Montag, 2. Mai 1983

" Engagiert und ernsthaft, spielerisch und experimentell " - Die Wirtschaft der alternativen Szene






Während die offizielle Wirtschaft in der Krise steckt, blüht und boomt die Wirtschaft im Untergrund: Noch nie wurde in Deutschland so viel schwarz gearbeitet, gehandelt und verbucht, auf betrügerische Weise oder hart am Rande der Legalität finanziert und transferiert. im Do-it-yourself-Verfahren und oder Nachbarschaftshilfe erarbeitet oder in Selbsthilfegruppen organisiert. Würden all diese ökonomischen Tätigkeiten steuerlich erfasst, gäbe es weder Haushaltsdefizite noch Nullwachstum.
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Spiegel-Buch, Hamburg
2. Mai 1983
von Reimar Oltmanns
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Die Konzern-Philosophie steht nirgendwo geschrieben. Gleichwohl hat sie sich jeder Unternehmens-Angehörige nachhaltig eingeprägt. "Soyez réalistes, exigez l'impossible" - seid realistisch, fordert das Unmögliche. Ein vierstöckiges Backsteingebäude erinnert an die Fabrikarchitektur der Gründerjahre, weiß übertünchte Anbauten an den hastigen Bauboom der Nachkriegszeit. Nur der Firmenvorplatz liefert einen Hinweis auf die achtziger Jahre. Autotrauben aus allen Teilen der Republik wühlen den Sandboden auf, schwere Lastkraftwagen schieben sich aneinander vorbei.
DÖRFLICHE FACHWERK-IDYLLE
Vor drei Jahren hat sich der Konzern, die "Allgemeine Sortiments- und Handelsgesellschaft", im Urselbachtal niedergelassen, umgeben von Wiesen und Wäldern, eingekeilt zwischen Ackerzäunen und dörflicher Fachwerkidylle. Lediglich die an der Peripherie des Firmengeländes verlaufene Autobahn sichert den schnellen Zugriff nach Frankfurt am Main - jener Wirtschafts- und Bankenmetropole, ohne die der steile Aufstieg des Handelskonzerns undenkbar gewesen wäre.
SCHATTEN-ÖKONOMIE
Die Historie des Unternehmens ist die klassische Entstehungsgeschichte bundesdeutscher Schattenökonomie. Was mit Schwarzarbeit in einem Frankfurter Hinterhof begann, mündete in die bürgerliche Rechtsform einer GmbH. Den Anfang machte eineFünf-Mann-Truppe mit Maler- und Renovierungsarbeiten in Frankfurter Großbürger-Wohnungen. Mit unversteuerten Geldern (Slogan von damals: "Cash in die Täsch") wurden klapprige VW-Busse sowie Tüv-überfällige Laster aufgekauft und in nächtlicher Heimarbeit wieder zusammengeflickt. In der zweiten Phase kamen auf diese Weise Transporte, Umzüge, Entrümpelungen zustande.
"LEARNING BY DOING"
Im dritten Abschnitt spezialisierte sich das Team auf den An- und Verkauf von Gebrauchtmöbeln. Nach dem Motto "learning by doing" begann nunmehr der Aufbau einer Werkstatt zur Möbelrestaurierung. Eine moderne Druckerei, die bis zum DIN-A2-Format das Rhein-Main-Gebiet mit Anzeigenblättern, aber auch PR-Broschüren versorgt, schuf das zweite Standbein. Daraus entwickelte sich die Planung eines Cafés und schließlich die Idee eines angeschlossenen Restaurants - eine Art Kommunikationszentrum für Theater-, Informations- und Diskussionsveranstaltungen.
NEUE WACHTSTUMS-NISCHEN
Inzwischen bewegt die "Allgemeine Sortiments- und Handelsgesellschaft" Millionenbeträge. Entgegen einem depressiv ausgerichtetem Konjunkturbarometer sowie wirtschaftlichen Struktureinbrüchen erschließt sich die Handelskette unvermutete Wachstumsnischen. Trotz Hochzinspolitik konnte sie sich im Jahre 1981 etwa ihr 25.000 Quadratmeter großes Firmenareal für 2,2 Millionen Mark kaufen. Trotz mannigfacher Unternehmenspleiten baute sie in den angrenzenden Orten Bad Homburg und Kirdorf weitere Produktionsstätten auf, investierte in Maschinen und Fuhrpark. Trotz Einstellungsstopp vielerorts engagierte sie unentwegt neue Mitarbeiter.
EXPANSIVE ZUKUNFTS-VISIONEN
Ob Gesellschafter, Manager oder Angestellte - manchmal ungläubig, zuweilen euphorisch sehen sich die Betreiber der "Allgemeinen Sortiments- und Handelsgesellschaft" mit ihrem Ertragssegen konfrontiert. Ein Overhead-Projektor wirft im Konferenzsaal expansive Zukunfts-Visionen auf die Leinwand. Und immer wieder zirkuliert im Konzern der eine, scheinbar alles erklärende Satz: "Wir befinden einfach in einem wahnsinnigen Investitions-Rausch."
ARBEITER-SELBSTHILFE (ASH)
Natürlich ist die "Allgemeine Sortiments- und Handelsgesellschaft mbH" kein bundesdeutscher Konzern im herkömmlichen Sinne, hielte er einem Bilanzsummenvergleich mit de kleinsten unter den großen Unternehmen erst gar nicht stand. Denn hinter der "Allgemeinen Sortiments- und Handelsgesellschaft mbH" verbirgt sich tatsächlich die "Arbeiterselbsthilfe (ASH) - ein selbstverwalteter Betrieb aus dem alternativen Deutschland.
FAKTEN, FAKTEN ... ...
Unter der westdeutschen Gegenwirtschaft freilich nimmt die "Arbeiterselbsthilfe" eine Art Konzernstellung ein. Und das nicht nur, weil die 40 ASH-Mitarbeiter einen für Alternative traumhaften Umsatz von jährlich 1,2 Millionen Mark erreichen. Auch ihr Außenverhältnis passt sich nahtlos in die juristischen Normen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung ein. So werden Gebäude nebst Grundstücken nach allen Regeln fiskalischer Kniffe von einem "Verein zur Selbsthilfe", der gemeinnützig und damit steuerbegünstigt ist, mit monatlichen Raten erworben. Das Sortimentgeschäft dagegen betreibt die im Handelsregister beim Amtsgericht eingetragene GmbH. Steuerberater und Rechtsanwälte stehen helfend zur Seite, wenn es darum geht, gegenüber der Renten- und Sozialversicherung ein fingiertes über Monatseinkommen in Höhe von 1.200 Mark netto pro Mitarbeiter anzumelden, wenn es ferner darum geht, ASH-Angestellte zu , um auf diesem Wege Arbeitslosengelder zu kassieren, obwohl in Wirklichkeit keiner um seinen alternativen Job bangen muss.
RESERVAT FÜR UTOPISTEN
Im Innenverhältnis hingegen gibt es keine unternehmerischen Finessen, wird keinerlei Hierarchie zwischen nach außen deklarierten Gesellschaftern, Managern und Angestellten geduldet. Vielmehr sieht sich die ASH, wie sie von sich sagt, als ein "Reservat für Sensible und Utopisten". Für alteingesessene Handwerks- sowie Industrie- und Handelskammern im Rhein-Main-Gebiet indes verkörpert die ASH "den Zoo des Kapitalismus" schlechthin. Was heißt, dort draußen im Urselbachtal dominieren keine Chefs, keine Meister, keine Vorarbeiter. Folglich zählt sich auch niemand zum Fußvolk der Nachgesetzten. Alle fühlen sich gleichberechtigt und gleichverantwortlich für Investitionen, Etatumschichtungen, Einstellungen oder Entlassungen.
NEUE FORMEN DES MITEINANDERS
Realistisch zu sein, das Unmögliche zu fordern, diese allgegenwärtige ASH-Unternehmensmaxime zieht nur vordergründig auf Absatzmärkte, die es zu erobern gilt. In ihrer Tiefenschärfe reflektiert sie eine fundamentale Abkehr von der bundesdeutschen Mehrheitsgesellschaft - sowohl sozio-kulturell als auch ökonomisch. Sie gilt dem Versuch, neue Inhalte und Formen des menschlichen Miteinanders zu ertasten, um aus dieser andersgearteten Interessenlage heraus die wirtschaftlichen Bedürfnisse selbst zu bestimmen.
ENTFREMDUNG DURCH SACHZWÄNGE
Wer keine Vorgesetzten und Nachgesetzten akzeptiert, setzt auf Einsicht und Eigenverantwortung. Wer die Aufteilung zwischen Kopf und Handarbeit aufzuheben trachtet, sucht der unweigerlichen Entfremdung durch Sachzwänge sowie Expertokratie zu entgehen. Wer ferner den täglichen Betriebsablauf so organisiert, dass jeder nach einem ausgetüftelten Rotationsprinzip alle anfallenden Aufgaben zu erledigen hat, glaubt an eine egalitäre, auf gleichem Wissen beruhende Ausgangsposition, die erst gemeinsames Engagement ermöglicht. Und wer außerdem die oft strikte Trennung zwischen Arbeitsbereich und Privatsphäre einebnet, will sein rationales Handeln mit seiner nicht selten widerstrebenden seelischen Befindlichkeit in Einklang bringen.
GEHÄLTER OHNE BEDEUTUNG
Nur so ist es zu erklären, warum die nach außen deklarierten ASH-Gehälter nach innen keinerlei Bedeutung haben. Da nimmt sich halt ein jeder, was er braucht. Und das ist gemeinhin nicht sonderlich viel. Denn das Wesensmerkmal der Alternativen ist ihr Eid auf den Arbeitsfaktor Idealismus, der sich nun mal nicht in eine finanziell greifbare Größenordnung umrechnen lässt.
"LIEBES-ENTZUG" DER GRUPPE
Herkömmliche, meist arbeitsrechtlich festgeschriebene Ver- und Gebote sind außer Kraft gesetzt, Strafen oder Sanktionen untereinander verpönt. Begriffe wie Disziplinierungsmaßnahmen scheinen Formulierungen aus einem fremden Kulturkreis zu sein. Allenfalls der ab und zu fällige "Liebesentzug" der Gruppe zum einzelnen, der mitunter in eine zeitweilige Isolation führen kann, soll "Fehlverhalten" im ASH-Unternehmen korrigieren helfen.
STÄDTISCHE GETTOS
Die alternative Bewegung, die Mitte der siebziger Jahre in den städtischen Gettos von Berlin und Frankfurt ihren Ausgangspunkt nahm, hat in der Bundesrepublik längst einen volkswirtschaftlichen Stellenwert erklommen. Gewiss sind es wohl kaum die bis zum gängigen Klischee vermarkteten lila Latzhosen oder der inzwischen allseits obligate Hirsebrei, der den Alternativen eine ernstzunehmende ökonomische Stellung zu wies.
SCHREINER-BETRIEBE - FRAUEN-KNEIPEN
Wohl aber Schreinerbetriebe und Frauenkneipen, Anwaltskollektive, alternative Drogenberatung und Psycho-Therapie-Gruppen, der alternative Weinhandel ebenso wie die Öko-Druckerei, die Naturkostläden und Bio-Bauernhöfe auf dem Lande, die Keramik-Werkstatt, die Trödel-Shops und die Second-hand-Boutique, die Textil- oder Töpferläden, die Buchhandlungen, Kinos, Galerien, Theater, Zeitungen, Magazine der auch die Selbstfindungsgruppen.
HEIMATRECHT
Mittlerweile hat die alternative Szene in jeder westdeutschen Großstadt ihr Heimatrecht angemeldet. Eine kunterbunte Gegengesellschaft, die sich nicht damit begnügt, Fahrräder zu reparieren und zu bemalen oder Wolle zu spinnen, die gleichfalls HiFi-Anlagen baut, mit Video-Geräten, Computer hantiert, Windräder konstruiert, mit Sonnenkollektoren und Elektronikrechnern umzugehen weiß.
KAPUTTE PARASITEN
Die anfängliche Verachtung, die den Aussteigern aus der Wohlstandsecke allzu oft emotional entgegenschlug, das Vorurteil, sei seien die kaputten Parasiten der Republik, ist inzwischen einer behutsameren Betrachtungsweise gewichen. Immerhin arbeiten und leben zwischen 80.000 und 130.000 vornehmlich junge Leute in 12.000 bis 15.000 Projekten - und das bundesweit. Auf etwa 400.000 Menschen wird die Zahl deren geschätzt, die Alternativgruppen unterstützen - sei es durch Geld, durch sporadische Mitarbeit oder auch nur als Kunden.
LIEBÄUGELN MIT ANDEREM LEBEN
Nach einer demoskopischen Untersuchung des Marplan-Instituts stehen fast 20 Prozent der Bundesbürger zwischen 14 und 45 Jahren dem alternativen Leben höchst aufgeschlossen gegenüber. Das heißt, etwa sechs Millionen Menschen in Deutschland liebäugeln mit grün gefärbten Lebensformen - weniger konsumieren, Umwelt schützen, gesund leben, handwerklich arbeiten, mehr Muße, mehr Sinnlichkeit in einer durch zunehmender menschlicher Kälte entäußerten Welt.
RASANTER SOZIALER WANDEL
Dessen ungeachtet bewegt sich ein Großteil der alternativen Ökonomie in einer "Grauzone des Erwerbsverhaltens". Ihre effektiven Leistungen finden kaum Niederschlag im Bruttosozialprodukt. Zum einen sprengt die alternative Ökonomie das bisher eingespielte Schema von Erwerbs- und Nichterwerbsrollen in der Gesellschaft. Ihr individueller Zuschnitt sowie ihre Eigendefinition von Arbeit und Leben setzen ein qualitativ verändertes Berufs- und Arbeitsmarktverhalten voraus - ein weitreichender, bisher kaum abschätzbarer wirtschaftlicher und sozialer Wandel, den aber weder die Erwerbstätigen- noch die Arbeitslosenstatistik hinreichend berücksichtigen. Aussteiger oder Verweigerer fallen aus dem staatlichen Erfassungsraster heraus. Amtliche Erhebungen sind daher ein untaugliches Mittel, Grauzonen des alternativen Erwerbsverhaltens auszuleuchten. Sie lassen keinerlei Aufschlüsse sowie zukunftweisende Interpretationen zu, sie verschließen sich mit ihrer teils starren, teils überholten Erfassungskriterien einem bislang unbekannten Phänomen - der alternativen Wirtschaft.
WEDER STEUERN NOCH SOZIALABGABEN
Zum anderen entzieht sich die alternative Ökonomie selbst der offiziellen Wertschöpfung, weil die meisten ihrer Betriebe weder Steuern noch Sozialabgaben abführen wollen. Selbst kontrollierbare Absatzmärkte liefern kaum vergleichbare Ansatzpunkte, zufällige Stichproben schlagen meistens fehl. Denn für alternative Erzeugnisse oder Dienstleistungen gibt der Markt in der Regel eine Marktpreise her. Finanzwissenschaftler, wie Klaus Gretschmann von der Universität Köln, haben aus diesem Grund die alternative Ökonomie im Bereich der Schattenwirtschaft angesiedelt, jenem informellen Sektor, in dem traditionell die Schwarzarbeit blüht und gedeiht.
SCHWARZ-ARBEIT
Doch schon in ihren Kernpunkten unterscheidet sich die alternative Ökonomie von der Steuer hinterziehenden Schwarzarbeit, geht ihre Wirtschafts- und Lebensphilosophie von gänzlich anderen Grundsätze aus. Alternative Projekte sind gemeinwirtschaftlich ausgerichtet, orientieren sich ausschließlich an neuen Bedürfnissen und dem tatsächlichen Gebrauchswert. Der hohe perönliche Einsatz und der Arbeitsfaktor Idealismus gleichen konkursträchtige Betriebskalkulationen aus- So betrachtet, zeigt die alternative Wirtschaft ein Mehr an moralischer Legitimation als der Steuer abführende Normalbetrieb. Ihr unveräußerliches Kennzeichen ist ferner Arbeitszufriedenheit statt Profitinteresse. Ihre Güter und Dienstleistungen verdrängten kaum andere, da sie den etablierten Wirtschaftskreislauf nur selten erreichen, sondern sich ihre Zielgruppen in den städtischen Gettos des alternativen Deutschlands suchen.
NEUN ALTERNATIV-GEBOTE
So unterschiedlich die Beweggründe fürs alternative Wirtschaften sein mögen, so heterogen die Zielvorstellungen von Bunten oder Grünen sind, so diffus und laienhaft für Außenstehende sich ihre Betriebe auch ausnehmen - dennoch haben sich im Laufe der Jahre neun Alternativ-Gebote herauskristallisiert, die als unumstößlich gelten:
0 Jeder Betrieb wird selbstverwaltet. Chefs und Hierarchie sind abgeschafft. Jedem Mitarbeiter sind sämtliche Informationen zugänglich. Alle Unternehmens-Entscheidungen werden gemeinsam getroffen.
0 Jeder macht jeden Job. Spezialisierungen gibt es nicht, weil sie zur Entfremdung gegenüber der Arbeit und zum heimlichen Ausbau etwaige Machtpositionen beitragen.
0 Konkurrenz untereinander und zu den anderen Alternativprojekten finden nicht statt.
0 Alle bekommen den gleichen Lohn, oder es werden überhaupt keine Gelder verteilt. Jeder nimmt sich nur soviel aus der Betriebskasse, wie er tatsächlich braucht.
0 Kapital darf allerhöchtens ein Mittel zum Zweck sein, niemals darf seine Vermehrng zum Selbstzweck geraten. Privates Eigentum an Produktionsmitteln ist ausgeschlossen. Der Betrieb gehört allen, die am Projekt beteiligt sind. Wer ausscheidet, wird nicht ausgezahlt.
0 Konsum und Luxus werden generell auf das Nötigste und ebenfalls Sinnvolle beschränkt.
0 Nur nützliche, das heißt ökologisch saubere Produkte werden hergestellt, und nur sozial sinnvolle Dienste werden angeboten.
0 Die Trennung von Arbeit und privatem Leben wird aufgehoben. Der Betrieb dient nicht nur zum Lebensunterhalt, sondern soll gleichzeitig soziale Sicherheit und Geborgenheit vermitteln.
MIT KOPF UND BAUCH AUSGEWANDERT
Jugendliche, die sich im Sinne Erich Fromms von einer Welt abwenden, "die sich um Sachen und um das Besitzen von Sachen dreht", die deshalb mit Kopf und Bauch ausgewandert sind - und das im eigenen Land -, diese Jugendlichen zählen in den seltensten Fällen zu den Begüterten dieser Republik. Aussteiger verfügen über keine gutgefüllten Bankkonten, kennen keine dehnbaren Dispositionskredite oder zinsgünstige Existenzgründungs-Darlehen. Ihr ständiger Wegbegleiter in den alternativen Lebenszusammenhang heißt vielmehr Kapitalmangel. Ein Dasein, das täglich aufs neue durch Unterkonsum und Selbstausbeutung gemeistert werden muss.
HUNGERSCHWELLE IM EXISTENZ-KAMPF
Für die Arbeiterselbsthilfe, dort draußen im Urselbachtal, vor den Toren Frankfurts, gehört das Leben an der Hungerschwelle inzwischen zur Unternehmens-Geschichte. Es war ein dorniger Existenzkampf, über den die Anteilseigner der "Allgemeinen Sortiments- und Handelsgesellschaft" heute gern mit einem Quäntchen Genugtuung berichtet. Michael, Stefan, Roswitha hocken am runden Nußbaumtisch im weitläufig ausgebauten ASH-Café. Roswitha sagt: "Zwei Jahre sind wir über Hinterhöfe und Schrottplätze gezogen. Es gab nur Billig-Bier und jeden zweiten Tag Spaghetti. Nur wenn es uns einigermaßen ging, leerten wir gemeinsam eine Zwei-Liter-Flasche von Aldi aus.
DEPRIMIERENDE DRECKLÖCHER
Michael erzählt: "Natürlich hatten wir kein Geld. Und wo kein Kapital ist, da bleiben halt nur die Schrottplätze. Aber es waren deprimierende Drecklöcher. Im Winter haben wir uns in einer schimmelfeuchten Baracke alle in einem Umkreis von zwei bis drei Metern um einen Kohleofen gedrängt. Wir guckten durch ein vergittertes Fenster auf die Schrottberge und sahen nicht einmal dort eine Perspektive für uns, weil hier schon Neubauten angesagt waren." Stefan ergänzt: "Wir zogen in die leerstehende Fabona-Fabrik um. Dort hatte der Wind jeden Schlupfwinkel ausgemacht. Mit zehn Mann wohnten wir in einem durch Gipswände notdürftig hergerichteten Zimmer. Vor der großen Tür begann gleich unser Möbelverkaufsraum. Auf der Suche nach passenden Möbeln standen die Kunden plötzlich vor unseren Matratzen."
80 STUNDEN MALOCHE IN DER WOCHE
Roswitha meint: "Ein Albtraum war das damals. Über achtzig Stunden malochten wir in der Woche.Wir renovierten, tapezierten, restaurierten, nachts schrieben wir die Verkaufs-Flugblätter und Zeitungsannoncen. Morgens bibberten wir überreizt den ersten Kunden entgegen. Und das alles für einen Stundenlohn von maximal 30 Pfennig. Einige sind dann vom Ausstieg wieder ausgestiegen. Die haben sich gesagt: Aber für die meisten gab es nur eine Alternative: weitermachen oder untergehen. Zurück ins normale Lebe? Nein Danke."
"KEINE MACHT FÜR NIEMAND"
So harrten Michael, Stefan, Roswitha und Co. Jahr um Jahr in ihren Verliesen aus, bis sie endlich ihre Marktlücke fanden und sich zu einer bürgerlichen GmbH durchgenagt hatten. Ihre gemeinsame und immer wieder ins Gedächtnis zurückbeorderte Erfahrung aus den siebziger Jahren half ihnen dabei. Es waren jene Zeiten, in denen in Frankfurt die Häuserkämpfe zu para-militärischen Auseinandersetzungen entglitten, in denen der Spruch "keine Macht für niemand" die Entfremdung artikulierte, die zwischen Staat und Jugendlichen oft in Zehntelsekunden entstehen konnte und heute in der alternativen Szene fortlebt.
WIRTSCHAFTLICHE EIGENDYMNAMIK
Der damals vollzogene Bruch ließ noch keine volkswirtschaftliche Eigendynamik erahnen, wurde zunächst erst einmal gar nicht zur Kenntnis genommen. Anfang der achtziger Jahre hingegen existiert bundesweit eine Wirtschaft, die ihre eigenen Maßstäbe in sich trägt. So sind alternative Betriebe in erster Linie für Grüne, Bunte, Heteros, Homos, Ökos und Sparökonomen da. Fast 65 Prozent aller Unternehmen werkeln fürs eigene Milieu. Die übrigen 30 Prozent zählen zu den reinen Eigenarbeits-Projekten, die sich auf Therapie- und Frauengruppen oder Stadtteil-Zentren konzentrieren.
SELBSTVERWIRKLICHUNG
Eine alternative Bewegung, deren wichtigstes Ziel die Selbstverwirklichung oder auch die neue Sinnlichkeit ist, sieht natürlich kaum ihr Primat darin, irgendeine Ware herzustellen und diese im bürgerlich-kapitalitischen Sinne an den Mann oder auch die Frau zu bringen. Der Berliner Politologe Joseph Huber recherchierte, dass nur zwölf Prozent im engeren Sinne produktiv tätig sind - in der Landwirtschaft und im Handwerk. Ganze neun Prozent der Szene engagieren sich in Handel und Verkehr, 18 Prozent widmen sich ausschließlich der politischen Arbeit. Den Löwenanteil von 60 Prozent machen Buchläden, Kinos, Galerien, Theater, pädagogische Einrichtungen, Zeitschrift und Publikationen aus.
ALTERNATIVE PRESSE
Die alternative Presse - meist Stadtteilzeitungen oder Flugschriften - begreift sich als Gegenöffentlichkeit für unterbliebene, oft auch zu kurz gekommene Nachrichten in den professionellen Medien. Ihr Wesensmerkmal ist Spontaneität und Betroffenheit. Die Trennung von Machern und Konsumenten ist größenteils aufgehoben. Schon 1976 kamen nach einer Bestandsaufnahme des Bonner Familienministeriums 100 alternative Publikationen auf dem Markt. Zwei Jahre später schlossen sich die zwölf größten alternativen Stadtillustrierten zur "Szene-Programm-Presse" zusammen und erreichten seither eine Gesamtauflage von über 200.000 Exemplaren. Bereits 1980 zählte das alternative Deutschland über 240 Zeitungen. Gegenwärtig addiert sich die Gesamtauflage auf mehr auf 1,6 Millionen Exemplare monatlich.
GEGEN-ÖFFENTLICHKEIT
An der Spitze der Gegen-Öffentlichkeit rangieren die beiden Frauen-Zeitschriftgen Emma (Auflage: 130.000) und Courage (70.000), gefolgt von Zitty, Berlin (45.000), Szene, (Hamburg (40.000), Oxmox , Hamburg (42.000), tageszeitung, Berlin (15.000), Pflasterstrand, Frankfurt (15.000), Auftritt, Frankfurt (25.000), Stadtrevue, Köln (22,00), Hamburger Rundschau (18.000), Blatt, München (15.000) und dem Plärrer aus Nürnberg mit 10.000 Exemplaren.
TRUGSCHLÜSSE
Die oft verbreitete Ansicht, der Ausstieg aus der bundesdeutschen Gesellschaft ziehe sogleich eine radikale Abkopplung vom eingespielten Wirtschaftsgefüge nach sich, ist ein Trugschluss. Betriebswirtschaftlich gesehen, können zahlreiche Projekte nur überleben, weil ihnen Zuschüsse aus dem etablierten Wirtschaftskreislauf sicher sind. Nur etwa 40 Prozent der Einnahmen in den alternativen Projekten stammen aus eigenständig erwirtschafteten Erlösen, an die 60 Prozent rekrutieren sich überwiegend aus Zuschüssen von Kirche und Staat. Oder sie fließen aus Eigensubventionen wie etwa abgezwackten Privateinkommen, Solidaritätsspenden, Fördervereinen und so weiter.
VOM BAFÖG BIS SOZIALHILFE
Folglich sind alternative Betriebe gegenwärtig auch kaum imstande, ihre Leute zu ernähren. In der Hälfte der Projekte beziehen alle Mitarbeiter ihre Überlebensgelder von Ehepartnern, Eltern, Freunden, oder sie kassieren Sozialleistungen wie BAFöG, Wohn-, Arbeitslosen- und Sozialhilfe - im moderenen Hochdeutsch Hartz IV genannt. Weitere 30 Prozent der Unternehmen können nur einem Teil ihrer Mitglieder ein kleines Salär auszahlen. Lediglich 20 Prozent der alternativen Projekte erwirtschaften für alle Mitarbeiter ein regelmäßig abrufbares Gehalt: Monatliche Vergütungen, die sich zwischen 500 und 1.000 Mark, in den seltensten Fällen um die 1.500 Mark bewegen. Und die auch oft nur deshalb diese Größenordnung erreichen, weil Steuern, Kranken- und Rentenversicherungsbeiträge erst gar nicht abgeführt werden.
BANK OHNE ZINSEN
Im Herbst 1978 gründeten Alternativen und ihre Sympathisanten in Berlin das "Netzwerk Selbsthilfe e. V." In der Praxis bewährt sich dieser eingetragene Verein als eine Bank ohne Zinsen. Er vergibt nach Maßgabe seines Kreditausschusses Darlehen und Zuschüsse an unterkapitalisierte Projekte, "die
0 demokratische Selbstverwaltung praktizieren
0 nicht auf indiviuellen Profit ausgerichtet sind;
0 modellhaft alternatives Lebens- und Arbeitsformen erproben beziehungsweise
emanzipatorischen oder aufklärerischen Charakter haben;
0 mit ähnlichen Projekten kooperieren statt konkurrieren;
0 personell und organisatorisch Kontinuität und längerfristig wirtschaftliche Tragfähigkeit gewährleisten".
RASENDES SPARSCHWEIN
Mitglied des Netzwerkes kann jeder werden, der bereit ist, monatlich einen Spendenbetrag zu zeichnen. Ihr Erkennungszeichen, ein rasendes Sparschwein, hat auf diese Weise schon über vier Millionen Mark verschluckt und in mehr als 100 Alternativ-Betrieben bundesweit wieder ausgespuckt. Ob beim Unabhängigen Jugendzentrum in Hannover, im Bremer Frauenhaus, bei der Frankfurter Arbeiterselbsthilfe oder in der Berliner "Fabrik für Kultur, Sport und Handwerk" - die Bank ohne Zinsen planiert für die oft idealistischen Lebensziele zumindest ein Stück es Weges und sorgt dafür, dass sich Alternative nicht nur um sich selbst, sondern auch um Ausländer und Behinderte, Drogenabhängige und Trebegänger kümmern können.
KRISE DES WACHSTUMS
Dass in der Bundesrepublik innerhalb eines knappen Jahrzehnts eine im wahrsten Sinne des Wortes alternative Wirtschaft entstand und dass diese Gruppierung, die wegen ihrer vielschichtigen Struktur wohl besser als "Szene" bezeichnet wird, immer noch wächst, bringt nicht zuletzt mit Krise des Wirtschafts-Wachstums zusammen. Denn die Grenzen des wirtschaftlichen Wachstums sind zugleich Grenzen des Sozialstaats. Der vor allem in den siebziger Jahren vertretene Staatsanspruch, für den Bürger alles regeln und lenken zu wollen, wird künftig schon aus finanziellen Gründen nicht mehr einzulösen sein. Die atemberaubenden technologischen Innovationsschübe, auf den Weltmärkten, insbesondere in den Bereiche Mikroelektronik und Informationstechnologie, drücken in diesem Jahrzehnt den Arbeitsfaktor Mensch immer stetiger und unausweichlicher aus dem Wettbewerb heraus.
ARBEITSLOSE ÜBER ARBEITSLOSE
Dem technischen Wandel und der damit verbundenen Rationalisierung fielen schon Anfang der siebziger Jahre jährlich drei Prozent aller Arbeitsplätze zum Opfer. Vertrauliche Gutachten der Industriegewerkschaft Metall gehen bereits davon aus, dass dieses Land Ende der achtziger Jahre sechs Millionen arbeitslose Menschen beherbergen dürfte.
FORTSCHRITTS-GLAUBE
Während die Mehrzahl der etablierten Politiker noch immer glaubt, die negativen Folgen des technischen Fortschritts und der Wirtschaftskrise mit den konventionellen Wachstumsrezepten kurieren zu können, fehlt es der Alternativbewegung an Motivation, diesen mitzutragen. Kaum einer weiß, welche Fundamente die pathetisch hochgepriesene Zukunft noch hat. Unübersehbar dagegen ist, wie Wälder vernichtet, Städte zubetoniert, Flüss und Luft verseucht werden oder Kernkraftwerke mit ihren uneinschätzbaren Risiken entstehen - und das alles nur um des Wachtums willen. Die geradezu trotzigen Anstrengungen, durch einen erneuten wirtschaftlichen Boom wieder eine Dekade des Wohlstands und damit der sozialen Versorgung erreichen zu können, lassen geflissentlich außer acht, dass gerade dieses Wachstum den emotionalen und psychischen Grundbedürfnissn der Alternativszene diametral entgegensteht.
BÜRGERLICHER ZERFALL
Für die alternative Schattenwirtschaft kommentierte der Frankfurter Pflasterstrand, das Zentralorgan der Spontis, die eklatanten Einbrüche der bürgerlichen Wirtschaft so: "Diese Krise ist keine Flaute, sie hat Substanz. Die Überflussgesellschaft ist realisiert, und in ihrer Realisierungf steckt ihr Zerfall. Liest man die Wirtschaftsseiten der Zeitungen genau, kommt eine simple Botschaft heraus: Ökonomisches Wachstum gibt es immer dann, wenn bei breiten Schichten Mangel und Bedürfnis herrschen. In einem Zeitalter, in dem 98 Prozent einen Kühlschrank und jeder zweite ein Auto besitzt, stagnieren die Märkte: Mehr Konsum mit anderen Produkten, Kapitalisierung des Dienstleistungsgewerbes, Verkabelung, Digialisierung der TV-Kanäle - all dies wird den ökonomischen Verfall bremsen, aufhalten vielleicht, aber irgendwann ist selbst das hungrigste Schwein einmal satt . . . Eine Alternative dazu müsste, ebenso wie die Krise selbst, mehr Sustanz besitzen, auf einen völlig anderen Umgang mit Zeit, Geld, Arbeit und Konsum hinarbeiten, die notwendige Stagnation des Wachstums umverteilen."
EPOCHE KULTURELLER VERÄNDERUNGEN
Zu ähnlichen Ergebnissen wie der von Daniel Cohn-Bendit herausgegebene Pflasterstrand (1976-1990) kam der von Alternativen viel gelesene Franzose Alain Touraine seines Zeichens ein Industriesoziologe des sozialen Wandels Mitte der siebziger Jahre. Er schrieb: "Wir leben in einer Zwischenzeit, in der sich kulturelle Veränderungen und gesellschaftliche Konflikte so sehr vermische, dass sie sich nicht voneinander trennen lassen", textete Touraine in seinem Buch "Jenseits der Krise" (Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1976). Gemeint ist damit ein schleichender Strukturumbruch in den westlichen Arbeitsgesellschaften, der sich erst allmählich und nur über veränderte Werteinstellungen in der Praxis durchzusetzen vermag. Touraine benennt fünf aufeinanderfolgende Entwicklungsphasen des Übergangs von der Industriegesellschaft in die nachindustrielle Gesellschaft: Soziale Krise, kulturelle Krise, kultureller Wandel, sozialer Wandel, politische Auseinandersetzung.
AUSEINANDERBRECHEN
Er prophezeite ein Auseinanderbrechen der Gesellschaft in große technokratische Einheiten auf der einen Seite und eine Bewegung der Verweigerung und Gewalt auf der anderen. Die neuen, klassenunabhängigen, gesellschaftlichen Strömungen, so Touraine, müssten zum Gegenangriff übergehen, um die Herrschaft über die Entwicklungskräfte zu übernehmen. Ihr Ziel sei die Wiederherstellung sozialer Beziehungen, der Bestand einer Gesellschaft, die sich als Netz kommunikativer Beziehungen und nicht mehr als Energie verbrauchende Maschine definiere. Touraine: "Wollen wir aus der Krise herauskommen, so müssen wir lernen, die neuen Ufer, auf die wir zusteuern, die Imperien, die sich herausbilden, und die Kräfte, die ihnen im Kampf entgegentreten können, ins Auge zu fassen."
AVANTGARDE
Ob bewusst oder unbeachsichtigt, ob aus eigener unternehmerischer Kraft oder mit Hilfe der angeschlagenen kapitalistischen Wirtschaft - in die Rolle einer soziol-ökonomischen Avantgarde ist die alternative Bewegung bereits hineingewachsen. Beinahe unmerklich und für viele noch immer nicht erkennbar, hat sie die Grenzen überschritten, die gemeinhin das Wirtschaftliche vom Kulturellen, den Gelderwerb von der Selbstverwirklichung trennen. Die althergebrachte These, die Bedeutung schattenökonomischer Betriebsamkeit nehme besonders in Depressionszeiten zu, ist sicher richtig. Aber sie reicht nicht mehr aus, die Existenz der Alternativ-Bewegung zu erklären. Denn sie verkürzt die Alternativ-Wirtschaft auf eine mehr oder minder saisonale Erscheinungsform, die sich bei entsprechender Konjunktur auch wieder eindämmen liesse. Was der alternativen Schattenwirtschaft dagegen ihre Dimension gibt, ist die Tatsache, dass sie schon heute volkswirtschaftlich und sozialpolitisch bedeutende Felder besetzt und mit ihren facettenreichen Wesensmerkmalen neu gestalten dürfte.
ÖFFENTLICHE AUFGABEN FÜR AUSSTEIGER
Einen deutlichen Hinweis darauf lieferte eine Untersuchung des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin. Anhand von 64 Berliner Alternativ-Projekten wiesen Wissenschaftler nach, welche öffentlichen Aufgaben die so genannte Aussteiger-Generation in eigener Regie bereits übernommen hat und weitsichtig lösen will. Auszüge aus der Stellungnahme:
0 Beschäftigungspolitisch schaffen Alternativprojekte Arbeitsplätze. Allein in Berlin haben sie aus eigener Kraft mindestens 4.000 bis 5.000 Arbeitsplätze neu eingerichtet. Es ist allgemein bekannt, dass Großunternehmn trotz aller Riesensubentionen in den letzten zehn Jahren keinen Arbeitslosen von der Straße geholt haben. Der Zuwachs an Arbeitsplätzen kommt heute ausschließlich von Klein und Mittelbetrieben sowie von Dienstleistungsprojekten. Dies gilt für alle westlichen Industrieländer.
0 Wirtschaftspolitisch tragen Alternativ-Projekte dazu bei, die durch Konzentration und Monopolisierung schwer beschädigte Struktur von Kleinbetrieben wieder aufzubauen. Kleinbetriebe und Einrichtungen vor Ort sind das A und O einer lebensnahen Versorgung der Bevölkerung.
0 Stadtpolitisch helfen Alternativ-Projekte damit, mehr Lebensqualität zu ermöglichen. Sie sind überwiegend stadtteil- und nachbeschaftsbezogen. Sie sind ein Stück praktizierte Stadtteil- und Gemeinde-Entwicklung.
0 Jugendpolitisch sind Alternativ-Projekte weit wirksamer als vergleichbare staatliche Einrichtungen. Die Einbindung in lebendige Arbeits- und Lebenszusammenhänge erfolgt in Alternativ-Projekten eben tatsächlich und ist keine aufepfropfte instituionelle Kontrolle.
0 Sozialpolitisch sind Alternativ-Projekte Kosten sparend und in der Methode wegweisend. An Sozialarbeiterschulen werden sie nicht umsonst als eine Möglichkeit "präventiver Sozialarbeit" betrachtet. Sie entlasten Arbeitsmarkt und Sozialhaushalt gleichermaßen, indem sie Menschen auffangen, die anderenfalls als sozial Benachteiligte den Sozialstaat in Anspruch nehmen müssten. Darüber hinaus schaffen die Projekte für ihre Mitglieder Einkommen, erübrigen teure Gebäu-, Einrichtungs-, Betriebs- und Personalkosten und ersparen Arbeitslosen- und Sozialgelder.
STEUERGELDER FLIESSEN
Folgerichtig beantragen die 64 Alternativprojekte einen finanziellen Zuschuss vom Berliner Senat. Mit zunächst 20 Millionen Mark sollen weitere 500 neue Arbeitsplätze eingerichtet werden. Schon in naher Zukunft würden jährlich etwa 40 bis 50 Millionen Mark benötigt, weil nur "die echte Hilfe zur Selbsthilfe" den Menschen Arbeitsplatz orientierte Perspektiven vermitteln könne. Zu dem von Aussteigern und Verweigerern bisher ungewohnten Ansinnen, ihre Arbeit mit der Unterstützung von Steuergeldern auszubauen, machte der Berliner Hochschullehrer Peter Grottian den Parlamentariern folgende Rechnung auf. "Wenn Arbeitsmarkt-Programme von 960 Milionen Mark lächerliche 1.517 Arbeitsplätze gebracht haben und die laut Helmut Schmidt (Bundeskanzler 1974-1982) investiertenm 55 Milliarden Mark bei angeblich 900.000 erhaltenen oder neu geschaffenen Arbeitsplätzen pro Arbeitsplatz 55.000 Mark an Steuergeldern gekostet haben, wird die Frage erlaubt sein, wie viele selbstorganisierte Arbeitsplätze in kollektiven Alternativbetrieben mit diesem Geld hätten geschaffen werden können."
ALTERNATIVE SCHATTEN-ÖKONIOMIE
Das langsame Eindringen der Alternativ-Bewegungen in die etablierten sozialen Versorgungssysteme und in de offiziellen Wirtschaftskreisläufe bestätigt die Theorie des Sozialwissenschaftlers Gerd Vonderach. Der Oldenburger Hochschullehrer entwickelte die inzwischen weithin anerkannte These, dass sich die alternative Schatten-Ökonomie "eine neue Art von Selbständigkeit" abzeichnet. Sie sei Resultat eines krisenhaften Strukturumbruchs und werde vor allem von jungen Menschen als Ausweg aus erschwerten Berufskarrieren und als Alternative zu den vorherrschenden Arbeitsrollen angestrebt. Ausgangspunkt und Wertorientierung der neuen Selbständigen, so Gerd Vonderach, unterschieden sich von den Selbständigen bishertiger Art. Denn, so seine Analyse, die meisten neuen Selbständigen fänden weder durch ererbten Besitz oder familiäre Tradition noch in professioneller Weise zur selbständigen Existenz. Ihre Arbeit sei einerseits für sie ökonomisch notwendig, andererseits aber Ausdruck ihres Versuchs, selbstbestimmte und unentfremdete Arbeits- und Lebensformen zu entwickeln. Vonderach: "Der neue Selbständige ist einerseits engagiert und ernsthaft, andererseits spielerisch und experimentell. "So kennt er für seinen Job im Vergleich zur bürgerlichen Gesellschaft nur eine geringe Professionalisierung, in den seltensten Fällen eine diplomierte Qualifikation für seinen Beruf. Gleichwohl kann er auf ein meist überdurchschnittliches Schul- und Ausbildungsniveau verweisen. Berufliche Fertigkeiten lernt er erst bei der Arbeit.
KULTURELLE ENTFALTUNG
Eigenschaften dieser Art lassen wohl kaum auf eine Sorte Mensch schließen. Die teilweise ganz vollzogene Abwendung von den erwerbswirtschaftlich-bürokratischen Arbeitsformen und -inhalten ebnet vielmehr im alltägliche Leben die Chance zur Selbstverwirklichung und zur Sinnvermittlung. So glaubt Vonderach, dass de oder Selbständigkeit "als eine praktische Dominanz des kulturellen Selbstentfaltungsanspruchs über die Effiktivitätsprinzipien der vorherrschenden beruf-wirtschaftlichen Sphäre" verstanden werden sollte.
ZWEIGETEILTES WIRTSCHAFTS-SYSTEM
Dennoch zwingt chronische Unterkapitalisierung und schwache Konkurrenz-Situation viele neue Selbständige zu Kompromissen zwischen ihren Ansprüchen und der wirtschaftlichen Realität. So fließen die Grenzen vom informellen Schattensektor zum formellen Absatzmarkt nahtlos ineinander über - ein ökonomisches Spektrum, das von Eigen- und Gemeinschaftsarbeit bis hin zur Geld- und Erwerbswirtschaft reicht. Dessen ungeachtet sind die Weichen in Richtung eines zweigeteilten Wirtschaftssystems in Deutschand längst gestellt . Die alternative Schattenwirtschaft bildet den Ausgangspunkt.
DEZENTRALE PRDUKTION
Sie verkörpert schon heute einen Gegenbereich der dezentralen Produktion und Versorgung, der sich von der zentralen Großtechnologie und Bürokratie abhebt. Für Jugendliche, die offiziell arbeitslos sind, ohne je gearbeitet zu haben, ist er zumindest zeitweilig eine Art Auffangbecken. Für ältere Menschen, die aus dem Berufsleben ausgesiebt worden sind, könnte die alternative Schattenwirtschaft ein Übergangsstadium bis ur Pensionierung sein. Ganz im Sinne eines abgewandelten Zitats von Emile Durkheim (französischer Soziologe, Ethnologe *1858+1917 ), der schon 1895 notierte: "Wäre es auch richtig, dass wir gegenwärtig unser Glück in einer industriellen Zivilisation suchen, so ist es keineswegs gewiss, dass wir es später nicht anderwärts suchen werden."