Freitag, 20. April 1979

In der Psychiatrie zerbrochen - Das Schicksal des Albert Huth in den Alsterdorfer Anstalten zu Hamburg



























Heilanstalten - Schandflecke der deutschen Psychiatrie - Schlangengruben in Deutschland. Im Rahmen des national-sozialistischen Euthanasie-Programms wurde mehr als 100.000 psychisch kranke Menschen getötet. Dies war nur mit Billigung zahlreicher Ärzte und Kliniken möglich. Verbrechen, die über Jahrzehnte nicht aufgearbeitet, verdrängt, vergessen wurden. Wie gleichsam der Fall des entmündigten Halbjuden Albert Huth. Er war unbequemer Zeuge zahlreicher verbrecherischer Nazi-Euthanasie Aktionen. Warum er bis heute in der Pflegeanstalt bleiben musste, mit Psychopharmaka "ruhig" gestellt wird - vermag niemand zu begründen. Ein Fall für die Justiz war die Lebensgeschichte des Albert Huth allemal.


Zeitmagazin, Hamburg
20. April 1979
von Reimar Oltmanns

Wenn in den Alsterdorfer Anstalten die Girlandenfeste steigen, ist Albert Huth stets dabei. Mit seiner Ziehharmonika schmettert er Shanties von hoher See, mit seiner Mundorgel bläst er "be-ba-ba-loovar, she is my baby". "Das ist swinging Alsterdorf", sagt Pfarrer Hans-Georg Schmidt froh gestimmt. "Und das ist unser Albert Huth", fügt er nicht ganz ohne Stolz hinzu. Der Pfarrer leitet die Anstalten im nördlichen Hamburg, eines der "größten Werke der Diakonie in der Bundesrepublik".

EIN SCHWACHSINNIGER, EIN PSYCHOPATH ... ...

Albert Huth macht nicht nur leidenschaftlich gern Hausmusik, für die 1.300 psychisch Kranken und geistig Behinderten von Alsterdorf, er schreibt auch Gedichte, die der Pfarrer in die Anstaltszeitung wir leben festgedruckt einrücken lässt; mal dichtet er über die Berliner Mauer, mal über die Verkehrstoten in der City.

... ... VON HUTZLIG-KLEINER GESTALT

Doch Albert Huth ist alles andere als ein Normaler. Er ist ein Alsterdorfer - und das schon im dritten Jahrzehnt. Ein "Schizophrener", bedauert Pfarrer Schmidt. "Ein Schwachsinniger, ein Psychopath", urteilt die Chefärztin Charlotte Preußner-Uhde, kurz vor der Pensionierung, im Anstaltsjargon kurz P.U. genannt. Die Psychiaterin glaubt zu wissen, wovon sie reden. Ein Kinder-Intelligenztest ergab bei dem 53 jährigen lediglich einen Quotienten von 80. Und schließlich, bemerkt die Dame im weißen Kittel, sei Albert Huth auch "genetisch vorbelastet". Eigentlich heißt er gar nicht Huth, sondern Heimann. Er ist ein uneheliche Kind von hutzlig-kleiner Gestalt. Außerdem, erklärt die Chefpsychiaterin, hat die Schwester seiner Großmutter ihren Lebensabend hier verbracht - "von Kretin wegen".

ÜBER 20 JAHREN KLOS GEPUTZT

Derlei Diagnosen und Biografien wiegen in Alsterdorf schwer. Aber noch erschwerender ist die Tatsache, dass Albert Huth als "Lügenbold" und "Querulant" eingestuft wird, der "zwischen Dichtung und Wahrheit nicht zu unterscheiden vermag" (Pfarrer Schmidt). Und Ärger gibt’s fast täglich mit ihm. Huth ist einer, der nicht ohne weiteres in die melancholisch-depressive Alltagsschablone einer Heilanstalt passt. Selbst die "sozialtherapeutischen Maßnahmen zur Förderung der Persönlichkeit und Individualität" (Preußner-Uhde) lehnt er rundweg ab. Was soviel heißt wie: Huth hat keine Lust mehr, Tag für Tag Räume zu kehren und Klosetts zu schrubben - immerhin macht er das schon seit 20 Jahren. Ein chronischer "Sammler" ist er noch dazu. So werden die Behinderten bezeichnet, die ihre wenigen Habseligkeiten, ob Briefe, Talisman oder Transistorradio unter dem Kopfkissen oder Matratze verstecken. Ein Verhalten, das die Pfleger nicht dulden wollen. Denn Ordnung gilt in Alsterdorf als erste Stufe zur Sozialisation.

"UNWERTES LEBEN"

Statt dessen macht Albert Huth etwas "völlig Abnormes" (Preußner-Uhde): Meistens meldet er sich krank und verzichtet damit auf sein monatliches "Gehalt" von 40 Mark. Dafür sitzt er dann tagsüber im kargen Schrankraum und schreibt auf einem Fensterbrett vor sich hin. "Auf Seite 146 ist er schon", lächelt der Pfarrer dezent. Doch sein "Geschreibsel ist nicht zeugnisfähig", versichert Pastor Schmidt. In der Tat, Albert Huth ja entmündigt. Da zählt es wenig, dass der debile Huth Pastor und Personal in jene Vergangenheit zurückreißt, die viele schon verdrängt haben - die Ausrottung "unwerten Lebens" im Dritten Reich: Ein Thema, das in Alsterdorfer Gesprächen unterm Personal tabu ist. "Die Zeit dafür ist einfach noch nicht reif", formuliert Pfarrer Schmidt. Die Alsterdorfer Tradition besagt: Wir haben geholfen, wo wir helfen konnten, wir haben Menschen gerettet, wo nur irgend jemand zu retten war. In zwei Schüben wurden aus den Alsterdorfer Anstalten zwischen 1941 und 1943 genau 570 Menschen im Rahmen der "T-4-Aktion" abtransportiert - nach Theresienstadt beispielsweise.

VOM WAISENHAUS IN IRRENANSTALT

Albert Huth war 14 Jahre alt, als er 1940 in die Alsterdorfer Anstalten kam. Körperlich ausgemergelt, "geistig zurückgeblieben", hatte der Junge schon Waisenhäuser und Kinderheime hinter sich gebracht. Für seine Mutter, erinnert sich Huth, war er drei Jahre lang ein lästiges Überbleibsel mit einem Juden namens Heimann. Für Stiefvater Huth galt er als Halbjude, den er nicht mit durchfüttern wollte. Die Behörden schickten Albert Huth 1940 in den "Wachsaal" Alsterdorf. Die Gründe seiner Einweisung finden sich nicht in seinen Alsterdorfer Akten - wo sie eigentlich sein müssten.

Im Wachsaal konnte damals geschehen, was auch wollte - nichts drang nach draußen. Schalldichte Mauern, vergitterte Fenster, Pfleger als Gefängniswärter. Vier Wochen blieb der Vierzehnjährige dort, "zur Eingewöhnung", wie es damals hieß. Heiß- und Kalt-Wasser-Bäder wechselten einander ab. Cistyl- und Truxal-Drogen gab's zur Besänftigung und die Paral-Spritze - ein Pflanzenschutzmittel - als Strafmedizin, so Huth in seinem Lebensbericht. Das Tagebuch des Albert Huth zeigt in erschreckender Art und Weise nachempfindend, hautnah auf, welches Milieu innerhalb der Anstalt im Nationalsozialismus herrschte. Es dokumentiert minutiös, wie genau Pfleger wussten, wohin die Transporte gingen.
VERDRÄNGTE VERBRECHEN
Albert Huth schreibt: "Wenn ein Junge im Bett gepinkelt hatte, wo er nicht dafür konnte, der wurde mit dem Knüppel geschlagen und nicht gebadet. Die ganze Urinsäure fraß sich in den Körper ein und es war am Tisch sehr unangenehm, wenn andere Kameraden den Geruch einatmen mussten. Um Ekzeme herauf zu beschwören, bekam der Junge den eingenässten Spreusack um den Rücken gebunden und musste auf dem Hof herumlaufen, bis der Sack trocken war."
NS-KNÜPPEL AUF JUDEN-KRÜPPEL
Nach seiner Konfirmation kam Albert Huth zur Alsterdorfer Station "Heinrichshöhe". Hatte ein Junge eine Erkältung", berichtet er, "dann bekam er ein Abführmittel anstatt Hustensaft." Magenkrämpfe und Durchfall waren die Folgen, Und "bei einem Zeugappell hatte ein Pfleger einen Jungen dermaßen mit dem Knüppel auf die Fußsohlen geschlagen, dass er vor lauter Schmerzen nicht mehr gehen konnte."
Albert Huth schreibt: "Otto A. war ein großer NS und hatte für die Kirche nichts über. Was Otto A. getrieben hat, war immer nur Hohn und Spott. Zu meinem Erstaunen kam ich nicht mehr in die Schule und blieb immer mehr im Rückstand. Otto A. hatte einen Knüppel, den er "Onkel Lehmann" nannte, auf die Kinder geschlagen, die ein Blasenleiden hatten. Auch da hatte man die Jugendlichen nicht gebadet. Freizeit hatte man dort sehr wenig. Am meisten mussten wir Jugendlichen auf dem Hof marschieren. Wenn zum Beispiel still gestanden ertönte und ein Epileptiker einen Anfall bekam, dann ließ er ihn fallen, ohne Hilfe zu leisten. Am Abend mussten die Jugendlichen auf dem Flur antreten. Dann wurde das Lied "Oh Jesu, meine Freude" gesungen. Danach folgte ein Abendgebet: 'Lieber Gott mit starker Hand, schütze unser Vaterland, gib' dem Führer Weisheit, Stärke; segnet ihn bei seinem Werke, auf das Deutschland wieder werde groß und mächtig auf der Erde. Amen.'
Kannten die Jugendlichen nicht diesen Spruch, dann wurden sie dazu gezwungen. Hatte ein Junge nach dem gesprochen, der musste auf dem Flur Liegestütze und Kniebeuge machen. Waren die Jugendlichen krank und hatten eine Erkältung, dann bekamen sie Rizinusöl, um die Erkältung zu unterdrücken. Zu dieser Zeit hatte Oberarzt Dr. Kreyenberg zwei Häuser in Beschlag genommen. Pfleglinge wurden verschleppt, die die Anstalt nicht mehr wiedersahen."
WAHLLOS STERBEN LASSEN
"Wittenberg" hieß die nächste Alsterdorfer Abteilung. Inzwischen schrieb man 1941. "Wahllos", so Huth, "hatten die Ärzte kranke Pfleglinge sterben lassen. Sie hielten ihnen vor: 'Du markierst'." Huth erkrankte selbst an Ruhr und wurde nach "Hohenzollern" abgeschoben - zurück in einen berüchtigten Wartesaal. Die Alsterdorfer Stationen tragen noch heute ihren hehren Titel. Albert Huths Erinnerungen stimmen mit der historisch festliegenden "TR-4-Aktion" im großen und ganzen überein.
Das Alsterdorfer "Paul-Stritter-Haus" wurde für den Zögling Albert Huth zum Schlüsselerlebnis. Hier belauschte er ein Gespräch zwischen einem Anstaltspfarrer B., einen Dr. C., seinerzeit ein Beauftragter der Gesundheitsbehörde, und dem Alsterdorfer Arzt D. "Hier sind viele Juden und Geisteskranke. Wann gedenken Sie die Pfleglinge abzuholen?" fragte D. Huth: "Am 29. Juli 1943 war es dann soweit. Um vier Uhr morgens waren sechs Autobusse in der Anstalt erschienen. Sie nahmen 329 Mädchen, 89 Kinder und 28 Babys mit. Drei Autobusse hielten auf dem weiblichen, drei weitere auf dem männlich Gebiet. Heraussprangen aus dem Bus die Gestapo. 'Wie viel Vögel habt Ihr', wollte sie wissen. Antwort: 'Es befinden sich eine hier eine ganze Portion', sagt einer zu seinem Kollegen. Antwort: Dann her mit den Schweinen." Insgesamt waren es 478 Pflegeinsassen, darunter Geisteskranke, Schwachsinnige, Epileptiker, Krüppel, Frauen und Kinder.
"SKLAVEN - HEIL HITLER"
Fast alle Pfleglinge trugen vorne vor der Brust ein Schild. Darauf stand geschrieben: 'Sklaven, gestorben am 3. August 1943, Heil Hitler. Wirklich, wie Schweine wurden die Pfleglinge in die Busse verladen, Schwestern hatten sie noch zurückhalten wollen, aber die Gestapo hatte mehr Macht ... ... Als ich um 12.1o Uhr im Lindenhof 2 und im Eichenhof sowie in den Knabenhort kam, waren alle Räume leer. Nicht einen einzigen hatten sie hier behalten. Dafür blieben in der Anstalt einige Häuser frei bis nach dem Krieg 1945 ... ... Sie kamen mit der Begründung, wegen der pausenlosen Luftangriffe mussten die Pfleglinge in Sicherheit gebracht werden. Diese Sicherheit endete im Konzentrationslager."
STERILISIERT - OHNE NARKOSE
Albert Huths Weg führte derweil zum Krankenhaus Barmbek, in die Abteilung CH 4. Er war gerade erst 17 Jahre alt, als er dort sterilisiert wurde - und zwar ohne Narkose. Huth: "Ich habe gelitten unter qualvollen Schmerzen. So waren mein Schicksal und meine Existenz besiegelt. Nicht einmal meine Angehörigen wussten etwas."
Zurück in Alsterdorf machte Huth die Bekanntschaft mit einem Pfleger namens Egon Gerner, einem ausgedienten Wehrmachts-Unteroffizier mit "Nahkampfspange in Gold und Silber". Er kam verwundet von der Front zurück und hatte, wie Huth meint, es von vornherein auf die "Juden-Mistkröte" Huth abgesehen. Weil er ein paar Äpfel geklaut hatte, schickte ihn Gerner abermals in den Wartesaal. "Ich bekam eine Glatze geschoren und blaugraues Zeug verpasst und Wasser für drei Tage. Als meine Mutter kam, erkannte sie mich nicht mehr wieder."
EINMAL BEKLOPPT - IMMER BEKLOPPT
Für den evangelischen Pfarrer Schmidt, er wurde nicht ganz unfreiwillig 1982 in den Ruhestand verabschiedet, ist die sonderbare Huth-Erzählung die larmoyante Lebensgeschichte eines Debilen, "mit dem", so die Chefpsychiaterin Preußner-Uhde, "die Fantasie laufend durchgeht, der sich und seine Umwelt nicht einzuschätzen weiß, der selbstsüchtige Thesen über die Vergangenheit herbeikonstruiert und so gar als Dr. med. Albert Huth tituliert". - "Nein", bedeutet der Anstaltsleiter, "was wir brauchen, das sind Pfleger von Format, die solche Patienten wie Albert Huth leiten und lenken können. Und die Chefpsychiaterin schiebt sogleich ihr Bekenntnis ungefragt hinterher: "Wir Alsterdorfer sind schon objektiv. Das können Sie mir ruhig glauben."
So wundert es in Alsterdorf heute eigentlich niemanden, dass Albert Huth auch nach dem Kriege dort blieb, wo er zuvor gewesen war: hinter Anstaltsgittern.
Denn was sollte sich bei dieser dezidierten Diagnose für Pflegling Huth auch ändern? Der Anstaltsarzt Kreyenberg, ein überzeugter Nationalsozialist und Rassist, hatte ihm schon 1940 "totalen Schwachsinn" attestiert, wie sich ein Kenner der Akte erinnert. Pfarrer Schmidt streitet das ab. Die späteren Ärzte sahen offensichtlich keine Veranlassung, sich näher mit der Huth-Diagnose zu befassen. Jedenfalls war Huths Entmündigung im Jahre 1947 - damals wurde er 21 Jahre alt - eine Routinesache. Er bekam, so geht es aus den Unterlagen hervor, auch weiterhin Prügel von Pflegern wie Gerner. Er hatte sich erdreistet, eine Entschädigung für seine Sterilisation zu fordern. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, soll er immer um sich geschlagen haben.
DER FALL HUTH - KEIN EINZELFALL
Albert Huths Schicksal ist in Alsterdorf zu Hamburg kein unrühmlicher Einzelfall. Der Pressesprecher der Anstalt: "Wir haben hier um die 80 solcher Leute." Sie kamen mit geringfügigen oder nur vermeintlichen Behinderungen in die Anstalt; aber statt zu heilen, verschärfte die neue Situation ihre Leiden erst wirklich. Doch während viele von Huths Leidensgenossen nur noch weltfern vor sich hindämmern, begann er schon bald nach dem Kriege als "Schwachsinniger" Brief um Brief zu schreiben: mal an den Alliierten Kontrollrat, mal an die BBC in London, mal an die Kripo in Hamburg, die schließlich im Jahre 1959 in Alsterdorf vorbeischaute. Ein Blick in Huths Akte und besänftigende Worte genügten, und der Fall schien erledigt.
STAATSANWALT BELOGEN
Es dauerte immerhin ganze acht Jahre, bis der Hamburger Staatsanwalt Dr. Dietrich Kuhlbrodt - 1967 - unverhofft in der evangelischen Anstalt auftauchte und die beschauliche Ordnung des Alsterdorfer Verwaltungsapparates durcheinanderbrachte. Aufgestört durch einen der vielen Huth-Briefe wollte der Ankläger in Akten einblicken. Er ermittelte gegen den ehemaligen Anstaltspfarrer Lensch. Doch die Akten waren angeblich nicht mehr vorhanden. Kuhlbrodt: Drei Mal fragte ich nach den Unterlagen. Drei Mal wurde ich beschieden. 'Wir haben nichts mehr, alles ausgebombt.' Dann bin ich auf eigene Faust in den Keller gestiegen und habe die Materialien gefunden, die ich suchte."
Vorher hatte sich Kuhlbrodt vorsorglich bei Huths von den Behörden eingesetzten Vormund informiert, ob sein Mündel tatsächlich unzurechnungsfähig sei. Im Gegensatz zur Anstalt kam dieser zum Schluss, Huth habe ein normales Erinnerungsvermögen, seine Angaben seien präzise und wahrscheinlich unwiderlegbar. Kuhlbrodt sagt heute: "Ob schwachsinnig oder nicht, Huths Fakten waren nicht mehr vom Tisch zu kriegen."
870 SEITEN ANKLAGESCHRIFT
Für den damals 34jährigen Staatsanwalt begann die größte Ermittlungsaktion, die er bislang geführt hatte. Nach siebenjähriger emsiger Kleinarbeit füllen in Sachen Alsterdorf 7.800 Blatt insgesamt 44 Aktenordner, und die Anklageschrift (Az: 147/Js58/67) umfasste 870 Seiten. Für den Prozess sollten 238 Zeugen geladen werden. Im Zentrum der Ermittlungen stand der frühere Seemannspfarrer Friedrich Jentsch, der 1930 zum Direktor der Alsterdorfer Anstalten avanciert war. Die Nazis waren kaum an der Macht, da hatte Jentsch bereits eine SA-Kampfgruppe Alsterdorf gegründet. Ob Pfleger oder Ärzte, in Uniform anzutreten, war Ehrensache.
Jentsch persönlich verwechselte allzu oft seinen Talar mit der Braun-Jacke eines SA-Oberführers. Die Partei bedankte sich für derlei kirchliches Entgegenkommen. Schon 1935 deklarieren die Nazis die evangelische Einrichtung Alsterdorf zum "NS-Musterbetrieb" und fünf Jahre später wurde Jentsch mit dem "Gaudiplom der deutschen Arbeitsfront geehrt.
PATIENTEN-PANIK VOR ABTRANSPORT
Albert Huth hatte das alles gut im Gedächtnis behalten. Nur in einem hat er sich geirrt: Aus Alsterdorf verschwanden nicht nur 478 Pfleglinge. Im Rahmen der T-4-Aktion wurden dafür 579 Behinderte aus Alsterdorf abgeholt. Das bestätigt nunmehr auch Pfarrer Schmidt. Mehr als die Hälfte erlitt nachweislich im KZ Theresienstadt einen grausamen Tod. Der Staatsanwalt: "Als die ersten Busse im Jahre 1941 anrollten, brach unter einigen Mitfühlenden des Alsterdorfer Personals und unter den Patienten Panik aus. Vor allem den Pflegern war längst nicht mehr verborgen geblieben, wohin die Reise ging."
Hier ein Auszug aus Kuhlbrodts Anklageschrift aus dem Jahre 1974: "Der achtjährige Herbert Barkmann litt an den Folgen einer Gehirnhautentzündung. Etwa eine Woche vor Ostern erhielten die Eltern in Hamburg dann die Nachricht, dass ihr Sohn verstorben sei. Mit der Anfrage, ob eine Beerdigung in Tiegenhof oder eine Einäscherung in Frankfurt an der Oder stattfinden solle. Die Eltern entschlossen sich, ihren Sohn in Tiegendorf beerdigen zu lassen. Der Vater fuhr nach Tiegendorf, ging von der Bahn direkt in die Leichenhalle, um dort seinen Sohn zu sehen. Er hob einige Deckel ab, in einem Sarg lag die Leiche seines Sohnes. Er war bis zum Skelett abgemagert, an der linken Schläfe hatte er deutlich sichtbar einen großen blauen Fleck. Auf dem Weg zur Verwaltung traf der Zeuge Barkmann den leitenden Anstaltsarzt, der das goldene Parteiabzeichen trug. Auf die Frage, woran sein Sohn gestorben sei, sagte dieser wörtlich: 'Woran sie alle starben...' "
VERLOGENE SENTIMENTALITÄT
Herbert Barkmann ist wie viele vor und nach ihm von Pastor Jentsch an der Eingangspforte der Anstalt verabschiedet worden. Die ahnungslosen Kinder hatten vor dem Bus einen Halbkreis gebildet und sangen meist: "Herr, hilf uns auf allen Wegen", manchmal auch "Harre meine Seele." "Diese Gesänge", so Jentsch nach dem Kriege, "haben mir den Mut gegeben, dass den Kinder nichts passiert." Seine scheinheilige Beteuerung reichte noch im Jahre 1974 dazu aus, eine gerichtliche Hauptverhandlung gegen den Anstaltspastor zu verhindern. Denn eine Hamburger Schwurgerichtskammer, so sagt der Staatsanwalt, unterstellte, dass Pastor Jentsch immer noch gehofft habe, den Kindern werde in den auswärtigen Anstalten nichts zustoßen.
Für Staatsanwalt Kuhlbrodt war jener Pfarrer-Spruch nichts anderes als eine "verlogene Sentimentalität". Immerhin quittierte im Jahre 1946 der bescholtende Pfarrer seinen Dienst als Direktor der Alsterdorfer Anstalten. Seine Begründung: "Ich bin für alle Beteiligten eine Belastung, die für die Anstalt nicht mehr tragbar ist", schrieb er seinem Vorstand. Doch bereits ein Jahr später diente er seiner Kirche wieder - als Gemeindepfarrer in Hamburg-Othmarschen. - Deutsche Karrieren.
PSYCHOPHARMAKA
In jenen Jahren von Kuhlbrodts Nachforschungen änderte sich Albert Huths Leben nachhaltig. Häufiger als zuvor taucht in seiner Akte die Verordnung von Psychopharmaka (Megaphen) auf. Albert Huth sagt freimütig: "Oft schwebte ich über den Wolken. Das ist mir früher nicht passiert." Dabei benötigt Huth niemals Beruhigungspillen. Darüber besteht sogar unter den Ärzten Einvernehmen, wie die Chefpsychiaterin der Anstalt weiß. Vielmehr müsse er sozialpädagogisch werden, heißt es lapidar. Frau Dr. Preußner-Uhde: "Allenfalls, wenn er wieder einen Aggressionsschub bekommt." Warum sich nun ausgerechnet in den letzten Jahren die medikamentöse Behandlung auffällig häuft, ist für Preußner-Uhde leicht erklärbar: "Früher gab es schließlich keine Psychopharmaka."
Viel schwerer fällt der Chefärztin die Erklärung dafür, warum Albert Huth eigentlich in Alsterdorf verwahrt wird. Denn erst lebte er als Zehnjähriger in einem Heim für Milieugeschädigte. Damals war von Geisteskrankheit keine Rede. Im Gegenteil: Die Ärzte - so die Heimakte - sagten dem jungen Huth eine Aufenthaltsdauer von maximal zwei bis drei Jahren voraus, seine Lehrer bescheinigten ihm eine durchschnittliche Intelligenz und gute Schulleistungen. Warum Albert Huth in Alsterdorf landete und mit welcher Begründung er zum "Behinderten gemacht" , ein "Behinderter ist" und "ein Behinderter bleiben wird", das vermag niemand so recht zu erklären.
Auch Pastor Hans-Georg Schmidt, Direktor der Alsterdorfer Anstalten bis ins Jahr 1982, ist in Sachen Huth nachdenklich geworden. "Gegenüber klassisch geprägten Psychiatern, die so ein festes Formbild in sich tragen, bin ich skeptisch." Dazu hat er auch allen Grund. Preußner-Uhde: "Er ist jetzt einfacher zu führen. Deshalb können wir ihn mit seiner Geistesschwäche auch etwas milder einstufen."
Dass Albert Huth der Auslöser einer staatsanwaltschaftlichen Ermittlung war, dass er seinen früheren Direktor beinahe auf die Anklagebank gebracht hätte, dessen ist er sich gar nicht bewusst. Aber er weiß: Das frühere NSDAP-Mitglied Gerner, einst Träger der Nahkampfspange in Gold und Silber, ist nicht mehr Pfleger - sondern, Alsterdorfer Karrieren, Oberpfleger.
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Postskriptum. - Albert Huth, geboren 1926 in Hamburg, blieb 44 Jahre seines Lebens in psychiatrischen Anstalten interniert. Erst im Jahre 1984 wurde er als "geheilt" entlassen. Er starb im Jahre 2005 in Barmstedt (Schleswig-Holstein) im Alter von 83 Jahren.