Donnerstag, 8. Mai 1980

Reimar Oltmanns: Was aus dem Raster fällt ... Jugend in den achtziger Jahren - das Wunschbild der Medien in Deutschland (Teil III und Schluss)


























Die Jugend ist ein Sektor, der von Marktforschern bis zur Perfektion "betreut" wird. Bei dieser Erfassung fallen bestimmte Randgruppen aus dem Raster - auch wenn von ihnen Veränderungen ausgehen können. Das Erwachen ist dann in der Regel entsprechend.

Vorwärts, Bonn
08. Mai 1980

Die Begründung, warum sich "die jungen Leute" so fabelhaft entpuppen, liefern die Psychologen aus der Anzeigenabteilung: "Im Grunde hat nicht mehr stattgefunden als eine Verlagerung von einem Nest ins andere. Größere gesellschaftliche Ziele werden erst gar nicht angestrebt ... Sie wollen Geld verdienen, Geld, das ihnen, wie ihren Eltern, zu einem gesicherten Leben im vertrauten Rahmen verhelfen soll ..."

Die wirtschaftliche Größenordnung, um die es hierbei geht, hat die Industrie schon längst abgesteckt. Dass rigorose Bestreben der Konzerne, ihre Marktanteile an den jeweiligen Produkten ständig auszuweiten, jeden nur verfügbaren Cent aus dem Portemonnaie zu locken, führte dazu, dass der Zugriff auf die Jugendlichen einen Grad an Perfektion erreicht hat, der kaum noch ausbaufähig erscheint.

JUGEND ALS DAUER-KONSUMENT

Dabei sind es diesmal keine Systemkritiker, die die Vormachtstellung der Industrie auf dem Jugendsektor analytisch einordnen. Es sind die branchen-internen Wirtschaftsdienste, die selber mit politischen Argumenten hantieren. So schreibt Der Kontakter, ein Informationsblatt für Manager und Werbeleute: "Staaten der totalitären Gesellschaftsordnungen versuchen rechtzeitig, die Jugend voll auf ihre Seite zu ziehen. In Staaten der totalen marktwirtschaftlichen Ordnung versucht die Wirtschaft es rechtzeitig, die Jugend als Dauerkonsumenten zu gewinnen. So ist nun mal das Los des jungen Erdenbürgers."

Der Slogan lautet: Mit zielgruppen-orientierter Werbung in den "multimilliardenschweren Jugendmarkt". Der Kontakter gibt die Marschroute aus: "Denn höchstes Ziel jedes Anbieters muss es sein, ein Leben lang treuer Begleiter des Konsumenten zu werden ... Wenn wir uns auch daran gewöhnt haben, des Konsumterrors, der Massenverdummung und Manipulation verdächtigt zu werden - bei Kindern ist die Werbewelt in Ordnung. Weit mehr Jugendliche als Erwachsene finden, dass Werbung gut ist."

HANG ZU "HEIM UND HERD"

Die Abteilung Marktforschung des Zeitschriften-Konzern Gruner + Jahr kommt in einer vertraulichen Media-Analyse zu dem vielversprechenden Resultat: "Zum großen Nachfragepontenzial von 18 Milliarden Mark (9 Milliarden Euro) können die Zwölf- bis Vierzehnjährigen im Monat durchschnittlich Einnahmen von ca. 19 Mark, die 15- bis 17jährige von ca. 105 Mark und die 18- bis 21jährigen sogar 380 Mark beisteuern. Die Höhe des Gesparten liegt jedoch immerhin bei fünf Milliarden Mark."

Folglich wird die Zielgruppe Jugendliche über ihre statistische Bedeutung hinaus "vor allem für die nächsten fünf Jahre wichtig, um Marktpositionen für die achtziger Jahre zu sichern."

UNTERNEHMENS-HEKTIK

Der Hintergrund derartiger Unternehmenshektik: In der Altersgruppe zwischen 20 und 49 Jahren mit einer hohen Kaufkraft und in städtischen Gebieten ist seit Jahren eine Sättigung eingetreten, die Gewinne stagnieren. Zuwachs um des Zuwachses Willen ist nun mal die Wirtschaftsphilosophie. Dieser lässt sich aber nur noch durch Expansion im Kinder- und Jugendbereich holen. Und die Bedingungen dafür, so das Münchner Institut für Jugendforschung, seien äußerst günstig. Danach plätschert "die Jugend" vor sich hin, die "APO-Frondeure" und die "Kinder von Marx und Coca-Cola" hätten ausgedient. Gefragt sei vielmehr das schlichte Ja und Amen, zwar nicht in der Kirche, aber dafür zu Hause, in der Schule und im Betrieb.

Auch die Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit verzeichnet einen beachtlichen Hang zu "Heim und Herd". Vornehmlich die jungen Mädchen seien lange nicht so emanzipiert, wie bisher vermutet. "Sie träumen kaum noch von Gleichberechtigung, sondern wollen lieber wieder Hausfrau und Mutter sein." Nicht Sex und Politik stünden an erster Stelle des Interesses. Nach Altmütterweise sei die Mode wieder Thema Nummer 1 - knöchellang und spitzenbewehrt. Dafür hätten sich nach der Münchener Jugenduntersuchung 42 Prozent der 16- bis 29jährigen ausgesprochen. Erst weit abgeschlagen auf den nächsten Plätzen folgen Erziehungsfragen (33 Prozent), Wohnungseinrichtung (30 Prozent), soziale Probleme (27 Prozent) und Politik (21 Prozent). Die Jugendlichen erhoffen sich ein Leben, "das dem chemisch-reinen Vorbild unserer Wohlstandsgesellschaft entspricht - sie orientieren ihre Karrierevorstellungen am guten Verdienst, denn Geld macht frei". Für die Unternehmen eine Aufforderung, nun die richtigen "strategischen Mittel" einzusetzen, "denn der junge Verbraucher befindet sich im Stadium, in dem er beeinflussbar ist."

JUGENDLICHE ABHÄNGIG MACHEN

Die richtigen strategischen Mittel einsetzen, Märkte erobern, psychologisch beeinflussen, Jugendliche unterschwellig abhängig machen - dafür ist die Werbung kompetent. Eine ihrer grundlegend neuen Erkenntnisse: Die Jugendlichen wollen "als ganz normale Menschen" behandelt werden. "Sie fordern Echtheit der dargestellten Situation und lehnen unnatürliche Posen ebenso rigoros ab wie eine überspannte Sprache."

Der offenkundige Versuch, ein möglichst konfliktfreies und gesellschaftskonformes Bild von den Jugendlichen zu entwerfen, kommt einer wohl kaum unbeabsichtigten Gleichschaltung nahe. Plattitüden wie "APO-Frondeure", "Kinder von Marx und Coca-Cola", die vielzitierte "Heim-und-Herd-Mentalität" zeigen nur allzu deutlich, mit welcher voreingenommenen Ignoranz hier angeblich "vorurteilsfrei" Zwischenbilanzen aufgemacht werden., die zu alledem noch Anspruch auf Repräsentativität erheben. Die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung meint zu Recht: "So beunruhigend die freilich oft selbstverständlich-banalen Ereignisse sind, so fragwürdig erscheint die quantifizierende Methode, auf Grund deren sie gewonnen sind. Wir bedürfen der Faktenkenntnis", schreibt das Blatt, "aber es ist ein Aberglaube unserer Zeit, dass 'facts and figures" als solche Aussagekraft besitzen.

POLITISCHE VERHALTENSWEISEN

Das tritt im selben Maße auf Forschungsinstitute zu, die von der Industrie unabhängig arbeiten. Über vier Jahre untersuchte der Hannoveraner Sozialwissenschaftler Walter Jaide politische Verhaltensweisen der Achtzehnjährigen. Als der Hochschullehrer seine gewiss seriöse empirische Studie publizierte, war sie bereits weitgehend von der Realität überholt und dürfte vornehmlich für Historiker oder Promotionsstipendiaten interessant sein. Jaide kam auch in seiner Beurteilung über einen gewissen "Schwebezustand" nicht hinaus. Er resümierte: "Somit bleibt dem Beobachter, teils respektabel, teils beklemmend, der Haupteindruck eines auffälligen 'Noch', einer Noch-Existenz der überwiegenden Mehrheit der Jugendlichen abseits von Resignation und Entfremdung, von Reaktion und Rebellion."

Ähnlich verhält es sich mit den Experten im Buch "Junge Leute von heute". Der Grundtenor: "Der Fortgang der Tradition geht ungestört seinen Gang." Das Prinzip: Der eine Jugendliche steht mit einem Bein in kochend heißem Wasser, der andere steckt seine Füße in die Gefriertruhe. Was dabei herauskommt, sind sozialwissenschaftliche Mittelwerte verflossener Jahre. Veränderungen, die oft von Minderheiten ausgehen, fallen aus dem Raster.

DISCO-FIEBER - TRAVOLTA-NÄCHTE

Eigentlich kann in Deutschland mit "dieser Jugend" jeder zufrieden sein. Politiker, die künftig kaum noch Demonstrationen befürchten müssten. Medien, die "Travolta-Nächte" in den Discos hochjubeln können. Unternehmer frohlocken über Konsumhunger und Leistungswillen. Statistiker, die die deutsche Jugend in Europa mit an der Spitze sehen.

Doch alle wissenschaftlichen Prognosen, alle herbeigeredeten Trends, die bisher über den Typ der einen oder anderen Generation aufgestellt worden sind, haben sich im nachhinein als "Eintagsfliegen" oder als rundweg falsch herausgestellt. Es gab weder die "skeptische Generation", die der Soziologe Helmut Schelsky (* 1912+1984) in der Nachkriegsgeneration sah, noch die "Generation der Unbefangenen" - eine Studie der Deutschen Shell, die eine unpolitische, konsumwütige und harmlose Jugend ausmachte. Im Jahre 1966 wurde die Shell-Untersuchung veröffentlicht, ein Jahr später brach die Studentenrevolte aus.

Aber auch die weitsichtigen Erwartungen aus der APO-Zeit erwiesen sich als nicht stichhaltig. Die "Kulturrevolution" blieb papieren. Der "lange Marsch durch die Institutionen" wurde ein kurzer Spaziergang. "Jugend im Zeitbruch" nannte der konservative Hochschullehrer Klaus Mehnert (*1906+1984) sein Buch, in dem er die Außerparlamentarische Opposition und deren gesellschaftlichen Einfluss kritisierte.

LANGZEIT-AUSWIRKUNGEN

Zwei Jahre nach Erscheinen korrigierte Mehnert ebenfalls etliche Kapitel, ließ andere ganz weg, weil er noch deutlichere "Langzeit-Auswirkungen" zu erkennen glaubte. Ende der siebziger Jahre - die Republik feierte gerade ihren 30. Geburtstag - war aus der einst "skeptischen", dann "unbefangenen" nunmehr "die überflüssige Generation" geworden. Traurige Kinder, durch Arbeitslosigkeit ausgestoßen durch Berufsverbote als Verfassungsfeinde stigmatisiert. Man sah verschlossene Gesichter, stumm und resignativ, abermals in den Konsum flüchtend und unpolitisch privatisierend.

Kein Chefkommentator oder Politstratege hätte jemals zu dem damaligen Zeitpunkt den Grünen, Bunten oder Alternativen eine Chance eingeräumt, auch nur in ein Parlament einzuziehen. Aber auf einmal waren sie da, und eine Jugend rückte in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit, die schon seit Jahren aus der Gesellschaft ausgestiegen war. Aus winzigen Randgruppen in den Hinterhöfen der Großstädte und den abgelegenen Landkommunen, oft belächelt und verspottet, entwickelte sich eine neue Jugendbewegung; inzwischen ein ernst zu nehmender politischer Faktor, an dem die selbstgefälligen Bonner Parteien nicht mehr vorbeikommen.

So kommt es, dass in der 54 Seiten starken Jugendstudie der Werbeagentur McCann mit Sicherheit ein richtiger Satz steht: "Wahrscheinlich hat man sich zu keiner Zeit über den Zustand einer Gesellschaft so breit und öffentlich mit falschen Argumenten auseinandergesetzt wie heute. Das gilt insbesondere für die Bevölkerungsgruppe, die als 'die Jugend von heute' bezeichnet wird."