Montag, 5. Mai 1980

Zu Hause in einem fremden Land - Deutschland








Für Sie gelesen
am 5. Mai 1980


Anders als der ehemalige "stern"-Reporter Jörg Andrees Elten, der in eine obskure indische Heilslehre nach Poona geflüchtet ist, ist der ehemalige "stern"-Redakteur Reimar Oltmanns "ausgestiegen". In einem Vorwort zu seinem jüngst von ihm im Rowohlt-Verlag erschienenen Buch mit dem Titel "Du hast keine Chance, aber nutze sie - eine Jugend steigt aus" beschreibt er seine eigene Veränderung unter anderem so:

Über zehn Jahre saß ich in Zeitungsredaktionen ein. Damals, als ich anfing, glaubte ich noch an den Marsch durch die Institutionen, an die Offenheit eines kritischen Dialogs, an meine und die Lernfähigkeit anderer. Als ich dann aufhörte, besser gesagt ausstieg, war ich nicht resigniert. Vielmehr ging mit ständig ein Satz durch den Kopf, den ich später auch immer wieder von Jugendlichen hörte: "Das kann doch nicht alles gewesen sein."

JET-SET-JOURNALISMUS ADÉ

Nein, er war wirklich nicht alles, dieser Jet-set-Journalismus. Er hatte sicherlich einiges von dem, wie manche sich die "große Welt" vorstellen. Man flog zum Beispiel vom New Yorker John-F.-Kennedy-Flughafen in der ersten Klasse nach Frankfurt zurück, wo die Stewardessen Sekt-Cocktails reichen. Man nächtigte in Rom in der Villa Hassler, Zimmer mit Blick auf die Spanische Treppe, und ging abends im Pariser "La Coupole" auf Geschäftskosten essen.

Nein - dieser Jet-set-Journalismus ist ein künstliches Treibhaus und hat mit den Menschen und ihren wirklichen Problemen kaum noch etwas zu tun. Eine Portion Abgebrühtheit und Zynismus gehört schon dazu, um über Jahre all die Widersprüche unbeschadet durchzuhalten, die damit verbunden sind - einmal den Erdball aus der Leihwagenperspektive wahrzunehmen, zum anderen, wenigstens vordergründig noch eine Anteilnahme für die sozialen Deklassierungen und krassen Ungerechtig-keiten zu empfinden.

ANMACHEN, AUSQUETSCHEN, ABMELKEN

Mit den Artikeln, die ich schrieb, verhielt es sich so wie mit einem Lichtschalter, der an- und ausgeknipst wird. Die Menschen, denen ich unterwegs begegnete, wurden dabei zu Figuren, Leute zum "Anmachen", " Ausquetschen" und "Abmelken", mal auf die harte, mal auf die weiche Tour. Warum sie an die Öffentlichkeit gingen, ihr Leid, ihr Schicksal oder auch ihre Ängste schilderten - das war im Prinzip nebensächlich. Was zählte, war die Geschichte, die andere "vom Stuhl reißen" sollte, "Output" hieß das in der Redaktion, Zeile um Zeile, Story um Story.

FASSADENKULTUR DES NETTSEINS

Ich bin mir schon darüber im klaren, dass meine heutige selbstkritische Distanz zum Jet-set-Journalismus von manchen missverstanden werden muss. Nach dem Motto: ein Geläuteter kann es sich nicht verkneifen, mit seiner Vergangenheit zu renommieren. Aber diese Kritik nehme ich in Kauf, wenn es mir gelingt, an meinem Beispiel zu verdeutlichen, warum mich gerade die Aussteigergeneration interessiert. Das, was ich tagtäglich in meiner Berufswelt erlebte, ergeht anderen ebenso. Ob in Schulen, Betrieben und Universitäten - gemeint ist die allmähliche Enteignung von Gefühlen, von Denken und Sprache. Gemeint ist die Selbstentfremdung, die Fremdbestimmtheit, der sich keiner entziehen kann, der nur einigermaßen durchhalten will. Gemeint sind ferner die ewigen Herum-Finassierereien, die Artigkeiten, die da ausgetauscht werden, die Fassadenkultur des Nettseins, obwohl die meisten insgeheim wissen, mit welch einem geduckten Bewusstsein sie ans Tagwerk gehen.

Für dieses Buch benötigte ich jedenfalls kein Flugticket, keine credit cards und schon gar keine Visitenkarte. Was ich brauchte, war das Vertrauen junger Menschen, die ihrer Umwelt misstrauisch gegenüberstehen.

... ... Da stand ich nun in Berlin-Kreuzberg, ging von einer Kneipe zur anderen, versuchte mich hier und dort ... ... Mal hielt man mich für einen Spitzel, mal für einen üblen Journalisten, der nur ihr Leben verkaufen wolle. Und ich fragte mich immer ernsthafter, was in den vergangenen zehn Jahren in diesem Land eigentlich passiert sein muss, dass die Luft zwischen diesem Teil der Jugendlichen und der etablierten Gesellschaft stillsteht, dass vielerorts ein abgrundtiefes Misstrauen vorherrscht, dass die einfachste Art des alltäglichen Miteinanders unmöglich erscheint - nämlich das Gespräch.

ABGRUNDTIEFE RISSE

Viel hörte ich im Jahre 1979 von den traurigen Kindern dieser Republik oder von einer verlorenen Generation. Das mag vielleicht noch auf jene zutreffen, die sich von diesem Staat, seinen Politikern und Bürokraten etwas erhoffen. Die Aussteigergeneration hingegen ist nicht verloren, dieses Land hat vielmehr einen Großteil seiner Jugend verloren. Auch sind es keine Kinder von Traurigkeit. Junge Leute, die das Leben bejahen, die sich ihre Ideale nicht rauben und zerreden lassen wollen, sondern in ihrem kleinen Lebensbereich einer sinnentleerten und auf Konsum fixierten Gesellschaft eine Absage erteilen.

Nach meiner Rundreise durchs alternative Deutschland, die fast ein Jahr dauerte, schien mir die Bundesrepublik ein wenig fremder, kälter und unwirtlicher als vorher. Bonn, wo ich mich früher als Korrespondent zu Hause gefühlt habe, machte mich nur noch betroffen.

SCHÜLERBERGE - BUTTERBERGE - PAPIERBERGE

Bei vielen Gesprächspartnern hatte ich den Eindruck, dass sie überhaupt noch nicht erfasst haben, welche Dimension die Aussteigergeneration inzwischen erlangt hat; dass es ihnen eigentlich auch relativ egal ist, wenn Hunderttausende junger Leute mit den Füssen oder dem Kopf auswandern - Technokraten der Macht, herzlos und ohne Anteilnahme.

In keiner Stadt musste ich mich mit derart vielen Allgemeinplätzen vertraut machen wie in dieser. Da war von Modetrends, Randgruppen und Kommunisten die Rede, da wurden Schülerberge mit Butterbergen gleichgesetzt und als Ablage auf den Papierberg gestapelt, da wurde schließlich vom weißen Rauschen und larmoyanten Weltschmerz einer jungen Generation lamentiert. Ursache und Wirkung wurden in seltensten Fällen auseinandergehalten. Das ließen die Statistiken nicht zu, oder die Ministerialen hatten sich eine Denkpause verordnet. Wie nirgends sonst fand ih hier die These vom Staat im Staate, von zwei Kulturen, die sich einander nichts mehr zu sagen haben, grundlegend bestätigt. Irgendwie war ich hier zu Hause, aber irgendwie auch schon ein einem Land, das mir vielleicht schon immer fremd war oder fremd geworden ist.