Donnerstag, 3. September 1981

Am Strand von Tunix "Bleibt nicht einsam - backt gemeinsam"




























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Am Strand von Tunix
Erkundungen in einem
unbekannten Land
Sozialreportage von 1945 bis heute
Hg. Friedrich G. Kürbisch
Verlag J.H. W. Dietz Nachf.
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von Reimar Oltmanns
vom 3. September 1981


Eine süddeutsche Kleinstadt am Samstagnachmittag im Spätsommer. Die engen Gassen glänzen wie blank gewienert, die Butzenscheiben in den akkurat gestrichenen Fachwerkhäusern spiegeln das Straßengeschehen wider. Von der Barockkirche signalisieren Zwiebeltürme absolutistische Tradition. Der Schlosspark erinnert an die weiträumige und symmetrische Gartenanlage Nymphenburgs in München.
DONAUESCHINGEN AM SCHWARZWALD
Im Kleinstädtchen Donaueschingen am Rande des Schwarzwaldes ist alles beschaulich und überschaubar. Kaiser's Kaffee-Geschäft liegt gegenüber den Redaktionsstuben des Südkurier, der schon seit fast drei Jahrzehnten dpa-Funkbilder aus aller Welt im Schaufenster aushängt - so, als sei und bliebe das Kabel- und Satellitenfernsehen eine Fiktion für die kommenden Jahrhunderte. In der Auslage der "Hofbuchhandlung" steht Johannes Mario Simmels (*1924+2009) Bestseller "Alle Menschen sind Brüder". Nebenan offeriert der Ortspriester im Schaukasten der Diözese seinen Gläubigen eine Pilgerfahrt nach Rom. Vis-à-vis gibt's das Bistro "Schinderhannes". Vor dem Eingang stehen die Gastarbeiter im "Sonntagsstaat"; mit Blockabsätzen, enggeschnittenen Hosen, bunten Hemden und Krawatten. Sie unterhalten sich oder spielen Karten. Kaum einer nimmt Notiz von ihnen. Sie bleiben, wie immer, unter sich.
RÖHRENHOSEN, PUMPS
Auf dem Marktplatz vorm Café Hengstler ist der Jugendtreff. Vierzehn- bis sechzehnjährige Mädchen, in Röhrenhosen, Pumps, Flatterblusen und klassisch geschnittenen Herren-Jacketts, mit Nina-Hagen-Punk-Frisur getrimmt, sitzen da, kichern und wispern untereinander; ab und zu wird auch mal eine Reggae-Disco-Platte gedrückt, solange Taschengeld oder Selbstverdientes reichen.
VON JAMES DEAN BIS "EASY RIDER"
Ein paar Tische weiter trinken die Jungs, zwischen achtzehn und zwanzig, Coca oder Bitter Lemon. Die einen, ganz in Leder, das Haar à la James Dean kurz nach hinten gekämmt, im Nacken lineal gerade abgestutzt, die Ohren freirasiert, die anderen mehr à la "Easy Rider", in Rohleder-Stiefeln, ausgewachsenen und buntgeflickten Jeans, die Haare wuschelig und schulterlang, die Bartstoppeln zentimeterkurz, Sonnenbrille. Bei Hengstler - ein wenig Langmut, ein Quäntchen Langeweile. Dafür geht's draußen auf dem Marktplatz um so lebhafter zu. Hondas, Suzukis und BMW's stehen dort aufgebockt. Keiner dieser röchelnden Öfen hat unter 500 Kubik. Ein paar Meter entfernt parken die Minis, Renaults und Golfs. Fast alle mit dem Rallye-Streifen und den obligaten breiten Felgen. Der Marktplatz von Donaueschingen bedeutet diesen Motorfans sowie wie einem Rallye-Fahrer die Ankunft in Monto Carlo oder einem Rennradprofi die Einfahrt ins vollbesetzte Stadion. Hier werden Fahrzeiten zwischen Donaueschingen und dem Nachbardorf Hüfingen unterboten, der Kumpel mit PS- und Kubikstärke überboten.
KEINE LINKEN - VIELE GARTENZWERGE
Eigentlich ist in Donaueschingen nichts spektakulär, alles deutsch-normal. Im Ort und in der Umgebung gibt es keine Linken, keine Rauschgiftsüchtigen, keine organisierten Kernkraft-Gegner und auch keine Landkommunen. Die Menschen arbeiten strebsam in der Landwirtschaft, in Textil- und Uhrenfabriken, in Gießereien und in der Holzverarbeitung. Viele jobben noch nach Feierabend. So können sie ein Häuschen ihr eigen nennen, den auf Hochglanz polierten Mittelklassewagen ebenfalls. Gartenzwerge zieren den im Rasen eingelassenen Springbrunnen, die Schwarzwald-Uhr das Wohnzimmer. Und auf der Sparkasse vermehrt sich das bescheidene Guthaben stets ein wenig. Alles hat hier seine wohlerträumte Ordnung und läuft in den vorgegebenen Bahnen.
DREI ROTE ROSEN
Auch das Volksfest an diesem Wochenende. Der Spielmannzug intoniert die Polka "Drei rote Rosen". Mäzen Heribert, mit Mallorca-Bräune, Satintuch und beigem Samtpulli, lässt für die 46 Mann eine Runde Bier springen. Die Leute sitzen auf den Holzbänken, schmausen Zwiebelkuchen und nippen frisch gekelterten Wein. "Brot für die Welt" wird gesammelt. Der Erlös geht an Pater Schenk aus Donaueschingen für seine Mission auf den Philippinen. Ein Stand der Gefangenenhilfs-Organisation amnesty international - von Lehrern betreut - klärt über Folter und Todesstrafe auf. Aus Freiburg im Breisgau angereiste Studenten verteilen Plaketten mit der Aufschrift "Atomkraft - Nein danke". Am Abend stimmt der Tompetenchor "Kein schöner Land in dieser Zeit" an. Manche summen, andere lallen mit. Auch die Jugendlichen sind dabei. In blau-weißer Tracht schwingen sie die Fahne der Fürstenberger. Wie in jedem Jahr, ist ihnen ein gefälliges Kopfnicken und der kräftige Händedruck der Stadt-Honoratioren gewiss.
VOLKSFESTE - HÖHEPUNKTE
Über Jahre ließ Harald Heidenreich kein Volksfest, keinen Schützenfest-Bummel, keine Marktplatz-Rallye aus. Wo was los war, war auch er. Wie seine Freunde hockte der damals 18jährige in Eisdielen, Pinten und Discos oder lief seinerzeit mit dem ´laut aufgedrehten Kassettenrecorder unterm Arm durch die malerisch versonnene Altstadt. Sie schauten und pfiffen den Mädchen nach, bis Harald seine Bärbel fand und mit ihr Händchen haltend über den Marktplatz spazierte. Für Politik und Parteien hat er sich nie sonderlich interessiert, zu einer Wahl ist er bis heute nicht gegangen.
7 KINDER IN DREI-ZIMMER-WOHNUNG
Haralds Vater ist ein kleiner Angestellter beim Kreiswehr-Ersatzamt in Donaueschingen, seine Mutter kümmerte sich Jahr für Jahr um ihre sieben Kinder. In einer Drei-Zimmer-Wohnung wuchs Heidenreich auf, mit seinen sechs Geschwistern teilte er sich einen Schlafraum. Harald absolvierte die Hauptschule und mache eine Lehre als Installateur. Zum Abschluss gab ihm der Berufsschuldirektor den weisen Rat: "Üb immer Treu und Redlichkeit." Für Donaueschingen nichts Außergewöhnliches. Und Harald dachte sich noch: "Hier bin ich geboren, hier lebe ich, hier will ich auch bleiben." Kleinstadt-Idylle nach der Abschluss-Feier.
FLUCHT ÜBER NACHT AUS DER PROVINZ
Am selben Abend klapperte Harald Heidenreich seine Dicos und Pinten ab. Er stand teilnahmslos an der Theke, trank abwechselnd Cola oder Bier und starrte in die grellen Licht-Reflexe. Da war wenig vom Travolta-Glanz (John Travolta, * 1954, amerikanischer Schauspieler, Sänger, Entertainer, Scientologe) und seinem Saturday-night-feaver zu spüren. Es kotzte ihn an. Kurz nach Mitternacht fuhr er nach Hause, packte Jeans, Hemden, Pullover und Unterwäsche. Seine erst kürzlich gesparten dreihundert Mark nahm er sich aus Mutters Küchenschrank. Auf den Garderobentisch legte er einen Zettel: "Bin weg. Gruß Harald." Seither sind für ihn die Eltern und Geschwister, Freundin Bärbel, die Marktplatz-Kameraden - Donaueschingen überhaupt - passé. Nur einen hat er mitgenommen. Seine besten Freund Gerry. Der war schon mit vierzehn zu Hause rausgeflogen und hatte zuletzt bei seiner Freundin in Hüfingen gewohnt. Nun war auch dort Schluss. Als die beiden gegen 3.30 Uhr in Freiburg auf die Autobahn gingen, ließ Gerry eine Pink-Floyd-Kassette laufen. Wohin sie eigentlich wollten, wussten sie selber nicht; vielleicht nach Göttingen, wo Haralds Bruder wohnte, vielleicht nach Hamburg, vielleicht aber auch nach Berlin. "Wir werden schon sehen", sagte Harald. "Irgendwann kommen wir schon irgendwo an und treffen irgendwelche Typen."
UNGEWISSE GEWISSHEIT
Irgendwann, irgendwo, irgendwen - eines war beiden gewiss, dass alles ungewiss ist, Sie stocherten ziellos nach Norden. Morgens waren sie in Bremen, nachmittags in Cuxhaven, am nächsten Tag in Hamburg, am darauffolgenden in Berlin. Eine kleine Odysee, denn zu Hause hatten sie kaum über den Tellerrand gucken dürfen, und groß herumgekommen waren sie auch noch nicht, wenn man von zwei Reisen nach Freiburg einmal absieht.
PLASTIK-REKLAME AUF KU-DAMM
Nun standen Harald und Gerry auf dem Ku-Damm mit seinen unzähligen Restaurants und seiner x-beliebigen grellen Plastik-Reklame. Sie schauten drein wie ungläubige Berlin-Touristen, die sie eigentlich nicht sein wollten, warfen einen Blick über die Berliner Mauer (1961-1989), die sie nur vom Fernsehen kannten. Alles schien erschien ihnen ein wenig unwirklich, Da gab's keinen überschaubaren Marktplatz mehr, keine Butzenscheiben und keine Fachwerkhäuser. Dafür zog ein Sektenpulk in Mönchskutte und Irokesen-Haarschnitt durch die Straßen. Junge Typen in ihrem Alter bimmelten und rasselten mit ihren Klingelbeuteln. "Jesus lebt", schrien sie unentwegt. Da standen verquollene Jugendliche in den U-Bahnschächten, ängstlich und jibbelig warteten sie auf ihre Heroin-Erlöser. Und immer wieder sahen sie die Sight-seeing-Busse im Doppeldecker-Format, die die westdeutschen und internationalen Touristen von einer vermeintlichen Attraktion zur anderen karrten.
PRIVATPUFFS UND PORNO-SCHUPPEN
Drei Wochen irrten Harald und Gerry durch die Stadt. Sie schliefen im Auto und aßen an Würstchen-Buden. Sie schlenderten nachts über den Stuttgarter Platz mit seinen Privat-Puffs und Pornoschuppen. In der Potsdamer Straße trafen sie auf zwei Mädchen. Die eine stellte sich als Ina,die andere als Lena vor. Beide dürften so um die vierzehn gewesen sein. Zwanzig Mark sagten sie. Es war nachmittags um drei. In der Disco "Early Bird" erlebten erlebten sie eine Massenschlägerei im Schummerlicht. Englische und französische Truppiers probten mit Bierflaschen und Stuhlbeinen eine NATO-Variante. In der Jebenstraße, hinterm berüchtigen Bahnhof Zoo, wurden sie von Strichjungen verjagt. Und auf dem Savigny-Platz kauften sie sich ihren ersten Joint. Das Gramm für zehn Mark.
IN DER PINTE "NULPE" ... ...
Dem Irgendwann und Irgendwo folgte in der Pinte "Nulpe" in der Yorkstraße der Irgend jemand. Zufall war es, dass er Johannes heißt und aus Donaueschingen kommt. Zufall auch, dass Johannes einen Typen namens Werner kennt, der ebenfalls aus Donaueschingen abgehauen ist. Zu Hause, in der ordentlichen Kleinstadt, sind sie sich nie begegnet, in der "Nulpe", im heruntergekommenen Kreuzberg, lernen sich die vier kennen. Da war es dann schon kein Zufall mehr, dass sie gemeinsam in eine Wohngemeinschaft zogen. Für Johannes und Werner, sie lebten bereits zwei Jahre überall und nirgends in West-Berlin, ist die Großstadt zu groß. Für Harald und Gerry war die Kleinstadt zu klein geworden.
INTAKTE AUSSEN-WELT
Vier Jugendliche in diesen Tagen. Nichts ist besonders auffällig an ihnen, eher scheint alles bundesdeutsch normal. Harald lernte Installateur, Gerry Elektriker und Werner Tischler. Sie bestanden ihre Gesellenprüfungen und hatten einen krisenfesten Arbeitsplatz. Johannes machte das Abitur und schaffte fürs Jura-Studium problemlos den Numerus clausus. Alle vier hatten die von ihren Eltern in sie gesetzten Erwartungen erfüllt und standen in ihrer Umwelt keineswegs als Versager da. Dennoch sind sie es, die sich der Gesellschaft versagten. Nach außen unauffällig und schweigsam. Dabei lassen sich ihre Beweggründe von keinem modernistischen Klischee ableiten, keine gängige Polit-Maxime trifft auf diese vier Aussteiger zu.
BEFREITES LEBEN IM HINTERHOF
In der Kreuzberger Gneisenaustraße, einer breiten Allee mit ausgewachsenen Kastanienbäumen in der Fahrbahnmitte, fanden sie ihre Bleibe. Es ist ein typischer Berliner Hinterhof-Block aus den vergangenen Jahrhundert. Vor der Eingangstür spielen türkische Mädchen "Hinkefuß" auf dem Trottoir, Frauen stricken auf den Fensterbrettern. An der Hausmauer lehnt ein Mittvierziger, der den Schnaps wie Limonade trinkt und Unverständliches über den Fußball-Bundesligaverein Hertha BSC stammelt. Im Hausflur riecht's nach Katze, Knoblauch und Bartkartoffeln. Die an der Wand befestigte Namenstafel ist als Wegweiser gedacht. Wer zu Patzkes will, kann gleich vorne rechts die Treppe benutzen. Zu den Wohngemeinschaften geht's automatisch über den Hinterhof und dann fünf Stockwerke hoch. Vorbei an ausgebrannten Mopeds, leeren Flaschen und ausgelatschten Schuhen. Aus den Treppen sind schon einige Stiegen herausgerissen, die Flurbeleuchtung funktioniert nicht. Auf jedem zweiten Stockwerk gibt's ein Klo, Duschen sind individueller Luxus.
AUTONOMIE UND GHETTO
Im fünften Stock unterm Dach kleben auf dem Türrahmen die Schildchen der Mieter Harald, Gerry, Johannes und Werner, Nachnamen tun nichts zur Sache. Wer hier herkommt, weiß, wohin er will. Die Wohnungstür steht meist sperrangelweit offen. Zu klauen ist ohnehin nicht viel. Sofa, Tisch und Stühle sind vom Sperrmüll, der Fernseher stammt aus den fünfziger Jahren, geschlafen wird auf Matratzen. Ein paar Bücher stapeln sich im Regal zwischen Nähzeug und verklebten Teetassen. Eines heißt: "Autonomie und Getto", ein anderes ist von Ernest Hemingway (*1899+1961): "Wem die Stunde schlägt". An der Wand hängen zwei Gitarren, auf dem Wohnzimmertisch steht ein Schachbrett neben zwei heruntergebrannten Kerzen, die frischgewaschenen Jeans liegen ungebügelt im Korb. Der Gemeinschaftsraum ist ihr Zentrum, dazu hat jeder noch sein eigenes Zimmer - das alles für 350 Mark. Dieser Betrag plus Nebenkosten muss monatlich aufgebracht werden. Sonst spielt Geld kaum eine Rolle. Auch die Zeit ist ihnen unwesentlich. Ob es nun gerade morgens, schon abends oder bereits einen Tag später ist - keiner verliert darüber wesentliche Gedanken. Oft ist es erst das ausgedruckte Datum auf dem abonnierten Tagesspiegel, das sie für einen Augenblick in die Gegenwart zurückholt.
SUCHE NACH NÄHE UND SINNLICHKEIT
Als Harald, Gerry, Johannes und Werner vor drei Jahren ihre Wohngemeinschaft gründeten, verknüpfte niemand damit konkrete Vorstellungen oder auch festorganisierte Tagesabläufe. Sie hatten keine politischen Ideen oder alternative Lebensmodelle parat, die sie umsetzen wollten. Nur in einem waren sie sich einig: alles sollte anders werden, als es bisher war. Sie wollten aus ihrer Umwelt ausbrechen, die sie geprägt hatte, sie wollten sich in ihren Berufen nicht weiter verplanen und fremdbestimmen lassen. Viel wichtiger war ihnen das Bedürfnis nach einer neuen Sinnlichkeit, sie suchten engen zwischenmenschlichen Kontakt, der nicht intensiv genug sein konnte - sei es durch Gespräche, Musik oder auch Zärtlichkeit. Jeder fühlte sich vereinzelt, sah sich von der Gesellschaft isoliert, erlitt mit Gefühlen und Erwartungen laufend Einbrüche, empfand die Masse Mensch als anonym und stumm, die sich gänzlich der Konsumwelt verschrieben hat. Doch keiner glaubte, sich allein dem äußeren Druck widersetzen zu können. So galt ihre Hoffnung einer Wohngemeinschaft auf dem Berliner Hinterhof in der Gneisenaustraße Nr. 60. "Wir sind zwar klein, aber ein Anfang ist doch da", sagten sie damals. Gemeinsam planten die vier, ihre Vergangenheit abzuarbeiten, um das Vakuum Gegenwart auszufüllen. An die Zukunft dachte keiner. Sie galt als eine undefinierbare, metaphysische Größe.
VON JUNGEN WERTHERN DER ACHTZIGER
Dabei machten Harald, Johannes und Werner zunächst gar nicht den Eindruck von jungen Werthern Anfang der achtziger Jahre. Johannes, ein hochgeschossener Typ mit langen blonden Haaren und Nickelbrille, sprang von einer alternativen Idee zur anderen. Da sollte eine Hobelbank besorgt werden, dann wollten alle gemeinsam töpfern, schließlich war es die Tischtennisplatte, die noch fehlte. Werner, von etwas untersetzter Gestalt und weitaus ruhiger, organisierte Kühlschrank und Geschirr. Harald , mit seinem strähnigen schwarzen Haar und wieselflinken Augen, backte nach Mutters Küchenrezept seinen ersten Apfelkuchen. Nur Gerry saß meist stoisch in der Sofa-Ecke, schaute gelegentlich von seinem Comic-Heft trübsinnig hoch und verkroch sich immer sehr schnell unter seinem Bettlaken.
EINSILBIG - MELANCHOLISCH
Gerry, sagen seine Freunde, "hat mit seinen zwanzig Jahren den Abgang von Donaueschingen nach Berlin nicht verpackt". Je länger er in Kreuzberg lebt, desto einsilbiger und melancholischer wird er. Zurück in den Schwarzwald will er aber auch nicht. Aus ihm ist, wenn überhaupt, nur selten einen Satz herauszulocken. "Ich weiß nicht ..." lautet seine Standardfoskel. Harald: "Was glaubst du denn, wo so manchmal deine Lustlosigkeit herkommt, deine Apathie, so ein bisschen?" Gerry: "Das hab ich mich schon gefragt. Hab keine Antwort gefunden." Harald: "Hast du dich gefragt, oder bist du von uns gefragt worden?" Gerry: "Hab mich selber gefragt. Hab rumgehangen bei der Arbeit und auch keine Lust gehabt. Aber genau gewusst, dass ich es doch machen muss. Ich weiß nicht." Gerrys Anhaltspunkte ist seine Matratze. Oft schläft er drei Tage in einem durch. Johannes: "Da macht er nicht mal ein Kaffeepäuschen." Auch alle Versuche, Gerrys Zimmer ein wenig heimisch herzurichten, blieben umsonst. Als die Gruppe ihre Räume tapezierte, bekam auch Gerry seine Rauhfaserstreifen. Die Hälfte der Bude beklebte er. Dann war er plötzlich weg.
MIT FREUNDIN EINFACH WEGTAUCHEN
Seit drei Jahren begnügte er sich nunmehr mit der alten Matratze. Ein altes, rostiges Fahrrad vom Vormieter steht ebenso an seiner Zimmerwand wie die Tapetenrolle im Farbeimer . Wenn Gerry eine Freundin hat, verschwindet er für zwei bis drei Wochen. Zwischendurch jobbt er hin und wieder, wenn's Geld knapp wird. Er findet auch jedes Mal eine Stelle. Denn Elektriker sind in West-Berlin gefragte Leute. Denn klotzt er wie früher für einen Monat ran und steigt fürs nächste Vierteljahr wieder aus. Im letzten Jahr musste Gerry jedenfalls eine zweite Lohnsteuerkarte beantragen. Auf der ersten war für die zahlreichen Firmenstempel kein Platz mehr.
VOM FLIPPIE ZUM HIPPIE
Wurde Gerry in der Großstadt zum Flippie, so entwickelte sich sein bester Freund Harald zum Hippie - zumindest vordergründig. Er kaufte sich ein kleines Kreuz und läßt es seither vom rechten Ohrläppchen baumeln. Auch von seinem blau-rot-gemusterten Tüchlein kann Harald sich nur schwer trennen. Er trägt es am liebsten Tag und Nacht. Freiheiten, die in Donaueschingen undenkbar gewesen wären. Doch mit derlei Requisiten will Harald nicht darüber hinwegtäuschen, dass er - trotz aller neuen Hoffnungen - über ein halbes Jahr in den Seilen hing. Beginnt Gerry seine Sätze mit "Ich weiß nicht", so hat Harald "einfach das Gefühl, dass es mir in der Gesellschaft, wie sie im Moment ist, überhaupt nicht gefällt."
GEFÜHLE DER ISOLATION
Es ist ein vages Gefühl, das ihn aber dazu brachte, in sechs Monaten nicht einmal auf die Straße zu gehen. Selbst zu seinem 21. Geburtstag ließ er sich Wein und Bier holen. Harald schlief lieber in den Tag hinein, verlor sich über Stunden in Rock 'n' Roll-Tonbändern, die Werner mitgebracht hatte. Fing an, auf der Gitarre Griffe zu üben, um das Lied "Ein Hase saß im tiefen Tal ..." melodisch begleiten zu können. Die meiste Zeit stand er jedoch wie ein Greis am Küchenfenster, blickte auf niedriggelegenere Dächer, zählte Schornsteine und Fernsehantennen oder stierte eine mausgraue Mauer auf dem Hinterhof an, die sich an trüben Tagen kaum von der dichten Wolkendecke abhob. "Ich fühlte mich allein, war nervlich fertig und zitterte am ganzen Körper", umschrieb er seinen Gemütszustand. In Wirklichkeit hatte ihn das Heimweh gepackt, er war depressiv und spürte seine Orientierungslosigkeit. In diesen Augenblicken am Küchenfenster dachte er nicht an seinen selbstsicheren Aussprch "irgendwann, irgendwo, irgendwen", als er mit Gerry eines Nachts Hals über Kopf aus Donaueschingen getürmt war, weil ihnen alles "zu eng" erschien.
HEIMWEH - NICHTS ALS HEIMWEH
Er sah nur den alten, heimischen Marktplatz, das Café Hengstler vor sich, erinnerte sich an die spannenden Wettfahrten zum Nachbarort Hüfingen und vor allem an die vielen Leute, die er kannte und die natürlich auch ihn kannten. "Alsom wenn ich in Donaueschingen die Straße rauf lauf, so fünfhundert Meter lang, da sind mindestens zehn Bekannte, die mich anhalten und sich mit mir unterhalten", verklickerte Harald beim Abendessen die neue Erkenntnis. Er sagte es so eindringlich, als kämen seine Freunde aus einer anderen Stadt. Nun war er aber nicht mehr in Donaueschingen, sondern in seiner Wohngemeinschaft in Kreuzberg, In diesem "Dreckloch", wie er plötzlich sein neues Zuhause nannte, "zwischen Türken, Müll, Ratten, einem Scheißhaus für dreißig Mann, und da wollen wir alles anders machen", beschimpfte er Johannes und Werner, die sich seinen Ausbruch nicht erklären konnten. "Was ist hier eigentlich alternativ", schnauzte Harald herum. Er wartete die Reaktion erst gar nicht ab, sondern antwortete gleich selbst: "Wenn Scheiße für euch eine Alternative ist, dann bin ich eben ein Spießer."
FLÜCHTEN ODER STANDHALTEN
Abhauen wollte er noch am selben Abend. Doch er blieb. Über eine Woche verschanzte Harald sich in seinem Zimmer und redete mit niemanden. Johannes und Werner vermuteten schon, Harald werde doch über kurz oder lang aus der WG aussteigen und auf den Marktplatz nach Donaueschingen zurückkehren. Harald machte aber etwas anderes. Er malte einen großen Laubbaum in grünen und braunen Farben an seine weiß-graue Zimmerwand. Für ihn war's ein bisschen Schwarzwald in dem Häusermeer Kreuzberg. Deprimiert und ratlos hockte er in seiner Bude. Blinde Wut kam in ihm hoch, schlug dann wieder in neues Leiden um. Er konnte sich nicht erklären, was die Auslöser für seine tiefen Stimmungsschwankungen eigentlich waren. Er glaubte, nur er allein könne damit fertig werden. Doch je mehr er sich vergrub, desto größer wurden seine Gefühlssprünge, desto passiver und phlegmatischer reagierte er. Dabei gab es für ihn keinen ersichtlichen Grund.
"WAS HABEN WIR DIR ANGETAN?"
Schließlich hatte ihn keiner gezwungen, mit dem Elternhaus zu brechen und in eine Wohngemeinschaft nach Kreuzberg zu ziehen. Er konnte ja wieder heimgehen. Seine Eltern würden sich freuen, zumal es keinen Krach gegeben hatte. Sie haben ihn ohnehin nicht verstanden. Im letzten Brief, den er von seiner Mutter bekam, schrieb sie: "Was haben wir Dir angetan, dass Du uns so missachtest." Aber darum geht es ja nicht. Ursprünglich hoffte er, sich am ehesten in Kreuzberg zu verwirklichen. Hier muss er nicht im kleinen Horizont ständig funktionieren, sich anpassen und sich laufend reinreden lassen. Hier muss er nicht arbeiten, wenn er nicht will. Hier muss er nicht sein Fassaden-Lächeln aufsetzen, wenn er keine Lust dazu hat. Hier könnte er sich in alternativen Gruppen engagieren, Brote backen, Autos zusammenflicken, sanitäre Anlagen verlegen. Hier könnte er in Teestuben, in Pinten, in Buchläden mit vielen Leuten reden, denen es sicherlich nicht viel anders ergeht - und nicht nur so'n oberflächliches Geschwätz über Status und Stars, sonderen echte Gespräche. Deshalb sind sie ja nach Kreuzberg gekommen, der Harald, der Gerry, der Johannes und der Werner.
EINGEGERBTE KINDHEITS-ERLEBNISSE
Aber anders als Gerry, der keinen seiner Freunde richtig an sein Innenleben herankommen ließ, versuchte Harald in Marathon-Diskussionen mit Johannes und Werner auszuloten, warum ihn seine Gefühle blockierten, warum er bisher matt und mutlos blieb, warum er so kontaktscheu war und sich noch nicht einmal auf die Straße traute. Da war nicht nur der gewohnte Marktplatz, zu dem Harald sich irgendwie zurücksehnte. Ganz unvermittelt sprach er von seinen Kindheitserlebnissen, die er als "wahnsinnig schön" empfand und die ihm "vom Gefühl her" heute fehlen. "Alle sieben Kinder schliefen in einem Raum, und fast jeden Abend haben wir gespielt." Oder er erzählte, wie ihm sein großer Bruder Anton mit sechs Jahren die erste Mark geschenkt hatte. Oder wie er als Vierzehnjähriger mit seinem kleinen Fahrrad zum ersten Mal ein Auto überholte. Harald: "Es war totaler Wahnsinn, das Rad hatte nämlich nur eine Übersetzung von eins zu eins."
OPEL-STOLZ FRÜHERER JAHRE
Johannes und Werner hörten aufmerksam zu. Sie ließen Harald Stunden über seine Kindheit berichten, die er sich als ein Stück heile Welt bewahren wollte. Harald entging in seinem Erzählfluss offenbar, dass er längst bei einem anderen Thema gelandet war. Er sprach nun von seinem Vater, der noch mit 48 Jahren wöchentlich drei Mark Zigarettengeld von der Mutter zugeteilt bekam. Der sích mit 53 Jahren den ersten Wagen, einen Opel Kadett, leisten konnte. Der mit seinem Opel-Stolz jährlich aber nur um die 600 Kilometer fuhr, weil ihm das Benzingeld fehlte. Der trotzdem jeden Samstag, wenn's nicht regnete, wie ein kleiner Bub vor der Haustür sein Auto wusch und polierte. Und der sich immer darüber erregen konnte, wenn Nachbarn oder Arbeitskollegen mit ihren neuesten Modellen angeberisch durch de Kleinstadt fuhren.
DÖSEN IM RENTENALTER
Inzwischen ist der Alte 66 Jahre, sein Gesicht ist eingefallen und voller Falten. Seit er pensioniert ist, weiß er mit sich und seiner Umgebung nichts mehr anzufangen. Während seines ganzen Lebens hat er nur gearbeitet, so zehn bis zwölf Stunden am Tag, aber nie gelernt, selbst seine Freizeit mit Hobbies spielerisch zu gestalten. So sitzt der halbglatzige Herr meist vorm Fernseher, döst vor sich hin, weil er für Politik und Show wenig übrig hat. Nur wenn am Samstag vor der Spätausgabe der Tagesschau zur Ziehung der Lottozahlen umgeschaltet wird, zum Hessischen Rundfunk, springt er hoch, vergleicht seine drei Tipp-Scheine, um dann wieder zusammenzusacken. Mutters Errungenschaft, fährt Harald fort, ist die neue Stereoanlage mit eingebauten Kassettenrecorder. Fünf Jahren haben sie dafür gespart. Beim Kauf nahmen die Eltern natürlich auch gleich ein paar Platten mit. Außer Rudolf Schock, Heino und die Egerländer Marschmusik fiel ihnen nichts weiter ein. So steht der Apparat als Vorzeigestück in der Wohnstube und wird kau eingeschaltet, weil sie ja nicht tagein-tagaus dieselben Melodien hören können.
PUTZFIMMEL ÜBERALL PUTZFIMMEL
Staub und Flusen wären jedoch auf dem teuren Stück undenkbar. Darauf achtet Mutter schon. Und dann erinnert sich Harald an die immer wiederkehrende Stereotype seiner Mama: "Schaffe Harald, schaffe Harald. Mach's so wie die Gaby, die schafft bei Aldi in der Buchabteilung, oder wie Irene, die zählt das Geld uff die Sparkass". Womit seine ältere Schwestern gemeint waren. Natürlich haben die es zu etwas gebracht. Mit zwanzig geheiratet, zwei Kinder bekommen, wieder einen Halbtagsjob angenommen, Geschirrspüler, Gefriertruhe und einen Gartengrill gekauft. Einmal im Jahr geht's nach Gran Canaria, um dort am Strand Dosenbier zu trinken. "Die sind ja bekloppt", räsoniert Harald. "Die wissen doch gar nicht mehr, wer sie eigentlich sind."
"SOZIALE NETZ" DEUTSCHLAND
Wer er selber ist, weiß Harald auch nicht so genau. Seine Gefühlssprünge, die totale Depressionen, seine Apathie fangen ihn immer wieder ein. Mal ist es die totale Identifikation, mal die totale Verweigerung, mal will er noch in derselben Nacht abhauen, mal plant er über Jahre in der Wohngemeinschaft zu bleiben. Die etablierte Erwachsenenwelt mag in diesen Jugendlichen "verweichtlichte Kinder" sehen, die nur deshalb ängstlich und kopflos sind, weil ihnen alles abgenommen wurde und sie alles vorfinden, was sie scheinbar brauchen. Aber Haralds Stabilität und die seiner Freunde ist nicht das "soziale Netz" Bundesrepublik - nicht die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, nicht die Rentenversicherung, kein Bausparvertrag, keine vermögenswirksamen Leistungen. Die Wohngemeinschaft in Kreuzberg findet ihr Gleichgewicht vielmehr in der Negativabgrenzung gegenüber dieser Gesellschaft. Harald und Co. machen sich nichts aus der Konsumkultur, die soziale Rangskala der Karrieren auf Lebenszeit hat für sie keine Bedeutung. Aber die einstigen Handwerker wollen sich auch nicht vom "Profitgeier und Polier" in Fabriken oder auf dem Bau kaputtmachen lassen. Ob mit Flanellanzug im Büro oder mit dem Blaumann im Fließband - Maloche ist es allemal und die tötet Gefühl und Fantasie. Umgebung und Milieu zu erleben, Typen kennenlernen, unendlich viel Zeit für sich und andere zu haben, winzige Details wahrzunehmen und weiterzugeben - kurzum wetterfühlig zu sein und Sensibilität ausleben zu können, das alles ist ihnen erheblich wichtiger als der große Wurf strategischer Überlegungen à la Bonn oder eines Lohnzuwachses um 6.8 Prozent, den Funktionäre ausgemauschelt haben.
"WOHLSTANDS-PUNGIUN"
Die Aussteiger in der Gneisenaustraße sehen im Bundesbürger einen "Wohlstands-Pinguin", der sich in seinem schwarz-weißen Einheitstrikot als Frontkämpfer versteht: für Wirtschafts-Wachstum und Weltmeisterschaft. "Das ist der Grund", wiederholt Harald, "warum es mir momentan in der Gesellschaft überhaupt nicht gefällt." Wenn Harald von Gesellschaft spricht, dann meint er nicht jene, die Soziologen oder Politologen analysieren und auseinanderpflücken. Er ist kein Theoretiker und will es auch gar nicht sein. In den Bücherregalen dieser Wohngemeinschaft steht kein Karl Marx (*1818+1893) , Mao Zedong (*1893+1976) oder Herbert Marcuse (*1898+1979). Und selbst wenn sie dort stünden, käme keiner auf die Idee, seine Lebenssituation mit Zitaten dieser Theoretiken zu verallgemeinern. So ist ihre Wohngemeinschaft auch nicht ein Team junger Leute, die sich gemeinsam auf ihre Examen vorbereiten, zusammen Semesterarbeiten schreiben und sich über Grundsatzfragen oder Berufschancen die Köpfe heißreden. Dieser Typus von WG hat sich bei den Aussteigern überlebt. Ob die Leute studieren, einen akademischen Abschluss haben oder Hauptschüler sind, ist zweitrangig. Ihnen kommt es mehr auf den Konsensus im Zusammenleben an, sich und die Lebensphilosophie der anderen zu begreifen. Dabei urteilen Harald, Gerry, Johannes und Werner aus ihrer Erlebniswelt und ihren unmittelbaren Erfahrungen heraus. Sie sind nicht die abgeklärten Überfliefer, die sämtliche aktuellen Vorkommnisse mit routinesicherem Blick in ihre selbstgezimmerten Denkschemata einordnen, seelenruhig in der Gruppe ihre Statements abgeben und allmählich zu Zyniker werden.
ABGRENZUNG ZU DIESEM STAAT
Als Johannes noch von der Uni nach Hause kam, löste er oft ausufernde Debatten in der Gruppe aus. Mindestens zweimal in der Woche , wenn er seine Seminartage hatte, war er hinterher so hektisch und aufgekratzt, dass gleich alles aus ihm heraussprudelte. Für die anderen drei verkörperte Johannes den "politischen Durchblicker", der impulsiv und messerscharf ihre schon seit drei Jahren vollzogene Abgrenzung zu diesem Staat mit politischen Daten und Fakten untermauern konnte. Und Johannes brauchte diese Gespräche, um sich seiner zu vergewissern. Sie gaben ihm aber auch ein bisschen Genugtuung. Er verstand es nämlich, seine Betroffenheit auf die Gruppe zu übertragen.
HANNS MARTIN SCHLEYER (*1915+1977)
Der 18. Oktober 1977 hat sich im Gedächtnis der vier fest eingeprägt. Nicht etwa, weil seit der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer der Bundesrepublik der Atem stillstand oder bei den Polizeirazzíen ganze Häuserblocks gefilzt wurden. Daran hat sich die Berliner Szene seit der Geiselnahme des CDU-Politikers Peter Lorenz (Entführung am 27. 2. 1975 durch Terroristen der Gruppe 2. Juni; *1922+1987) gewöhnt. Erstmals wurde in der Wohngemeinschaft über Selbstmord geredet - eine Diskussion, die sich noch nachhaltig auswirken sollte. Johannes kam an diesem Abend von der Uni und sagte nur knapp: "Sie sind tot." - "Wer sind sie", fragte Werner. "Na wer schon", reagierte Johannes unwirsch. "Baader, Ensslin, Raspe." Johannes war derart aufgelöst und geschockt, als sei seine Mutter oder einer der engsten Freunde beim Verkehrsunfall unverhofft aus dem Leben gerissen worden. Er griff gleich zur Weinflasche, setzte sie ex an und hörte gar nicht wieder auf zu schlucken. Der knappe Satz "Sie sind tot" und der darauffolgende spontane Ausbruch verblüfften Harald, Gerry und Werner zunächst. Denn als vor rund zwei Wochen Hanns Martin Schleyer verschwand, da hatte Johannes noch erklärt, er könne sich mit "der politischen Konzeption der RAF (Rote Armee Fraktion 1970-1998; verantwortlich für 34 Morde, zahlreiche Banküberfälle, Sprengstoffattentate) und ihren Gewalttaten nicht identifizieren".
SELBSTMORD ODER MORD ?
Am Nachmittag hatte ihm ein Kommilitone auf dem Weg in den Hörsaal von den Selbstmorden in Stuttgart-Stammheim berichtet. "Ich glaubte, der wollte mich verscheißern", erzählte Johannes seinen Freunden. "Ich bin nicht mehr in die Vorlesung gegangen, rannte zum Kiosk und kaufte mir zwei Zeitungen. Da sah ich dann die Schlagzeilen. Da hab ich plötzlich den Eindruck gehabt, mir läßt jemand die Luft raus. Es war im Moment nichts mehr da, was man diesem Machtapparat, dieser ganzen Struktur, dieser ganzen Maschinerie hätte entgegensetzen können. Und das hat mich traurig und bestürzt gemacht." - "Aber Johannes, die sollen sich doch selbst erschossen haben, hast du vorhein noch gesagt", schränkte Werner ein. Johannes aufgebracht: "Selbstmord oder Mord, das ist doch nicht die wesentliche Frage. Die Leute sind tot, sie sind nicht mehr da, sie sind weg." Betroffenes Schweigen. Keiner will etwas sagen, auch nicht. Nach dem Abendessen setzen sich die vier in ihre Sofaecke, zünden Kerzen an und wollten eigentlich ihre Schachpartie vom Vortage fortsetzen. Doch bevor das erste Spiel beendet war, kam das Thema wieder hoch. Werner, der damit anfing, konnte mit Johannes' rätselhaftem Verhalten wenig anfangen. Für ihn stellte sich die Frage, was Johannes trotz entgegengesetzter Beteuerungen ein stiller Sympathisant der Terrorszene, der nur momentan die Contenance verloren hatte, oder welche seelischen Hintergründe gab es, dass ihr Freunds seine Person so stark mit dem Schicksal toter Terroristen verband.
16 MANN HALTEN 60 MILLIONEN IN SCHACH
"Das geht ja nicht nur mir so", versuchte Johannes zu erklären. "In der Uni waren viel baff und erschlagen, haben nicht mehr den Mund aufgekriegt. Für mich war die RAF eine Opposition, ich hatte das Gefühl von Sicherheit und Stärke, weil ich gesehen habe, wsie sechzehn oder siebzehn Mann über sechzig Millionen in Schach halten konnten. Es ist doch egal, ob jemand in die Zellen gegangen ist und den Leuten die Waffen an die Kopf gelegt hat. Für mich sind es die ganzen Verhältnisse, die Haftbedingungen, verstehst du, Werner ? Wenn ich dich jetzt in diesem Zimmer einsperre, und ich unterwerfe dich einer Kontaktsperre, und du springst nachher aus dem Fenster raus, dann ist das Mord. Die hatten ja keine Möglichkeit mehr, was sollten die noch machen. Ich hätt mich wahrscheinlich auch umgebracht, wenn die Frage des Selbstmordes aktuell gewesen wäre."
ABSCHIEDSBRIEF AN FREUNDE
Eine Konjunktiv-Formulierung, die keine zwei Monate später ihre Aktualität bekam. Es war gegen Mittag. Johannes hatte ausgeschlafen und beim Aufstehen niemanden angetroffen. Er setzte sich an den noch stehengelassenen Frühstückstisch, rührte aber nichts an, sondern schrieb einen Abschiedsbrief an seine Freunde. "Das Telefon klingelte, zumindest war er sicher, dass es klingeln würde, da er den Anruf erwartet hatte. Das Fenster stand weit offen, so weit, wie es eigentlich nur im Sommer üblich war. Und einer der Fensterflügel bewegte sich. Auch die Uhr tickte noch in seiner Vorstellung, Aber nur, um auf diese Weise die Zeit verstreichen zu hören. Der flüchtig gedeckte Frühstückstisch, der nahe am Fenster stand, war leicht mit Schnee bedeckt. Das Zimmer schien unverändert, bis auf die Kälte, die den Raum rasch angefüllt hatte. Er lag unten im Hof auf dem Teppich aus Schnee , leicht verkrümmt, unbeweglich, bis auf eine Strähne im Haar, die der Wind ab und zu bewegte. Seine Welt drehte sich nicht mehr, und die andere schien noch nichts davon gemerkt zu haben. Als dann der Bruch ihn erschrak, vergewisserte er sich seines Willens. Schon oft hatte er diese Vorstellung, zu verletzten, doch wusste er um die Unbedingtheit und Unwiederbringlichkeit dieses Schrittes."
MIT PYJAMA AUFS FENSTERBRETT
Über eine Stunde benötigte Johannes für seine Zeilen. Er ließ sie auf dem Küchentisch liegen und kletterte im grünen Pyjama auf das Fensterbrett, schaute vom fünften Stock auf den Steinboden unter auf dem Hinterhof, stieg wieder runter, dann wieder rauf. Plötzlich packten ihn von hinten zwei Hände und rissen ihn vom Fensterbrett, so dass der Kichentisch gleich mit umflog. Werner war durch die offenstehende Haustür gekommen. Er sah einen bibbernden Johannes, der in sich versunken nach unten schaute, aber offensichtlich den Mut verloren hatte, einen halben Meter vorwärts zu gehen.
GEFÜHL DER BEFREIUNG
Für den 23jährigen Johannes, wie er späte erzählte, war dieser Momen ein "Gefühl der Befreiung, also es ist aus. Herrgott, ich muss mich nicht mehr auseinandersetzen. Ich muss niemanden mehr sagen, dass ich mich unverstanden fühle". Unverstanden von seinen Eltern, unverstanden in der Uni, unverstanden von seiner Freundin Eva,unverstanden von seinen Mitbewohnern. Befreiung von seinen Eltern, zu denen er keinen Kontakt mehr hatte. Befreiung von der Uni, zu der er nicht mehr ging, Befreiung von seiner Freundin Eva, die er nicht mehr sah. Befreiung von der Wohngemeinschaft, indem er sich aus dem Fenster stürzen wollte.
ROTZIGE ARROGANZ
Johannes "pisst auf diese Welt", die ihn fix und fertig macht. "Dass ich in eine Gesellschaft mit ihrer rotzigen Arroganz und Selbstherrlichkeit hineinboren worden bin, dafür kann ich nichts", sagte er. "Wir sind doch alle mit Werten vollgepfropft, die fadenscheinig sind. Im Kindergarten und in der Schule hat man mich ideologisch getrimmt und versucht, durch Prügel abzurichten. Mein Vater machte mit meiner Mutter und mir dasselbe, wenn er besoffen war. Und das war in der Woche mindesten zweimal. Bundeswehr und Uni geben einem dann den letzten Schliff. Allround gebildet, von überall seinen Touch bekommen wird man losgelassen als ein abgeblich nützliches und wesentliches Glied innerhalb der Gesellschaft. - Psychische Krüppel sind die Karriere-Denker und Ehrgeizlinge, aber die merken noch nicht einmal, dass sie politisch und sozial entmündigt sind. Die Leute begreifen einfach nicht, in welchen Abhängigkeiten sie leben, wie ihre Bedürfnisse nach Selbstdarstellung und Selbstverwirklichung auf den Konsum gelenkt werden.
SCHEISSE STECKT ÜBERALL DRIN
Die leben in Sozialwohnungen, bei denen sich die Architekten am Reißbrett einen runtergeholt haben. Das sind die wahrsten Kasernen, denen fäll die Decke auf den Kopf, da kommt nicht mehr genug Licht ins Fenster. Die Scheiße steckt überall drin, bis ins letzte Detail. Aber das hat alles Modellcharakter in der Bundesrepublik. Die Politiker machen in Aufsichtsräten und Gesellschaften ihre Geschäfte, belügen die Bevölkeruung, weil sie die schlimmen Pannen in den Kernkraftwerken verheimlichen. Und wenn ich mir die Zeitungen angucke, dann weiß ich doch ganz genau, wir haben dpa oder AP. Das sind vorgefasste, ideologisch abgestimmte Nachrichten, die das ganze System untermauern. Das ist alles abgefuckt, soviel Unehrlichkeit, Mauschelei und Vorgaukelei. Und die Politiker stellen sich immer kackfrech hin und reden von Solidarität, Toleranz und Sozialstaat."
AUSWANDERN IN DIE HOFFNUNG
So wie Johannes denkt, sehen auch Harald, Gerry und Werner die deutsche Bundesrepublik. "Das ist doch die Wirklichkeit", sagt Gerry. Harald meint: "Über einige Jahre müssten regelmäßig Parteitage mit Tausenden von Leuten besetzt werden." Werner hat dazu keine Lust. "Das gibt nur Prügeleien mit den Bullen." Er will lieber auswandern. - "Auswandern in die Hoffnung", das sagt und wiederholt er immer wieder. Nur wohin, weiß er aber noch nicht: "mal seh'n".
DER STRAND VON TUNIX
Sie hauten nicht ins ferne asiatische Hinterland ab und besetzen auch keine Parteitage. Harald, Gerry, Johannes und Werner gingen gemeinsam an den "Strand von Tunix". Über 20.000 Jugendliche waren Anfang 1978 nach West-Berlin gekommen, um ihr Drei-Tage-Fest zu feiern. Ein Meeting der bundesdeutschen Subkultur, die mit Theater, Sketch, politischen Diskussionen, Rock und Beat, Reggae und Liebe sich als Gegenöffentlichkeit zur Gesellschaft präsentierte. "Uns lang's jetzt hier" -- "Wir hauen ab" -- "Und das wollen wir doch mal sehen", hießen ihre Parolen. Es war das erste Mal, dass sich die vier Donaueschinger aus ihrem Berliner Hinterhof-Dasein befreiten.
STADT-INDIANER UND CO.
Unter buntbemalten Stadtindianern, Feministinnen und Schwulen, Mescalero-Typen, Grünen und Roten "haben wir endlich gemerkt. dass wir überhaupt nicht allein sind", bemerkt Johannes. Harald glaubt: "Wir waren immer ein bisschen isoliert, und ich habe mich auch vereinsamt gefühlt. Eine Macke habe ich aber nicht. Dafür sind wir schon zu viele." Und Werner schwärmte von der U-Bahn, die er sonst gar nicht mochte: "Die war so proppenvoll mit irgendwelchen Typen. Das hat zum erstenmal Spaß gemacht. Dasa war alles so offe, man hat erzählt, gesungen und echt gelacht." Auf dem Tunix-Kongress gab's keine politischen Rezepte, da wurden auch keine langangelegten Strategien ausgetüftelt. Viel wichtiger war den meisten eine neuerlebe Gemeinsamkeit. Johannes stellte in diesem Moment nicht mehr sich selber infrage, "wir stellten endlich die Öffentlichkeit dorthin, wo sie längst hingehört, ins Kackquadrat. Für die Tageszeitung Welt war das Festival ein "Tummelplatz von Linksextremisten und ihren Sympathisanten, Randalierern und Chaoten". Harald, Gerry, Johannes und Werner hingegen fühlten sich in doppelter Hinsicht erleichtert. Ihre Heimatstadt Donaueschingen schien endgültig vergessen, und nun war es ihnen auch gelungen, aus dem schmorenden Saft der Wohngemeinschaft rauszukommn.
AUFBRUCH - ALLES WIRD ANDERS
Seither arbeiten sie in der alternativen Szene. Installateur Harald erneuert Waschbecken und Klos in Kneipen wie "Meisengeige" oder "Kiste Teeladen", legt Leitungen und repariert schrottreife Autos. Aus Tischler Werner wurde ein "Babysitter", weil die Mütter im "Frauenhaus-Zentrum für misshandelte Frauen und deren Kinder" Schichtdienst haben. Johannes, von dem seine Eltern in Donaueschingen träumten, er werde sich als Dr. jur. im Heimatörtchen niederlassen, fährt tagsüber den alternativen Wein in die makro-biotischen Läden; abends sitzt er im Taxi. Alternativle chauffiert er umsonst, Leuten aus dem Hotel Kempenski und anderen Nobelherbergen schlägt er's drauf. Nur Gerry, der die Pink-Floyd-Kassette drückte, als er mit Harald aus Donaueschingen abdampfte, macht noch den alten Striemel. Er hat noch seine Lohnsteuerkarte, hin und wieder schläft er drei Tage in einem durch oder ist mal für zwei bis drei Wochen ganz untergetaucht. - Den Marktplatz von Donaueschingen will keiner mehr wiedersehen.