Freitag, 27. Juli 1979

Suff beim Bund - Die Bierfahnen der Armee




































Sonntagabend ist in manchen Schnellzügen der Teufel los. In Rudeln kehren junge Soldaten nach dem Wochenende in ihre Standorte zurück. Sie lassen sich in Abteilen und Gängen mit Bier volllaufen. Im Speisewagen des "Intercity 618" von Stuttgart nach Hamburg bot sich am 20. Mai dieses fatale, dem Zugpersonal jedoch gewohnte Bild. Randalierende Rekruten grölen: "Wir scheißen auf die Bundeswehr." Auch im Dienst macht sich, obwohl verboten, der Suff in den Streitkräften gefährlich breit. Die Pest dieser Jahrzehnte heißt "Alkoholismus", von dem 4,3 Millionen Menschen befallen - erkrankt sind. In den Kasernen der Armee tobt eine verschärfte "Flaschen-Schlacht".ZEITmagazin, Hamburg
vom 27. Juli 1979
von Reimar Oltmanns

Der Tag ist wie jeder andere im schleswig-holsteinischen Lütjenburg, aber er endet als ein schwarzer Freitag. Schon am frühen Nachmittag wirkt das Garnisonsstädtchen nahe der Ostsee wie ausgestorben; abends sind die beiden Diskotheken "68" und "Why not" wie leer gefegt. Zu Wochenendbeginn hält es keinen der über tausend Soldaten freiwillig in der abseits gelegenen Kleinstadt. Sie alle hasten, ob per PKW oder per Bahn nach Hause - meist ins über vierhundert Kilometer entfernte Ruhrgebiet. Ein gewöhnlicher Wochenend-Exodus, im Bundeswehr-Jargon kurz "Nato-Rallye" genannt.

REKRUTEN HEULEN

Nur für das 8. Bataillon des Flugabwehrregiments 6 aus der Lütjenburger Schill-Kaserne ist Ausgangssperre verhängt worden. Feindbeobachtung und Nachtalarm stehen auf dem Programm. Das jedenfalls sagte Oberfeldwebel Soboll am Freitag-morgen um 8.30 Uhr in der Kaserne an. Keine zwölf Stunden später sagt er auf dem Übungsgelände Hohensasel den Nachtalarm wieder ab, Lagerfeuer müssen gelöscht, Zelte eilig zusammengepackt werden, die etwa dreißig Soldaten sollen sich im Galopp marschfertig machen. Für die 18- bis 20jährigen, die gerade erst vier Wochen beim Bund dienen, ist Unvorstellbares geschehen. Manche heulen laut vor sich hin, andere schreien fassungslos: "Das kann doch nicht wahr sein."

"OBLIGATE SUFF-KOLLEKTE "

Auf dem Boden liegt reglos Wilfried Klauber aus Oberhausen. Sein Kopf ist knallrot unterlaufen, Todesangst steht in seinen Augen; niedergestreckt durch eine 9-Millimeter-Partone aus dem Lauf einer P-38-Pistole. - Der ärgste Feind der westdeutschen Armee hat an diesem Freitag das 8. Bataillon des Lütjenburger Flugabwehrregiments 6 außer Gefecht gesetzt: der Alkohol, dem inzwischen 92 Prozent aller Gewalttätigkeiten bei der Bundeswehr zuzuschreiben sind.

Mit dem Suff hatte es schon in den frühen Morgenstunden begonnen. Statt Tee oder Kaffee füllten sich manche Rekruten ihre Feldflaschen mit Whisky oder Gin. Auf dem Übungsgelände in Hohensasel machten dann die Alkoholika als "stille Post" die Runde. Aber auch die Unteroffiziere nippten heimlich mit. Rekrut Hermann Steinert: "Das war zwischen uns eine unausgesprochene Abmachung. Entweder wir heben unseren Vorgesetzten etwas ab, oder die erstatten Meldung."

Gegen 18 Uhr tauchten die ersten Biere und eine Kornflasche auf. Ein Vorrat, den sich Unteroffiziere und ihr Oberfeldwebel vorsorglich mitgebracht hatten. Kaum waren die Flaschen geleert, wurde unter den Soldaten die "obligate Suffkollekte" veranstaltet. Drei Mann marschierten los, um aus dem Gasthof "Gut Rantzau" für Nachschub zu sorgen.

AUF KAMERADEN GESCHOSSEN

Locker und feucht-fröhlich hockten Hermann Steinert und seine Kameraden vorm Lagerfeuer. sangen: "Wir lagen vor Madagaskar und hatten unser Bier an Bord;" und empfanden die abendliche Atmosphäre "so ein bisschen wie früher im Schulland-heim". Jedenfalls bis zu jenem Augenblick , als Unteroffizier Jürgen Bethke, mit Bier-pulle und P-38-Pistole bewaffnet zu ihnen stieß. Großzügig bot der 24jährige Bethke "seinen Jungs", wie er sie oft unter starkem Alkoholeinfluss nannte, den Restauf-schnitt vom Abendbrot an. Allerdings nur, wenn man sich bei ihm persönlich Salami und Schinken abholen würde. Dies wurde für den 20jährigen Betonmauer Wilfried Klauber zum Verhängnis. Als der arglose Klauber vor seinem angetrunkenen Unter-offizier steht, hatte dieser den Aufschnitt schon hastig heruntergewürgt. Statt dessen fischte er sich das Schiffchen des Rekruten und schmiss es ins Feuer. Nunmehr wollte sich Klauber das Schiffchen des Vorgesetzten angeln. Zunächst schwankte der Unteroffizier noch tänzelnd hin und her, zog dann aber blitzartig seine Pistole. Zeuge Steinert: "Erst hantiert Bethke mit dem Ding in der Gegend herum. nahm eine Patrone aus dem Magazin. zeigte sie uns stolz, steckte sie darauf wieder ein. Ich sah, wie Bethke aus zweieinhalb Metern Entfernung einen Schuss auf den hilflosen Klauber abfeuerte."

Auf dem morastigen Übungsplatz Hohensasel kam keiner auf die Idee, einen Rettungshubschrauber zu rufen. Bloß keine Feldjäger, Zeit gewinnen hieß die Devise. Minuten um Minuten verstrichen. Als der Krankenwagen, ein geländeuntüchtiger Ford Transit, der mehrere Male im Sumpf stecken blieb, endlich Hohensasel erreicht hatte, lag keine Bierflasche mehr herum. Selbst der inzwischen angekommene Kisten-Nachschub aus dem Gasthof "Gut Rantzau" war eiligst vergraben worden. "Alle waren wie genervt", erinnert sich Steinert. "Vor allem, also noch so ein paar Kopflose den schwerverletzten Klauber falsch herum in den Krankenwagen schoben."

Erst gegen 23 Uhr klingelt bei der Familie Klaubert in Oberhausen das Telefon. Am Apparat die Universitätsklinik Kiel: "Bitte kommen Sie sofort. Ihr Sohn ist angeschossen worden. Er wird den nächsten Tag wohl nicht mehr überleben."

Unterdessen hat Hauptmann Rommel, der in Zivil in die Kaserne geeilt war, das bereits zurückgekehrte 8. Bataillon im Unterrichtsraum versammelt. "Der Zustand ist nicht lebensgefährlich, sondern lediglich lebensbedrohlich", bemerkt der Hauptmann beschwichtigend. Gleichzeitig ermahnt Rommel seine Sprösslinge: "Machen Sie Ihren Dienst so wie bisher, und gehen Sie Ihren Pflichten weiterhin gewissenhaft nach." Das war die erste und auch die letzte Verlautbarung, die den Soldaten in Sachen ihres Kameraden Klaubers mitgeteilt wurde.

QUERSCHNITTSGELÄHMT

Fünf Tage rang Wilfried Klauber auf der Intensivstation der Kieler Universitätsklinik mit dem Tode. Als er ihm schließlich getrotzt hatte, wurde dem 20jährigen zur Gewissheit, dass er querschnittsgelähmt sein Leben lang an einen Rollstuhl gefesselt bleiben würde. Klauber ist kein Einzelfall.

BEFEHLSSTAND: KNEIPE

o In Leck bei Flensburg versetzte der stellvertretende Kommodore vom Aufklärungsgeschwader 52, G. L., nachts um 2.50 Uhr 2.000 Soldaten, Beamte und Arbeiter in den Nato-Ernstfall. Piloten liefen in ihre Staffelunterkünfte, Sicherungssoldaten bezogen Stellungen, Stahltüren der Betonschutzbunker wurden geöffnet und die schweren Phantom-Aufklärer ins Freie geschleppt. Über eine halbe Stunde saßen 18 Piloten und Kampfbeobachter angeschnallt in ihren Maschinen, Feuerwehren hatten sich postiert, Wetterfrösche registrierten Wind- und Sichtbedingungen, Radarspezialisten beobachteten ihre Schirme, die ersten Urlauber wurden zurückgerufen, Befehlstand war jedoch nicht die Kaserne, sondern die Dorfkneipe "Kupferkanne". Dort hatte Oberstleutnant L. eine Nacht mit Freunden durchgezecht. Per Telefon gab er lallend das entsprechende Kodewort zum Befehl der Ernstfall-Übung an die Bereitschaft durch - die "Aktion Kupferkanne" begann.

AM FENSTERKREUZ ERHÄNGT

o In Zweibrücken wollte der Rekrut Friedrich Reinstadler nach einem Pinten-Rundgang den Zapfenstreich um 22 Uhr nicht einhalten und im Bereitschaftsraum der Niederauerbach-Kaserne weiter bechern. Der Unteroffizier vom Dienst befahl ihm drei Mal, auf die Stube zu "gehen". Doch Reinstadler verweigerte den Gehorsam. Die Folge: Arrest in der Zelle. Die Strafe löste bei Reinstadler eine verhängnisvolle Kurzschlussreaktion aus. Mit seinen Stiefelschnüren erhängte er sich am Fensterkreuz. Er war gerade 20 Jahre alt geworden, als ihn die Wachpatrouille tot auffand.

COGNAC IN ERSATZTEILKISTEN

o Soldaten der schleswig-holsteinischen Marinefliegergeschwader 1 und 2 glaubten besonders pfiffig zu sein. In Ersatzteilkisten und Raketenhülsen ihrer vier Transall-Maschinen hatten sie auf dem Rückflug von Sardinien insgesamt 50.000 Zigaretten, 1.000 Flaschen Sekt und 30 Flaschen Cognac deponiert. Erst als mehrere Flaschen zerbrochen waren und Cognac aus den olivgrünen Ersatzteilkisten durchsickerte, flog der Coup auf.


Drei Beispiele aus dem Alltag der Bundeswehr, die an Traditionen verflossener Soldatenzeiten erinnern. Denn Alkohol ist seit eh und je reichlich in den deutschen Garnisonen geflossen. Das Motto "Nur ein kräftiger Schlucker ist auch ein guter Soldat" hat beide Weltkriege überlegt. Schon zu Kaisers Zeiten mussten die Fahnen-junker emsig trinken, um auch noch im Suff den älteren Offizieren ihre Contenance zu beweisen. Aber auch in Hitlers Wehrmacht blieben Maßhalteappelle der Kommandeure ohne die erhoffte Resonanz.

ALARM-ZAHLEN

Die Alkoholwelle, die seit Jahren in die Bundeswehr schwappt, ist ernster zu nehmen, als es viele Militärs auf der Bonner Hardthöhe für möglich gehalten haben. Noch im Jahr 1973 präsentierte das Verteidigungsministerium den Medien eine soziologische Untersuchung, wonach Bundeswehr-Soldaten mehr an Sport und Sex, Flippern und Schach als am Bier interessiert seien. Fazit der Studie: Selbst in Kasernen werde nicht viel getrunken. Tatsächlich lagen dem Führungsstab schon zur damaligen Zeit - 1971 bis 1974 - alarmierende Zahlen unter "besondere Vorkom-mnisse" vor:


0 25 Tote und Schwerverletzte bei Kraftfahrzeugunfällen unter Alkoholeinfluss im Dienst;
0161 Tote bei Unfällen mit Privatautos nach Trinkgelagen;
0 23 Selbstmorde und 402 Selbstmordversuche im Promillerausch
0 764 Soldaten verweigern aufgrund ihres Alkoholkonsums den Gehorsam und griffen ihre Vorgesetzten tätlich an.

Dies sind Fakten, die Aussagen des Psychiaters Brickenstein vom Bundeswehr-Krankenhaus Hamburg-Wandsbek stützen: "Sie ertränken ihren Kummer über die Trennung von ihrer Freundin, Braut, Ehefrau oder Lieblingsbeschäftigung." Aber auch der damalige Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, der Weltkrieg-II-Major Fritz-Rudolf Schultz (1917-2002), warnte das Parlament eindringlich vor dem rapide steigenden Alkoholkonsum in der Armee.

FEHLER MIT BETRUNKENEN
  
Immerhin glaubt die Bundeswehr-Führung, durch strikte Befehle den Bierdurst einschränken zu können. Bereits damals war man sich jedoch auf der Bonner Hardthöhe klar, "dass alle getroffenen Maßnahmen und geltenden Vorschriften nicht ausreichen; nicht einmal die Zunahme des Alkoholmissbrauchs ist verhindert worden", heißt es in dem vertraulichen Vermerk (Fü S I5 Az.: 35-20-17-o2). Und in den "Richtlinien für das Verhalten gegenüber betrunkenen Soldaten" räumt das Ministerium ein: "Es hat sich gezeigt, dass bei der Behandlung betrunkener Soldaten schwere Fehler gemacht werden ... Soldaten bedürfen dringend des kameradschaft-lichen, gegebenenfalls sogar ärztlichen Beistandes ... ".

Der inzwischen verstorbene Generalinspekteur, Admiral Armin Zimmermann (*1917+1976), ordnete daher ein absolutes Alkoholverbot während der Dienstzeit an. Zimmermann im Jahre 1974: "Der Alkoholmissbrauch hat ein Ausmaß erreicht, das ein energisches Eingreifen aller zuständigen Vorgesetzten erforderlich macht." Im selben Jahr segnete Georg Leber, Verteidigungs-minister in den Jahren von 1972-1978, einen vertraulichen Vermerk für die Personalführung bei den Streitkräften ("Fü S I 4") ab. Darin heißt es: "Die steigende Zahl der Selbstmordfälle und -versuche besonders bei der Jugend verpflichtet auch die militärischen Vorgesetzten zu besonderer Aufmerk-samkeit ... Süchtige Bindungen an Alkohol, Arzneimittel oder Drogen ... gefährden den Soldaten. Eine straffe Führung, ein ausgewogener Dienst-plan ... und das Angebot an Freizeit können vorbeugend helfen. Herumgammeln führt nicht selten zu übermäßigen Alkoholgenuss."
Damals war Karl Wilhelm Berkhan (*1915+1994) noch parlamentarischer Staatssekretär im Bonner Verteidigungsministerium. Auf zahllosen Standortbesuchen bemühte er sich um engen Kontakt zu den Soldaten. Als Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages reiste der umsichtige Berghan wiederum von Garnison zu Garnison. Seine alte Sorge war fortwährend die alte geblieben: Suff beim Bund - und kein Ende in Sicht. Eingebettet im gesellschaftlichen Sog - im Jahre 1950 waren es 200.000, mittlerweile leben in der Bundesrepublik über zwei Millionen Alkoholiker - stellte Berghan in seinem Jahresbericht für 1978 fest, "dass der Alkoholmissbrauch schwer-wiegende Beeinträchtigungen der militärischen Ordnung und Disziplin bewirkt."

KEINE "HEILSARMEE"

Dass nun ausgerechnet ein intimer Kenner der Bundeswehr-Szene Bier- und Korn-sucht der Soldaten schonungslos in der Öffentlichkeit rügt, wurde wie eine Rufschädigung des Unternehmens Armee empfunden. In der Parlamentsdebatte zum Bericht des Wehrbeauftragten warnte der damalige Verteidigungsminister Hans Apel (*1932+2011) davor, die Armee als "eine Horde von Saufbolden und Schindern" abzustempeln. Nach seinen Angaben sind die Verstöße unter Alkoholeinwirkung von 1977 auf 1978 um 27 Prozent zurückgegangen. Auch der CDU-Wehrexperte Leo Ernesti bescheinigte der Truppe, "besser als ihr Ruf" zu sein. Und sein Kollege Erwin Horn erklärte: Die Bundeswehr sei nun mal keine "Heilsarmee".

Die aufschlussreicheren Zahlen über disziplinargerichtliche Verfahren (in der Debatte ging es um harmlose Dienstvergehen) ließ Minister Hans Apel aus gutem Grund im Ministerium: als "Verschlusssache" und "nur für den Dienstgebrauch". Unter der Rubrik "Alkoholmissbrauch, Trunkenheit am Steuer" stieg danach die Zahl der Verfahren von 1976 auf 1978 um 138,7 Prozent und damit auf 74 Anklagen. Unter der Rubrik "Sittlichkeitsdelikte, Ungehorsam, Mord, Totschlag, Drogen" etc. stiegen die disziplinarrechtlichen Verfahren von 1976 auf 178 um 179 Prozent und damit auf 53 Anklagen. Und unter der Rubrik "unerlaubtes Fernbleiben" stiegen die disziplinarrechtlichen Verfahren von 1976 auf 1978 um insgesamt 257 Prozent und damit auf 50 Verfahren.

FÜHRUNGSPROBLEME

Dabei hatte Karl Wilhelm Berkhan gar keine Debatte um Prozente entfachen wollen. Alkoholexzesse in den Reihen der Bundeswehr sah er vielmehr als ein Führungs-problem an. Dort, wo es drunter und drüber geht, "greifen die Vorgesetzten selbst zur Flasche". Berkhan runzelt die Stirn: "Ein geordnetes militärisches Gehirn wird einen Befehl nicht vom Barhocker geben, nicht einmal von einer Theke."

Ein Kompaniechef im Majorsrang, so der Berkhan-Bericht, sah das anders. Am Abend vor einer Übung betrank er sich derart, dass er am nächsten Morgen seine Kompanie nicht führen konnte. Am selben Abend ließ er sich - trotz Alkoholverbot - wiederum volllaufen und weigerte sich, die Gaststätte zu verlassen. Die Kompanie wurde daraufhin von einem Hauptfeldwebel auf den Übungsplatz geführt. Als der Major am dritten Abend vom Schirrmeister aus der Kneipe geholt wurde, war er wiederum betrunken.
Derselbe Major, alarmierte zwei Monate nach diesen Vorfällen gegen 0.45 Uhr die Kompanie, so dass ein Teil der Unteroffiziere - es war Spätherbst - bei Nebel und Reifglätte zur Unterkunft fahren musste. Als die Unteroffiziere im Kompaniege-bäude auf die Befehle warteten, weigerte sich der Major das Offiziersheim zu ver-lassen. Er betrank sich bis morgens um 4 Uhr. Einem Zugführer, der sich höflich nach weiteren Befehlen erkundigte, bedeutete er zunächst "Mittagspause" und danach "Dienst in den Funktionen".

WO OFFIZIERE SICH PRÜGELN

Nicht selten führt solches Fehlverhalten von Offizieren zu privaten Zerwürfnissen, die Berkhan so beschrieb: "Vier Leute am Tisch, jeder zwölf Schnäpse. Ich, Unter-offizier, bin doch ein richtiger Kerl, ich muss auch mittrinken. Und hinterher, wenn sie nach Hause gehen, gerät er mit seinem Oberstleutnant aneinander. Dann sagt der Oberstleutnant noch in seinem Suff, ich erteile Ihnen einen Befehl. Da sagt der Unteroffizier, Du kannst mir gar nichts befehlen, und haut ihm eine in die Schnauze. Und dann stehen sie vorm Richter. Es ist ein unerträglicher Zustand."

JEDER FREITAG - EIN BEFREIUNGSTAG

Ein wichtiger Seismograf für die Bierfahnen in der deutschen Armee sind die Wochenendzüge zwischen Norddeutschland und Rhein/Ruhr. Genervt vom Wochen-Drill, vom gottverlassenen Nest in der Heide oder an der Ostsee, ohne sinnvolle Freizeitmöglichkeiten (der Bund gibt für die außerdienstliche Betreuung seiner Soldaten jährlich sieben Mark pro Mann aus), nur sich selbst oder der Kneipe überlassen, empfinden die Wehrpflichtigen jeden Freitag wie einen Befreiungstag, auch wenn sie die Hälfte des Wochenendes auf der Heimfahrt in der Eisenbahn verbringen.

IN INTERCITYS DIE TASSEN HOCH

Mit zwei Paletten Dosenbier, das Stück zu 45 Pfenning, und dem Kassettenrekorder mit dem Amanda-Lear-Band in der Reisetasche geht's in den Zug; neuerdings in den schnelleren Intercity, seitdem das Prunkstück der Bundesbahn auch die zweite Wagenklasse führt. Meist sind die Waggons brechend voll, die "BWs", wie sie sich nennen, sitzen dann auf dem Gang, liegen in der Gepäckablage oder kabbeln sich mit dem Schaffner, warum sie nicht erster Klasse fahren dürfen. "Ich bin BW, du bist BW, dann die Tassen hoch."

SPEISEWAGEN ZU BRUCH GEGANGEN

Anders dagegen sieht es auf der Rückfahrt am Sonntagabend aus. Da ist die Grund-stimmung weitaus aggressiver. Da geht schon mal ein Speisewagen wie der des Intercity-Zuges "Kommodore" bei einer Massenschlägerei zu Bruch, da brennen Toiletten, da werden Scheiben zertrümmert da werden auch Fahrgäste am Aus-steigen gehindert - nach dem Motto "die nächste Station kommt bestimmt".

"Wir, von der ersten Kompanie, wir sind besoffen wie noch nie", grölten etwa Rekruten im Speisewagen des Intercity-Zuges "Heinrich Heine", den sie gern in "Landser-Express" umtaufen würden. Zwischen Bremen und Hamburg steigen sie auf den Tisch, schreien "Bundeswehr scheiße", einer zieht die Hose runter, ein anderer schon seine Uniform ab, denn soeben hatte der Schaffner über Lautsprecher mit Gong signalisiert: "Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten erreichen wir Hamburg-Hauptbahnhof."

BIERKONSUM UND BRUTALITÄT

Dazu Karl Wilhelm Berghan: "Wir müssen wirklich andere Wege gehen." Während Bundeswehr und Bundesbahn in vertraulich vereinbarten Gesprächen herumrätseln, wie Bierkonsum und Brutalität zumindest in der Öffentlichkeit eingedämmt werden können - etwa mit rollenden Feldjägerkommandos in der Bahn -, hatte Karl Wilhelm Berghan gezielte Vorstellungen, wie sich die sinnlose und ruinöse Sauferei reduzieren ließe. Er empfahl, die Wehrpflichtigen "heimatnäher" einzuziehen. Auch sollten die gerade erst Achtzehnjährigen nach dem Fünfuhr-Dienstschluss nicht Abend für Abend ihre Probleme mit sich allein ausmachen. Vielmehr sollten die Vorgesetzten mit ihren Rekruten auch in der Freizeit Arbeitsgemeinschaften für Schach, Fußball, Politik usw. aufziehen.
Dem Bonner Führungsstab empfahl Berkhan quasi als Vermächtnis seiner Zeit als Wehrbeauftragter: "Schleunigst einen Forschungsauftrag zu vergeben", der die Ursachen von Angst-, Alkohol- und Aggressionsschüben in den Streitkräften durch-leuchtet. Geändert hat sich über all die Jahre - Jahrzehnte - nichts. Es wird weiter gesoffen. Einen solchen Schub durchlebten etwa zwei Gefreite, die angezecht und aggressionslustig einen 28 Tonnen schweren Schützenpanzer "Marder" entführten und zweihundert Kilometer über die Autobahn jagten. Polizei und Feldjäger hatten eine unruhige Nacht. ehe sich die beiden 19- und 2ojährigen Amokfahrer schließlich in der Nähe von Hannover festnehmen ließen - bierselig lächelnd.