Mittwoch, 16. April 1980

Suche nach Nähe - Wie eine Gesellschaft ihre Kinder zu Frührentnern macht













































abgeschoben, verwahrt, vereinsamt, verwahrlost - Jugendfreizeitheim "Gelse" im Falkenhagener Feld zu Berlin


Metall-Magazin Nr. 8/80
Frankfurt a/M
am 16. April 1980
von Reimar Oltmanns

Rüdiger hat es sich ausgerechnet: 512mal schließt er während seiner Arbeitszeit mit 64 Einzelschlüssel Räume auf und wieder zu, öffnet mit dem Vierkantschlüssel verriegelte Toiletten - und das Tag für Tag von 2 Uhr mittags bis 10 Uhr abends, Monat für Monat, Jahr für Jahr.

Auch wenn seine athletische Gestalt auf manchen Angst einflößend wirken könne, so fürchtet Rüdiger sich doch seit Jahren insgeheim davor, "ein Messer oder eine Kugel in den Rücken zu bekommen". Seine "Wach- und Schließgesellschaft" hat ihn nämlich mit einem besonders delikaten Objekt betraut. Der 1.600 Quadratmeter große Neubau, in dem er seine Rundgänge macht, ist mit all den architektonischen Raffinessen der Neuzeit ausgestattet. Die Wände in der Halle, einst in grau, haben etwas von der früheren Kälte verloren. Realistische Maler pinselten überlebensgroße Menschen auf die Leerflächen, eben handfeste Menschen mit Charakterköpfen, konsequenten Blicken und stählernen Mienen. Im verqualmten Raum nebenan gibt's Limonade, Bier und kleine Snack's, aber nur "auf Selbstbedienung".

KEIN ZU HAUSE

Der Stallgeruch drängt sich dort unverwechselbar auf. Es riecht nach altem Bahnhof. In der Billard- und Kickerecke stehen Leute, die seit eh und je kein Zuhause mehr haben oder sich nur bei den rollenden Kugeln heimisch fühlen. Bierfahnen, südlicher Haschgestank, Schweiß, Parfüm, Toilettenmief, Zigarettenqualm - inein-ander übergehende Gerüche, die oft undefinierbar sind. Vor der Treppe zum ersten Stock liegen ein paar Leute auf dem Boden, die im Volksmund Penner genannt, die "Schließer" Rüdiger oft genug wegscheucht, die sich dennoch wieder einnisten, hartnäckig wie sie sind. In der ersten Etage gibt es Kinoprogramme, ein Teestübchen mit weichen Polstersesseln, Ruhe und Leseräume.

KINDER-FRÜHRENTNER

Schauplätze, die Rüdiger im Auge behalten muss. Wenn er seinen Neubau kurz nach 22 Uhr schließt, räumt er mit seinen Kollegen den gröbsten Dreck beiseite: leere Kornflaschen, Bierdosen in Hülle und Fülle, abgebissene und zertretene Brote, aber auch zerdepperte Waschbecken. Überbleibsel eines Tages, die Rüdiger nicht der Putzkolonne überlässt. Sie würde sich in den frühen Morgenstunden strikt weigern, in solch einem wüsten Chaos sauber zu machen. Tatsächlich verbirgt sich hinter Rüdigers Wach und Schließgesellschaft das Bezirksamt Spandau, hinter dem Neubau das Jugendfreizeitheim "Gelse" im Falkenhagener Feld; der Schließer Rüdiger fungiert als Heimleiter, und die Jugendlichen, die hier verkehren, sind schon längst auf ihrer Endstation angekommen.

Kinder unserer Zeit, dreizehn, fünfzehn oder auch achtzehn Jahre alt, die oft ein Frührentner-Dasein führen, noch ehe sie richtig erwachsen wurden; die tagtäglich darauf warten, dass mal irgend etwas Spannendes passiert, dass sie etwas von der großen Welt abgekommen und sei es nur ein Quäntchen Glanz und Glimmer. Sozialarbeiter dieser Tage, die den Mut verloren haben, die saft- und kraftlos in ihrem Mitarbeiterzimmer herumhängen und gelangweilt in Illustrierten blättern, die sich aufs Türen-Auf- und Zuschließen beschränken, die ihre "Leck-mich-am-Arsch-Mentalität" für jedermann ersichtlich vor sich hertragen und auf die "beschissene Welt schimpfen.

Dabei glaubt Rüdiger, 37 Jahre alt, gerade einer anderen "beschissenen Welt" entkommen zu sein, nämlich der eines Brauerei-Facharbeitern in der Fabrik. Über sechzehn Jahre hatte er dort gearbeitet, zum Schloss durfte er sogar Schichtführer nennen. "Ich habe die Schnauze restlos voll gehabt in dieser Mühle, ich war nur noch deprimiert, weil mir alles so aussichtslos erschien." Justament zu dieser Zeit suchte das Bezirksamt Berlin-Spandau, Abteilung Jugend und Gesundheit, Erzieher, die im neu erbauten Jugendfreizeitheim "Gelse" eine Aufgabe sehen. Ein Arbeitskollege brachte Rüdiger mit einem gewissen Alfons Brawand zusammen, der sich nicht daran störte, dass Rüdiger keine Ausbildung zum Sozialarbeiter durchlaufen hatte. "Das macht nichts", soll Brawand ganz loyal gesagt haben, "die holste berufsbe-gleitend nach." Rüdiger war merklich unsicher auf dem Amt und sagte artig: "Herr Brawand". Doch der duzte ihn gleich wie einen alten Kumpel. Ihm käme es insbe-sondere darauf an, Praktiker, wenn auch ohne Ausbildung, auf die neu geschaffenen Planstellen zu hieven. Von arbeitslosen Akademikern wolle man weniger etwas wissen, "Die sind links verdorben, hetzen nur die Jugendlichen auf und machen den Behörden unnötige Arbeit", hieß es lapidar. Dagegen passte ein Typ wie Rüdiger offenbar sehr gut ins selbst gezimmerte Stellenprofil.

PRESTIGE-OBJEKT

Rüdiger konnte nicht im entferntesten ahnen, warum das Amt ausgerechnet auf "Praktiker" baute. Er hatte nicht die leistete Vorstellung von dem, was in erwarten würde. Seine anfängliche Unsicherheit überspielte er stets damit, dass er sich mit einer "berufsbegleitenden Ausbildung" beruhigte. Auch verengte Rüdiger, vielleicht ungewollt, seinen Blick für gewissen Begleiterscheinungen, die ihn wahrscheinlich schon damals nachdenklicher hätten stimmen müssen. Doch er war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, mit seiner Ablösung von der Fabrik, vom eingefahrenen Schichtdienst und nun dem plötzlichen Neubeginn als Sozialpädagoge sozusagen, dem Eltern ihre Kinder anvertrauten, abschoben, wenn auch nur stundenweise.

Denn so ein Jugendfreizeitheim eröffnet weitaus mehr Möglichkeiten, sowohl für die Jugendlichen als auch für ihre Betreuer, dachte Rüdiger, als er zum ersten Mal vor der Eröffnung staunend durch die brandneue "Gelse" schlenderte. Er merkte offenbar nicht, dass er die Einrichtung eher nach seiner eigenen Hobbylage begutachtete als nach der der Kinder, für die sie eigentlich mal gedacht war. Über 2,5 Millionen Mark hatte der Staat in dieses Prestigeobjekt investiert. Über 50.000 Mark kostete allein das Tonstudio, 40.000 Mark verschlang die Großküche, skandinavische Sessel - vergleichbar einem Hotel-Foyer - verschönerten die Lese- und Spielräume. Eine großflächige Bühne für Beatbands und Laienspielgruppen war vorhanden, es konnte Basketball, Volleyball und Tischtennis gespielt werden, Kicker und Billard gab's wie selbstverständlich. Theater- und Ballettgruppen, Sportvereine und Briefmarkensammler - sie alle sollten hier unterkommen. Es fehlte an nichts, alles schien bis ins Detail maßstabsgetreu durchgeplant und vorprogrammiert. Die zuständigen Ämter meinten, ganze Arbeit geleistet zu haben.

RABATZ BEI EINWEIHUNG

Die Spandauer Honoratioren aus Partei und Ämtern, Baufirmen mit ihren Ange-stellten, Architekten und notgedrungen auch die neuen Erzieher wollten ihr Jugendfreizeitheim im exklusiven Kreis in gebührender Form einweihen: quasi als Übergabeveranstaltung mit Bierfass, Sekt, Orangensaft und den obligaten kleinen Häppchen. Und natürlich hatte Brawand zuvor mit seinen Leuten kräftig die Hofberichterstattung in Funk und Lokalpresse angeleiert. So gab es unter den Jugendlichen im Falkenhagener Feld nur ein Thema: "Amtsärsche saufen und fressen sich im neuen Jugendfreizeitheim voll." Während Brawand vor dem erlauchten Halbrund das Bauwerk als ein Projekt "für die Welt von übermorgen" pries, luchsten die Jugendlichen draußen vor der Tür durch die Scheiben . Zwar hatte sich eigentlich keiner vorgenommen, Rabatz zu machen. Doch als sie die Herren in ihren feinen Anzügen vor sich sahen - auch Rüdiger zog seinen besten Zweireiher an -, da muss eine unbändige Wut in ihnen hochgekommen sein. Es mögen dreißig oder auch vierzig gewesen sein, die das Haus stürmten. Die feierliche Übergabever-anstaltung artete in eine schlimme Massenschlägerei aus. Keiner blieb verschont, auch Alfons Brawand musste Fausthiebe einstecken.

GLUCKLÖCHER IN BETON-HÖHLEN

Erstmals sah sich Rüdiger mit seiner Realität konfrontiert, die er bisher beiseite geschoben hatte. Erstmals überhaupt fragte er sich, woher die Jugendlichen kommen, die er fortan betreuen sollte. Und erstmals gingen seine Blicke ein wenig bewusster, ein wenig nachdenklicher über den Horizont des Jugendfreizeitheims hinaus. Was er sah, waren graue Betonhöhlen mit symmetrisch angeordneten Guck-löchern. Langsam und mit Hilfe anderer Kollegen aus dem benachbarten Klubhaus dämmerte es ihm, wo er tatsächlich gelandet was. In Spandau, einem der wichtigsten Neubaugebiete Westberlins - dort, wo sich Wohnsilos, Polizeischießplätze, Friedhöfe, Kleingärten und Müllhalden scheinbar friedlich miteinander vertragen.

Das Jugendfreizeitheim "Gelse" liegt am Rande des Falkenhagener Felds, einer räumlich zerrissenen Betonwüste mit mehr als 30.000 Menschen. Früher zogen hier Arbeiter und kleine Angestellte hinaus, die sich ihr Häuschen in der Idylle mühsam zusammengespart hatten. Auf den noch freien Plätzen mauerte in den sechziger Jahren der soziale Wohnungsbau seine Häuser hoch. Einheitliche Pläne lagen zu keiner Zeit vor, deshalb wurden Läden, Post, Kirchen, Schulen und Spielplätze auch irgendwo verstreut an die Peripherie verlagert. Nur soviel stand fest: alleinstehende Rentner sollten aus dem Stadtzentrum, wo sie Wohnungen blockierten, in dieser erdrückende Neubaugebiet verfrachtet werden. Für sie waren damals die eineinhalb-Zimmer-Appartements gedacht. Als die alten Leute dann nicht kamen, weil sie den sozialen Wohungsbau nicht bezahlen konnten und lieber in gewohnter Umgebung sterben wollten, da riss man kurzerhand die Zwischenwände ein und legte jeweils zwei Appartements zusammen. So entstanden Drei-Zimmerwohnungen. Vornehmlich in der Siegener Straße und im Spekteweg, gleich in der Nachbarschaft zum Jugendfreizeitheim. In den Blöcken 655, 656, 657 leben seither die kinderreichen Familien, nicht selten sechs bis acht Menschen in drei Zimmer zusammengepfercht.

Sie waren natürlich allesamt recht herzlich willkommen, als die "Gelse" einige Wochen nach dem Prügeldebakel fürs Publikum geöffnet wurde. Doch bevor die Girlanden stiegen, die Beatbands aufspielten und eigens dafür engagierte Ballett-tänzerinnen den Betonbau-Kinder ihre Akrobatik vorführten, hatte Alfons Brawand in doppelter Hinsicht Vorsorge getroffen. Nach dem ersten Reinfall konnte er sich schon aus optischen Gründen keinen weiteren Prestigeverlust mehr leisten. Drei Einsatzwagen der Polizei standen abrufbereit in der Nebenstraße, Brawand blieb mit ihnen über ein Sprechfunkgerät, das er bei sich trug, in ständigem Kontakt. Aber jene Jugendlichen, denen der etwaige Knüppeleinsatz galt, die waren zur offiziellen Einweihung erst gar nicht erschienen. Die hatte Brawand nämlich jeweils mit einem Zwanzigmarkschein zuvor bestochen. "Macht euch einen schönen Tag!", soll er ihnen gesagt haben. Darauf sind Dino, Liebel, Ito, Ristow, Becker, Kaiser, Hotte, Ricci und Accer abgezogen. "Ist das ein Angsthase, dieser Amtsarsch", feixten sie und zogen durch Spandaus Kneipen, Geld genug hatten sie ja.

PÄDAGOGIK UNERWÜNSCHT

Allmählich begriff Rüdiger auch, was Alfons Brawand wohl unter einem richtigen Praktiker verstand. Leute, die sich weniger von ideellen Zielsetzungen leiten lassen, die kaum Skrupel kennen, wenn es darum geht, ihren eigenen Erfolg und einen reibungslosen Ablauf zu sichern, die sich auch nicht groß um pädagogische Grund-sätze in einem Jugendheim kümmern. Sonst wäre Brawand ja nicht auf die Idee verfallen, Zwanzigmarkscheine auszuteilen, nur um der lieben Ruhe willen. Er hätte sich ebenso gut vor der Eröffnungsveranstaltung, an der ihm soviel lag, mit den renitenten Jugendlichen zusammensetzen und mit ihnen über ihre Vorstellungen sprechen können. Denn eines war doch ziemlich klar: Diese Jugendlichen wollten etwas, nur was, das wusste keiner. Rüdiger jedenfalls hatte sich fest vorgenommen, mit Dino und Co. Berührungspunkte zu finden. Doch er tat sich ungemein schwer.

NUR VORSTADT-KÖTER
Dino und Co., das waren 15 Leute zwischen 18 und 23 Jahren, die sich in einem Klub zusammengerottet hatten - "Trink-Dich-Frisch" nannten sie ihn. Jugendliche, die in ihrem Leben noch nie aus Spandau rausgekommen sind, die tagein, tagaus durch ihr Neubauviertel lungern. Die meisten stammen aus zerrütteten Familien. Vater arbeitslos und Alkoholiker, Mutter laufend schwanger, an Streitereien mangelt es nicht, nur am Geld. Die meisten sind seit ihrem Schulabgang arbeitslos. Jugendliche, die seit ihrer Kindheit machen konnten, was sie wollten - sie blieben doch die begossenen Vorstadt-Köter, eben Straßenkläffer, die keiner hören will und keiner ernst nimmt. Zärtlichkeit und Nähe haben sie nie kennen gelernt, Lehrstellen gab's auch keine, nur die ewige Langeweile und ein Nichtstun, das aggressiv macht. Und das Jahr für Jahr im grauen Beton mit seinen Schiffsluken und der quälenden Enge. Da holt sich dann ein jeder, was er braucht, sucht sich seine Nischen in einer Gesellschaft, die dichtgemacht hat, die keine Chancen eröffnet, die von solchen Jugendlichen einfach nichts wissen will und mit dem Begriff "Randgruppe" für sich ein beruhigendes Vokabular erfand. Setzt sich dieses Grundgefühl erst einmal fest - nutzlos zu sein, nicht gebraucht zu werden - , dann sind Raubzüge, Körperver-letzungen, Autodiebstähle eine der unweigerlichen Antworten - nicht aus Kriminalität, vielmehr aus Verzweiflung. Schließlich wollen Dino und Co. sich ihre Sehnsüchte, ihre Träume nach Freiheit, Autobahn, Disco und Mädchen nicht vermasseln, nicht zertreten lassen. Sie wollen nicht dastehen nur mit einer lumpigen Mark in der Hand und noch eine weitere Abfuhr riskieren. Sie sind zwar Frührentner,das heißt für sie aber noch lange nicht, den ganzen Tag am Fenster zu hocken und Mutter immer beim Staubsaugen zu helfen.

OHNE LEHRE, OHNE JOB - EINFACH GAR NICHTS

Unversehens geriet der zunächst unbeleckte Rüdiger in ein Dickicht sozialer Probleme, auf die er nicht vorbereitet war, aus denen es aber keinen Ausweg gab. Wie sollte er eine Lehrstelle besorgen, wie sollte er ihnen die Trinkerei, die Kokserei abgewöhnen? Gut, Verhütungsmittel für die Mädchen hätte er vielleicht organisieren können, und mit dem Jugendrichter sprach er ohnehin von Zeit zu Zeit. Rüdiger, der aus der strumpfsinnigen Fabrik geflohen, ausgestiegen war, der den Mief der Brauerei nicht mehr ertragen hatte und an einen sozialen Aufstieg glaubte, er sah sich plötzlich einer noch "beschisseneren Welt" gegenüber - Jugendlichen, die teilweise noch nicht einmal die Möglichkeit bekamen, am Fließband zu stehen und für die ein Disco-Abend das höchste der Gefühle wäre, wenn sie doch nur das nötige Geld hätten.

Aber die Kinder vom Falkenhagener Feld waren zum Teil schon über Jahre ohne Job, und von ihren Eltern kriegten sie auch nicht die ersehnten Groschen. Deshalb gingen sie in die "Gelse", auf der Suche nach Nähe, nach Geborgenheit, nach Durchbruch. Da standen sie nun in dem bombastischen Neubau, der alles andere war als ein Jugendfreizeitheim. Vielleicht ein Offizierskasino, vielleicht ein Soldatenheim, so hygienisch und steril schlug schon das Äußere durch. Die skandinavischen Klubsessel, das Tonstudio und die Großraumküche für eine ganze Kompanie. Die "Gelse" war das traurige Resultat ehrgeiziger Reißbrett-Bürokraten, die über "jugend-pflegerische Aufgaben" lamentierten, aber insgeheim ihre Bedürfnisse nach Groß-mannssucht und Millionenetats verwirklicht sehen wollen.

"HOLT DIE BULLEN"

Schon ein halbes Jahr nach der Eröffnung war von dem Glanz nichts mehr da. Wie sollte es auch? Jugendliche, die zu Hause nicht einmal ihr eigenes Zimmer hatten, die nie viel Spielzeug besaßen, die sich in der Konfliktbewältigung stets auf ihre Fäuste verließen - die mussten diesen Heimwohlstand einfach als eine ungeheure Provokation empfinden. Da verbarrikadierten sich nach 22 Uhr die "Trink-Dich-Frischler" im Klubraum. Das Heim sollte geschlossen werden, doch Dino und Co. wollten nicht gehen. Gutes Zureden quittierten sie mit lautem Gejohle. "Holt doch die Bullen", holt doch die Bullen, das ist unser Raum, das ist unser Raum ...". Sie schmissen den Kühlschrank und eine Kommode vom ersten Stock auf die Straße und flüchteten erst durchs Fenster, als Rüdiger mit dem Beil ein Loch in die Tür schlug, um mit dem Gartenschlauch das Zimmer unter Wasser zu setzen.

Nachbarn aus den gegenüberliegenden Einfamilienhäusern zogen gegen die übenden Beatbands zu Felde. Ein Lärmschutzwagen des Berliner Senats registrierte, dass die zulässige Lärmgrenze um vierzig Prozent überschritten sei. Das Bauamt hatte vergessen, in die Außenwand eine Schallisolierung einziehen zu lassen (Kostenpunkt: 40.000 Mark). Folglich durften fast zwei Jahre lang auch Musik-gruppen nicht mehr proben. Ohne großes Aufhebens kürzte das Bezirksamt Spandau für die geplanten Neigungsgruppen die finanziellen Mittel um zwanzig Prozent. Mit ganzen 750 Mark musste das Heim jährlich auskommen, wenn es sich Kleinmaterial besorgte. Die Illusion von einem intakt funktionierenden Jugendfreizeitheim wurde jäh zerstört.

MENSCHEN IN KÄFIGEN

In all den Jahren registrierte Rüdiger nicht ein einziges Mal auch nur einen aufmunternden Satz. Keine Äußerung, die Mut machte, kein Hinweis, der als Unterstützung oder Rückendeckung gewertet werden könnte, Dabei hätten sich doch gerade die Beamten einmal fragen lassen müssen, welchen Unsinn sie dort hingebaut haben, Menschen in Beton einzupassen und selbstgefällig von "übergeordneten jugendpflegerischen Aufgaben" zu philosophieren. Wie sollen sich Jugendliche in einem Heim wohlfühlen, in dem alles DIN-genormt zugeht; angefangen vom künstlichen Freizeitangebot - Kicker, Flipper, Billard - bis hin zur Schadensre-gulierung. Nach dem Motto: So, nun sind wir mal ein Stündchen artig. Eine solche antiquierte Konzeption musste von vornherein zum Scheitern verurteilt sein.

Über eines sind sich alle im klaren. Man könnte die "Gelse" dichtmachen, es wäre kein herber Verlust, es gäbe wohl auch kaum jemanden, der ernsthaft protestieren würde, nicht einmal die verbliebenen Jugendlichen. Höchstens die Montagabende müssten sie dann aus ihrem Programm streichen. Montags kommt es schon vor, dass sich mal fünfzig oder sechzig Jugendliche für ein Weilchen in der "Gelse" aufhalten. Nicht etwa, weil etwas Besonderes abläuft, sondern weil in einem kalten, kalten Raum, Schallplatten, sogar neue CDs aufgelegt werden. "Disco" sagen alle dazu, eben Saturday-night-fever zum Wochenbeginn, wo doch für die meisten zwischen Sonn- und Werktagen ohnehin kein Unterschied besteht. Hotte fühlt sich für die Scheibe zuständig, als der DJ von der Gelse immerhin. Wenigstens einmal in der Woche sieht er, dass er gebraucht wird. Keiner kennt sich nämlich so gut mit der Anlage aus, keiner kann auch so gut Englisch wie Hotte.

"EINEN SATZ" - WOHIN ?

Kerstin hat sich schon des öfteren gefragt, woher Hotte eigentlich so gut Englisch kann. Hotte antwortete ihr die Frage natürlich: "Det ha ich ma selba bejebracht." Hotte ist der Bruder von Dino, dem Chef der "Trink-Dich-Frisch-Clique". Acht Kinder zählen sie zu Hause. Eine Dauerarbeit haben Dino und Hotte bis heute nicht gefunden. Eine Zeit lang fuhr Hotte Wäsche aus. Damals ging er noch mit Uschi, damals sparte er noch für eine Wohnungseinrichtung. Als die Reinigung dann Pleite machte, sein Chef über Nacht mit dem restlichen Geld nach Westdeutschland türmte, standen noch die letzten beiden Monatslöhne aus. Seinen Boss und sein Geld sah er nie wieder. Inzwischen ist sein Gespartes aufgebraucht, mit Uschi ist er fertig, und zu einer echten Arbeit hat er keine Lust mehr. "Selbst wenn die mir heute den besten Job anbieten", erklärt Hotte vom Discositz. Aber nun kann Hotte ja nicht sein ganzes Leben in der "Gelse", DJ spielen, Disco mimen, Starallüren mimen, wenigstens im Probelauf. "Nee,", sagt er, "vielleicht bis dreißig, irgendwann um diesen Dreh mache ich bestimmt einen richtig großen Satz." - Nur wohin, das weiß er noch nicht.