung und gesund trotz Herzfehler und Krebs. Geschont habe ich mich nicht. Doch abends, wenn ich aufreibende Reisen oder anstrengende Debatten hinter mir hatte, bekam ich Beschwerden. Ich wollte zwar die Nacht zum Tag machen, aber mein rechter Arm und die Hand schwol-len taubendick an, so dass ich meine Bluse mit einer Schere aufschneiden musste. Der Verdrängungsprozess funktionierte ansonsten ausgezeichnet. Erst einmal überlistete ich mich mit der mittlerweile widerlegten These, wenn sich fünf Jahre keine neuen Krebszellen bilden, dann sei ich geheilt. Zum zweiten ermunterten mich die Mitmenschen, im Alltag anzupacken und nach vorne zu schauen, Zukunftsperspektiven zu entwickeln. Meine Motivation war so stark, dass ich meine Krank-heit zeitweilig vergessen konnte.

Mein Politikverständnis unterschied sich vom herkömm-lichen. Das merkte ich an manchen Reaktionen. Wenn Außenstehende mitbekamen, dass ich als parlamen-tarischen Staatssekretärin im Bundeskanzleramt in meiner terminfreien Zeit im Büro Pakete schnürte und die in DDR schickte, erntete ich Kopfschütteln, Ja, es ist mein Traum, dass die Deutschen eines Tages in einem Land vereinigt leben können. Wenn ich nicht Wiedervereinigung sage, dann deshalb, weil das Deutschland in den Grenzen von 1937 meint. Ich gebe diese Hoffnung auf die Einheit der Nation nicht auf. Dieser Traum wird eines Tages in Erfüllung gehen. Davon bin ich überzeugt. Und mich bewegt, wie ein Mensch wie Herbert Wehner darum kämpfte, dass die Substanz der einen Nation nicht verloren ging. Herbert Wehner hat trotz aller Anfeindungen immer versucht, daran zu erinnern und darauf hinzuweisen, dass wir verpflichtet sind, uns für menschliche Er-leichterungen für die Millionen von Menschen im anderen Teil unseres Vaterlandes einzusetzen.

Am 17. Juni 1953 hatte ich meine Neuntklässler mit auf die Straße genommen, um ihnen zu zeigen, wie es aus-sieht, wenn Arbeiter etwas wollen. Dass der Aufstand durch russische Panzer und durch SED-Funktio-näre niedergeschlagen wurde - das sitzt bei mir noch heute tief. Das klingt vielleicht etwas pathetisch. Aber ich denke an die 17 Millionen Menschen, die nie die Chance hatten, in einer Demokratie zu leben, sondern von der Hitler-Diktatur in eine andere totalitäre Form hineinge-preßt wurden. Das kann eigentlich jemand, der in Freiheit aufgewachsen ist, nicht nachvoll-ziehen, was es heißt, von einem Totalitarismus in den anderen zu kommen. Und auf der westdeutschen Seite ist diese Kaufmannsgesinnung, die in Wirklichkeit so vieles unerledigt lässt. Diese auf das Materielle, auf das Habenwollen ausgerichtete Existenzweise eines Großteils der Bundesdeutschen muss überwunden werden. Was bedeutet schon die viel zitierte Eigen-leistung? Das hieß im Jahre 1945 bei uns ja auch nicht Eigenleistung, sondern Hilfe und Zuweisungen durch die westlichen Alliierten. Wir sollten - gerade auch die jungen Menschen - mit derlei Begriffen etwas nachdenklicher umgehen.

Die Menschen in der DDR liegen mir am Herzen. Die zwischenmenschlichen Beziehungen sind dort von mir Anteilnahme geprägt. Die Nachbarn haben sich noch etwas zu sagen und helfen sich gegenseitig, und die Familien schieben die Alten nicht einfach ab. Ich sehe die Menschen dort und bin immer wieder erstaunt, dass sich trotz SED soviel Mitmenschlichkeit erhält. Wenn es irgendwann in der Zukunft einmal zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten kommen sollte, dann kann diese Zukunft nicht so aussehen, dass die DDR-Bürger die Gewohnheiten und Eigenschaften der Menschen hier gänzlich übernehmen. Dort haben die Frauen schon einen anderen gesellschaftlichen Stellenwert erreicht. Was beispielsweise dort für junge Mütter getan wird, das ist schon vorbildlich.

Es kam mir nie darauf an, mit großen Politik-Entwürfen auf mich aufmerksam zu machen oder als eine Art Alleinunterhalterin in den Medien aufzutreten. Mein Politikverständnis war geprägt von den Kontakten mit der Bevölkerung, davon, um die Sorgen der Men-schen zu wissen. Mir war klar, dass ich mit dieser Ein-stellung kaum einen Blumenstrauß gewinnen würde. Aber diese Art des Umgangs waren eben meine Art und der Grund, warum ich mich in Bonn abrackert.

Angst: ja, Angst hatte ich in Bonn oft. Obwohl ich nachweislich nicht auf die Schnauze gefallen bin und nicht mit meiner Meinung zurückhalte. Aber im Plenum des Deutschen Bundestages, vis-à-vis mit der oft zähne-fletschenden Männer-Meute - da überkam mich schon die Angst. In solchen Momenten am Rednerpult fühlte ich mich total alleingelassen. Sicherlich steht jeder dort oben unter be-sonderer Anspannung und einem gewaltigen Leistungsdruck - zumal bei Fernseh-übertragung. Alles erstarrt in Würde - und doch werden Redner verunglimpft. Das sind oft reine Schau-kämpfe, Hahnenkämpfe - mehr nicht. Damit wird viel Zeit verplempert. In den seltensten Fällen geht es im Plenarsaal um Erkenntnisse, die für die Meinungs-bildung in der Bevölkerung wichtig sind und kontro-verse Diskussionen entfachen. Nur selten werden in den Reden aus Fakten beurteilungsfähige Zusammenhänge entwickelt. Der Schlagabtausch, die Zwischenrufe, dieses Ping-Pong-Gehämmere - das alles hat sich mittlerweile verselbstständigt. Ich musste immer wieder darüber staunen, zu welcher Niveaulosigkeit Abge-ordnete des Deutschen Bundestages fähig sind.

Im Plenarsaal hatte ich auch ein traumatisches Angsterlebnis, das noch über Jahre an mir kleben sollte. Es ist diese vernichtende, ja wollüstige Art der Männer, mit einer sich wehrenden Frau umzugehen. Also: Zur Debatte stand die Große Anfrage der CDU/CSU-Opposition, ob während eines Norwegen-Urlaubs im Jahre 1973 des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt dessen persönlicher Referent, der DDR-Spion Günter Guillaume (*1927+1995), Zugang zu "streng geheimen" oder "Cosmic-Dokumenten" hatte. Damals war die sozialliberale Koalition durch den Rücktritt Willy Brandts in eine tiefe Krise geraten. Die Medien liefen auf Hochtouren und regten sich bissig darüber auf, und in der Bevölkerung schien die Empörung über Brandts Frauen-Geschichten - daraus wurde bekanntlich Erpressbarkeit abgeleitet - samt der "Vermittler-Dienste" des Guillaume - jedenfalls schien sich die aufgeheizte Volkes Stimme über angeb-lich solch einen Kanzler gar nicht wieder beruhigen zu wollen. -

Ich dachte, wenn man jeden Politiker nur nach den eigenen moralischen Maßstäben beurteilt, dann könnte man Bonn doch zumachen. Wenn Guillaume tatsächlich Frauen-Geschichten gedeckt hätte, kann man deshalb gleich auf Erpressbarkeit schließen? Was soll da schon gewesen sein, was Rut, Brandts damalige Frau (*1920+2006) ), nicht gewusst hätte? Die wusste doch längst Bescheid und ein Teil der Presse auch. Die strebten doch dieselben Lebensweisen an. Die haben mir ja selber die Matratzengeschichten erzählt, um sich in Bonn als Kraftprotz darzustellen - oder um sich mal von seiner Alten zu erholen, vielleicht auch um Geheimnisse herauszukriegen. Ich finde es bekotzt, wie instrumental hier Frauen behandelt werden. Willy hat sich auch mit Frauen umgeben, um zu sagen: Ich kann mir nicht helfen, ich find' mich einfach hübsch.

Als ich zu Herbert Wehner ins Zimmer kam, da hatten sich die Herren schon alles ausgedacht, nämlich dass ich - frisch im Amt - in der Großen Anfrage der Oppo-sition Rede und Antwort stehen sollte. Als nichts ahnende Frau sollte ich in die Bütt steigen, weil die kenntnisreichen und zuständigen Männer offenkundig ange-schlagen waren. Denn in Wirklichkeit stand wohl die geheuchelte Sittsamkeit der Bonner Männer-Gesellschaft auf dem Prüfstand. Jeder wusste nur zu gut, was die Herren Kollegen so alles trieben, ange-fangen von den heimlichen Puff- und nächtlichen Barbesuchen.

Dass die Männer mich in dieser heiklen Angelegenheit quasi als Kanonenfutter vorschickten, habe ich im ersten Moment gar nicht begriffen. Infamität hatte ich ihnen nie von vornherein unterstellt. Ich wusste nur, dass es ein verdammt schwieriges Unterfangen sein würde, dass sie mich jagen würden.

Ich war nicht verbittert, sondern tief empört über die Menschen, die Brandt im Kanzleramt umgaben. Die hätten doch seine Mentalität besser kennen müssen, nämlich dass er ungern mit jemanden bricht, vertrauens-selig und nicht verwaltungs- pingelig ist. Ich empörte mich darüber, dass so etwas überhaupt geschehen konnte: ein DDR-Agent als persönlicher Referent getarnt. Willy Brandt hatte doch ein Anrecht darauf, gewarnt und geschützt zu werden.

Formal schien es auch nicht korrekt zu sein, dass ich die Anfrage der CDU/CSU-Fraktion beantworten mussten. Zuständig war ja der beamtete Staatssekretär Manfred Schüler (1974-1981 Chef des Bundeskanzleramtes), der zudem noch sämtliche Geheimdienstaktivi-täten des Landes für die Bundesregierung koordinierte. Und es war Prinzip, dass der beamtete Staatssekretär im Parlament Rede und Antwort stehen muss, wenn es die Sachlage erfordert. Ich hatte keinen Aktenzugang, denn die Unterlagen waren la alle bei Schüler im Panzer-schrank. Wäre ich früher mal im Innenausschuss tätig gewesen, hätte ich eine gewisse sachliche Voraussetzung mitgebracht. Aber ich war ja für Sozialpolitik zuständig und hatte folglich über Geheimdienste keinen blassen Schimmer. Nur die Männer stellten sich hin und mein-ten doppelbödig, bedeutungsvoll, dass diese Frage-stunde für mich eine Art Bewährungsprobe darstelle. Ich erhielt zu den Fragen von den Referenten des Kanzleramts vorgeformte, meist lapidare, kaum er-hellende Antworten - das war alles. Und vor meinem Bundestags-Auftritt las ich die Presseausschnitte zur Guillaume-Affäre, um die Öffentlichkeit wieder-käuend zu informieren. Aberwitzig.

Weshalb ausgerechnet ich in die Arena geschickt wurde, das war mir schon klar. Mit der Glaubwürdigkeit einer Frau sollte ich dafür sorgen, dass der neue Bundeskanzler eine Weile heil bliebe und sein Vor-gänger nicht allzu heftig attackiert und in den Schmutz gezogen werde. Helmut Schmidt musste sauber ge-halten werden, Willy Brandt durfte nicht allzu sehr bespritzt werden.

Fast neunzig Minuten wurde ich beschossen. Eine Frage jagte die andere, die mich wie Hiebe trafen. Ich kam mir absolut verlassen vor, keiner war da, der mir bei-stand. Der Kanzler saß im Plenum mit Willy Brandt. Ich fühlte mich vom strengen Blick Herbert Wehners nicht ermuntert, weil er genau wusste, dass alles schiefgehen könnte. Ich war starr vor Angst. Das Schlimmste waren die Gesichter in der CSU/CSU-Fraktion. So viel Häme in den Visagen, so viel Chauvinismus hatte ich in dieser geballten Form noch nicht erlebt. Sie sahen nicht nur einen gejagten Politiker, sie sahen eine gejagte Frau. Anders kann ich mir diese Gesichter nicht erklären. Jagd-fieber. Es waren erniedrigende und auf den Nach-weis mangelnder Intelligenz zielende Attacken. Und ich kam mir da auch dumm vor. Das gelang den Männern ja nicht nur bei mir. Fast alle Frauen damals, ob Katha-rina Focke oder Antje Huber, kannten das Gefühl, gedemütigt zu werden. Mit dieser dummen Art sollten wir verunsichert werden.

Es widersprach meiner Mentalität, nicht offen zu sein, also Fragen so dürftig zu behandeln, dass keine Antwort daraus wird. Es gibt ja Beantwortungstechniken, wie man mir vielen schönen Worten nichts sagt. Nur, diesen Stil wollte ich für mich nicht akzeptieren, weil ich ihn in einer parlamentarischen Demokratie unpassend halte. Während die Fragen auf mich einprasselten, dachte ich nur. du darfst Willy Brandt nicht kränken, du musst auf Helmut Schmidt und Herbert Wehner acht-geben, Schlimmes verhüten, du musst wie eine Kanzlerin der Sozialdemokratie die SPD jetzt aus dem Schlamassel ziehen. Schon einmal in meinem Leben hatte ich solch einen Schreckensaugenblick erfahren. Das war auf der Flucht, die Russen dicht hinter uns. Mein Mann ver-misst. Mit meinem kleinen Kind und einem Rucksack auf dem Rücken, ohne Ziel vor Augen: ich wollte weg, nichts wie weg, weiterziehen.


Als die Fragestunde zu Ende war, hatte sich in mir das Misstrauen festgesetzt, weil ich mich instrumental behandelt fühlte. Ich konnte gut gemeinte Worte nicht mehr als solche aufnehmen. Ich dachte nur, jetzt wollen sie mich trösten, damit ich nicht über den Jordan gehe. Gewiss hätte ich auch so reagieren können, dass ich als Staatssekretärin zurückgetreten wäre. Ein Jurist hätte sich wahrscheinlich schneller eingearbeitet und bessere Aussagen zugunsten Willy Brandts formuliert. Dass ich das nicht konnte, das hat mich sehr bedrückt und beschämt. Ich habe zwar standgehalten, aber nicht die bestmögliche Verteidigung geführt. Ich fand das nicht ausreichend - daher wohl auch zum Teil das Trauma, das mich nicht mehr losließ. Ich hatte immer die Vor-stellung, man müsste die Fähigkeit haben, seine Gren-zen zu überspringen, über sich hinauszuwachsen. Dass in dieser Phase die Medien mich halbwegs fair beurteilten, tröstete mich etwas.

Engagement für die Karriere und Konkurrenz: das ist die Antriebsfeder vielerorts. Aber in Bonn, wo so viele ihren Durchbruch suchten, hat sich dieser seelenlose Ehrgeiz für manchen bedrohlich verselbständigt. Um so schlimmer dann, wenn das Ende drohte, der Raus-schmiss aus dem Kabinett. Ich habe miterlebt, wie aus ehemals starken, einflussreichen Repräsentanten sozialdemokratischer Politik quasi gebrochene Streich-hölzer wurden. Im Jahre 1978 mussten drei Männer und ich aus dem Kabinett zurücktreten. Helmut Schmidt wollte unbedingt ein Kabinetts-Revirement mitten in der Legislaturperiode, um die neuen Minister für den nächsten Wahlkampf gut vorzubereiten. Das kam für mich ganz plötzlich; ich hatte mich innerlich darauf eingestellt, wenigstens vier Jahre im Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit meiner Arbeit nachgehen zu können. Mit mir mussten der Arbeits- und Sozialminister Walter Arendt, (*1925+2005) der Bildungsminister Helmut Rohde und der Verteidi-gungsminister Georg Leber ihren Schreibtisch räumen. Verwundungen bei den drei Männern und bei mir. Für Walter Arendt, den Arbeiterführer aus dem Ruhrgebiet, musste sein Bonner Abgang in dieser Form ein zer-störendes Erlebnis gewesen sein. Aschfahl, in sich zusammengesunken wie ein alter Mann, wort-karg nahm er seine Entlassungsurkunde entgegen. Er hat sein Verhalten zu Helmut Schmidt nie wieder in Ordnung bringen können, was er vielleicht auch gar nicht mehr wollte. Georg Lebers Beziehung zum Kanzler entspannte sich erst, als er von ihm zum Papst mitgenommen wurde. Helmut Rohde hat immer darunter gelitten, dass er im Kabinett, und wohl insbesondere bei Helmut Schmidt, nicht die Resonanz fand, die er brauchte; dass seine Vorlagen schnell angehandelt wurden und in den Aktenkoffern ver-schwanden. Dabei hatte er in kurzer Zeit gute Arbeit geleistet, eine Akzentverschiebung von der Universitäts- zur betrieblichen Ausbildung vorgenommen. Rohde wusste, dass seine Stunde im Kabinett gezählt waren.

Häufig folgen Ministerabgänge einer anderen Dramaturgie. Gewöhnlich fängt es in den Medien zuerst zu klicken ab, mit Floskeln wie: Aus Kanzler-Nähe war zu erfahren ... ... Wenn sich solche Hinweise wieder-holen, können die betroffenen Personen davon aus-gehen, dass gegen sie etwas ausgekocht wird. Folge-richtig informierten wir uns über unsere Entlassung zuerst aus der Morgenzeitung. So früh am Morgen habe ich das nicht glauben können. Ich ging noch davon aus, dass man so etwas einem direkt ins Gesicht sagt. Fehl-anzeige. Dann glaubte ich, dass sich da jemand unbe-fugt den Mantel der Kanzler-Nähe umhängte, um eine Kanzler-Meinung zu präjudizieren. Andererseits war ich mir ziemlich sicher, dass Helmut Schmidt niemals über mich mit Journalisten geredet hatte - zumindest nicht über solche personell weitreichenden Dinge. Das traute ich ihm nicht zu, obwohl er ja gerne mal was erzählte. Und im übrigen hätte er mich auch ohne die Zeitungen loswerden können. Er musste mich doch kennen als eine, die ganz verständig auf den Platz geht, wo sie noch gebraucht wird. Diese Art, meinen Ab-gang einzufädeln, war überhaupt nicht in Ordnung. Ich war von ihm als Arbeitspartner völlig enttäuscht und davon, dass mir die Aufgabe genommen wurde, auf die ich mich eingestellt hatte, nämlich gezielt den Menschen in der Dritten Welt Selbsthilfe zu ermöglichen. Im Vergleich zu anderen bin ich aber seelisch heil raus-gekommen. Wenn man von der Politik nicht abhängig ist und in seinen Beruf zurück kann - das stabilisiert einen enorm.

Helmut Schmidt warf mir vor, das Ministerium nicht straff genug zu führen und zu viel zu reisen. Auch mein Umgang mit den Staatsfinanzen entsprach nicht seinen Vorstellungen. Seine Kritik war aber nicht berechtigt. Denn in der Entwicklungshilfe wird Geld eben anders ausgegeben als in anderen Teilen der Ver-waltung - von der Langwierigkeit der Projekte und von der Mentalität der Menschen in der Dritten Welt ganz zu schweigen. Die Arbeit hat dort nun mal nicht den Stellenwert wie in hoch industrialisierten europäischen Ländern. Auf Schmidts Einwände bin ich anfänglich nicht immer eingegangen, weil ich von der Sache ein anderes Verständnis hatte.

Aber ich merkte zunehmend deutlicher, dass gegen mich als Ministerin für wirtschaftliche Zusammen-arbeit Meinung gemacht wurde. Eine negative Stimmung ballte sich da zusammen, die sich auch auf den Kanzler auswirkte. Er machte mir Auflagen und wies mich auf meine Grenzen hin. Ich sollte nämlich nicht noch einmal wagen, gegen die Regierungsmeinung und am Kabinett vorbei die Erhöhung meines Haushalts durchzusetzen. Mein Verhalten entsprach nicht der Kabinettsdisziplin in einer Kanzler-Demokratie. Ich hatte mit Unterstützung meiner Fraktion gegen seinen erklärten Willen eine Mehrheit im Parlament hinter mich gebracht und meinen Entwicklungshilfe-Etat nach Beratungen im parlamentarischen Haushalts-ausschuss erheblich gesteigert. Vorbei am Kanzler, vorbei am Finanzminister hatte ich gewagt, mehr Gelder locker zu machen, weil es einfach riskiert werden musste. Denn solche Signale waren und sind für die Dritte Welt wichtig - sehr wichtig.

Eine weitere Auflage des Kanzlers war ultimativ: Bis dann und dann sollte ich meinen Staatssekretär und einige Abteilungsleiter entlassen. Helmut Schmidt verfolgte wohl die Absicht, ein Kabinettsrevirement bis zu einem bestimmten Zeitpunkt abzuschließen. Bei den anderen Bereichen war scheinbar schon alles klar. Nur bei und mit mir gab es Probleme. Dabei war es nicht Trotz oder dergleichen - so etwas wie Bockigkeit, nein. Ich wollte nur eine gewisse Zeit eingeräumt haben, um mich um meine Mitarbeiter zu kümmern. Weisungs-recht hat er ja, daran ist nicht zu rütteln. Wir hatten einen Termin für die Ablösung von Professor Udo Kollatz ausgehandelt, aber der war nicht zu halten. Eins kam zum anderen - schließlich musste ich daran glauben und aus dem Kabinett ausscheiden. Ich kannte Helmut Schmidts Art, manche Dinge zu . Aber er hätte von mir wissen müssen, dass ich auf den Abgeord-neten-Platz zurückgehe und nicht an einem Ministeramt klebe. Aber wie er meinen Rauswurf aus dem Kabinett über die Medien zuvor ließ, das war nicht die feine Art, das hat mich doch ziemlich getroffen.

Ich hatte den Einfluss der Medien auf die Politik völlig falsch eingeschätzt. Als parlamentarische Staatssekre-tärin im Kanzleramt widerfuhr mir eine durchgängig wohlwollende Berichterstattung unter dem Stich-wort "Mutter Marie". Dieses gewohnte Erfolgsgefühl verleitete mich dazu, noch offenherziger und vertrauens-seliger zu sein und mir dann manchmal meinen vor-lauten Mund zu verbrennen. Deshalb kümmerte ich mich als Ministerin nicht viel um die Presse. Ich pflegte natürlich Kontakte zu Journalisten, aber nicht in der Absicht, dass sie mich nach oben schreiben. An-biedern wollte ich mich nicht. Wieso auch - schließlich war ich doch jemand. Die übliche Selbstanmeldung für Positionen habe ich nie betrieben: Ich wurde aufge-fordert, mich als Schulrätin zu bewerben, ich wurde aufgefordert, für den Bundestag zu kandidieren. Um die Aufgabe als Staatssekretärin im Kanzleramt zu über-nehmen, musste Helmut Schmidt mir lange zureden. So war das bei mir.

Damals im Ministerium musste sehr viel verändert werden. Es schien mir wichtig, andere Beziehungen, einen anderen Umgang untereinander zu entwickeln. Ich wollte überkommene Arbeitsformen durch neue ersetzen. Abbau von Reibungsverlusten im Status-gerangel hieß mein Stichwort. Da habe ich wieder sehen können, wie schwierig es ist, Bewusstsein zu verändern und aus einem veränderten Bewusstsein eine neue Haltung abzuleiten. Ich wollte durchsetzen, dass jeder Referent mit der Ministerin direkten Kontakt auf-nehmen könnte. Hier schlummerten doch so viele Fähigkeiten, die von der reglementierten Bürokratie blockiert wurden.

Was ich da machte, war für Bonner Ministerial-Verwaltungs-Verhältnisse eine kleine Kultur-revolution. Aber selbst die CDU-Leute zogen mit. An Leistungswillen und politischer Fantasie mangelte es uns nicht. Trotzdem wurde das Ministerium vielerorts madig gemacht. Wir hatten gegen das unausge-sprochene Vorurteil anzu-kämpfen, wir würden die deutschen Steuergelder im Busch verschwinden lassen. Aber meine Arbeit zeitigte gute Resonanz. Es klappte beinahe alles. Ich kriegte rechtzeitig Gelder für Ent-wicklungshilfe-Projekte, die ich an die Welt-bank weiterleitete. Ich reiste zur UNO nach New York, um dort meine Vorstellungen über die Dritte und Vierte Welt zu erläutern. Gerade in der Entwicklungshilfe spielen ja Psychologie und der Zeitpunkt des Geld-Transfers eine äußerst wichtige Rolle. Der damalige Weltbank-Präsident Robert McNamara (1968-1981) bescheinigte mir, diese Politik mit Fingerspitzen-gefühl zu beherrschen. Ich hatte für die Bundesrepublik zum ersten Mal mit den Freiheitsbewegungen Afrikas Kontakt aufgenommen - mit den revolutio-nären Freiheitsbewegungen, die aller Voraussicht nach schon in einigen Jahren die Regierung ihres Landes bilden würden. Und so ist es ja dann auch in den meisten Fällen gekommen. Mein Ziel war es, unsere Entwicklungshilfe nicht als Mittel der Ost-West-Konflikte - quasi als Stellvertreter-Krieg - einzusetzen.

Dann begann in den Medien der Abschuss auf Raten. Man stellte mich dort als Dummchen hin, als totale Fehlbesetzung, als jemanden, der sich in die große Politik verlaufen habe. Dieselben Medien, die mich zuvor im Kanzleramt als "Mama mit der Schmalz-stulle "in der Hand gefeiert haben. Was war denn eigentlich passiert? Ich begriff es nicht. Ich wusste aber, dass man mich so nicht kleinkriegen konnte. Ich plante meine Offensive, und die sollte in Afrika, genauer in Botswana, Sambia und Kenia, stattfinden.

Ich lud sie ein - die Herren Berichterstatter. Ich wollte beweisen, dass ich keine blutige Anfängerin war - ein Bonner "Schießbuden-Mädchen", das nur deshalb über-lebt. weil sie "Witzchen reißt". Auf die Frage, warum ausgerechnet ich Entwicklungshilfeministerin geworden sei, soll SPD-Chef Willy Brandt seinerzeit geantwortet haben: "Weil der Bundespräsident ihre Ernennungs-urkunde unterschrieben hat."

Ich hatte mich sehr gut vorbereitet auf diese Afrika-Reise im März 1977. Doch diese Reise brach mir das Genick. - So was von ahnungslos! Dabei wurde ich sogar vorgewarnt. Bei der Abreise vom Pariser Flughafen Orly kündigte mir Dirk Koch vom Bonner Spiegel-Büro an: "Ich werde Sie fertig machen, verlassen Sie sich drauf." Sollte das ein Scherz sein?

Ich wusste zwar, dass die Spiegel-Chefetage einige Minister aus dem Kabinett Schmidt herausschießen wollte, aber dass ich hier aufs Korn genommen wurde - das kam mir nicht in den Sinn. So flog ich ab, im festen Glauben an das Gute im Menschen. Und dabei saß einer der Intriganten mit an Bord, mein Pressesprecher im Ministerium, Hans Lerchbacher, der sich wohl einiges vom Fall der Marie Schlei versprach. Es muss da wohl eine Beziehung zum Spiegel bestanden haben. Der Spiegel machte den Auftakt für eine bundesweite Pressekampagne gegen mich. Unter der bösartigen Überschrift "Die Frau überschätzt ihre Möglichkeiten - Mutter Marie in Afrika" versuchte das Magazin den Eindruck zu erwecken, ich hätte diese Staatsreise mit einem Neckermann-Urlaub verwechselt: Marie Schlei auf Safari-Tour sozusagen.

Das klang dann so: "Spät abends im zu Gaborine saß die Bundesministerin im Garten mit ihrer Begleitung in lockerer Runde zu-sammen. Höhepunkt der lauen Nacht unter dem Kreuz des Südens: Von Frau Schlei begeistert angefeuert, sprang ihr Persönlicher Referent in voller Montur in den Swimmingpool. Unter dem schallenden Lachen seiner Vorgesetzten entledigte er sich im Wasser des Anzugs. Andere Hotelgäste, schwarze und weiße, sahen erstaunt zu, wie sich die (Schlei über ihre Truppe) amüsierten. Noch andern-tags schwärmte die Abgesandte der Bundesrepublik Deutschland. " Zum Schluss wurde noch der damalige Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Jürgen Gerhard Todenhöfer (CDU-MdB 1972-1980) als fachkundiger Kronzeuge meiner Inkompetenz zitiert, der mit mir gar nicht in Afrika war. "Die Frau, sagte Todenhöfer deshalb generalisierend, "ist riesig nett, wenn sie auf Abgeordnete zugeht und ihnen die Kra-watte zurechtrückt. Aber es war ein Akt der Inhuma-nität von Helmut Schmidt, sie mit diesem Amt zu betrauen."

Nach diesem Spiegel-Vorbericht fielen sämtliche Medien in der Bundesrepublik über mich her. Da war zu lesen, ich hätte dem Finanzminister von Kenia ge-sagt: "Sie sind der einzige Finanzminister, der nicht bis drei zählen kann ...", und über die mich begleitende Sambia-Ministerin: "Morgens weckt sie mich, abends bringt sie mich ins Bett, und zwischendurch lockt sie mir Geld heraus." Was ist das für ein Jour-nalismus! Und mein Pressesprecher Hans Lerch-bacher? Er rief in den Redaktionen an und spielte Schmollmündchen. Und tags darauf stand es schwarz auf weiß in den Zeitungen. Ich traute meinen Augen nicht: "Pressesprecher Lerchbacher sagte klipp und klar: 'Ich kann doch nicht die Ministerin zurückpfeifen. Diese Frau war auf ihrem Afrika-Trip nicht zu bremsen. Sie drosch immerzu noch einen drauf, als würde im Busch Skat gespielt.' " Diese Häme, diese Gehässigkeit. - Und keiner, der mich schützte - nicht die Partei, nicht der Regierungssprecher Klaus Bölling (1974-1981).

Ich stand allein im Bonner Ring. Die auflagenstarken Zeitungen des Springer-Konzerns hatte ich ohnehin gegen mich. In deren Augen war ich "besonders kom-munistenfreundlich", weil ich Ländern der Dritte Welt Entwicklungshilfe-Gelder zukommen ließ, die im Ost-West-Gezerre wohl nicht eindeutig - zumindest zeitweilig nicht - für den Westen waren. Ganz anders lauteten die Berichte der deutschen Botschaften in Botsuana, Kenia und Sambia an das Auswärtige Amt in Bonn.

Aus Botsuana hieß es: "Der Besuch stellt einen Höhe-punkt in den deutsch-botswanischen Beziehungen dar ... Frau Schlei verstand es, ihre entwicklungs-poli-tische Hauptaufgabe überzeugend als vom politischen Gesamtkontext untrenn-bar hinzustellen ... Aus interner Sicht verdient die spontan-verständnisvolle Redaktion Frau Schleis auf spezifisch bilaterale Probleme hervor-gehoben zu werden." - Über die bundesdeutsche Schreiber-Kolonne vermeldete die Botschaft in Lusaka: "Auf Seiten der gleichzeitig anwesenden Journalistengruppe war eine vorprogrammierte Animosität gegen den Besuch als solchen zu spüren.

Sachliche Berichterstattung war daher zumindest von einigen der Angehörigen dieser Gruppe nicht ohne weiteres zu erwarten. Nachdem während meiner hiesigen Dienstzeit nunmehr mindestens vier bundes-geförderte Journalistengruppen in meinem Amtsbereich ohne her sichtbar gewordenen Nutzen für den Informationsstand des deutschen Nachrichten-konsumenten tätig geworden sind, nehmen meine Zweifel an der Zweckmäßigkeit des entsprechenden Mitteleinsatzes quasi-eruptive Formen an." Und in Nairobi wurde notiert: "Ein Teil der begleitenden Journalisten interessierte sich weniger für die Probleme Kenias und die Zusammenarbeit mit der Bundes-republik als für das Auftreten des neuen Ministers."

Das war ein Trost, änderte aber nichts: Ich musste das Entwicklungshilfeministerium verlassen. Ich ging zurück auf meinen Abgeordneten-Platz in der Bundes-tagsfraktion. Herbert Wehner, zu dem ich immer ein Vertrauensverhältnis hatte, nahm mich auf. Ich wurde seine Stellvertreterin im Fraktionsvorsitz - die erste Frau in der SPD. Ich wusste also, dass meine letzten Jahre in Bonn angebrochen waren.

Durch die Bonner Jahre begleitete mich die Unge-wissheit, dass der Krebs mich noch besiegen könnte. Ich betäubte mich durch Arbeit, hastete von einem Termin zum anderen. Und dann wurden neue Krebszellen entdeckt - kurz nach meiner Entlassung als Ministerin. Mein Bonner Leben veränderte sich gewaltig. Alle vier Wochen eine Woche lang chemotherapeutische Behandlung. Damit musste ich leben. Ich konnte die Therapie-Phasen weitgehend so legen, dass sie in die sitzungsfreien Wochen des Parlaments fielen. Der Wahl-kampf 1980, unterwegs zu Parteiveranstaltungen von der Nordsee bis zu den Alpen. Bis Februar 1981 habe ich weiterhin Zukunftspläne gemacht.

Da entdeckte ich an meinem rechten Arm Lymph-störungen. Fünfzig rote Flecken. Doch anstatt zum Arzt zu gehen, bin ich wieder nach Bonn geflogen - Ter-mine ... Aber aus den Flecken wurden Geschwüre, eiternde Beulen. Ich kriegte Fieber. Ich wollte nicht mehr ins Krankenhaus. Als ich bewusstlos wurde, holten meine Kinder den Notarzt. Ich wurde abtrans-portiert. Wieder Intensivstation, wieder Infusionen. Es war ein Punkt erreicht, da wollte ich nicht mehr leben. Diese unerhörten Schmerzen. Blutvergiftung, Lungen-entzündung, Rippenfellentzündung. Thrombose, Eiter-beutel in der Lunge - nein, ich wollte nicht mehr. Und ein Medikament nach dem anderen. Angst - Angst vor der Behandlung, Angst vor den weißen Kitteln, Diese dauernden Untersuchungen, die Schnitte am Hals wegen der künstlichen Ernährung ... ... ich wollte nicht mehr.

Aus Bonn - Blumen, Briefe, Besucher. Aber ich konnte es nicht mehr ertragen ... ...