Donnerstag, 1. März 1979

Aus deutschen Landen: Mörder unter uns











Es sah so aus, als würde der 17. Januar für die Gemeinde Allendorf im hessischen Ulmtal ein Tag wie jeder andere. Dann aber wurde ein alter, unauffälliger Mann verhaftet. Er soll ein Massenmörder sein, ein sadistischer SS-Scherge. Und niemand unter den Dächern kann es glauben ... ...

ZEITmagazin, Hamburg
1. März 1979
von Reimar Oltmanns
und Dirk Reinartz (Fotos)

In der 1200-Seelen-Gemeinde Allendorf im hessischen Ulmtal gibt es neuerdings drei Altäre. Zwei, die seit eh und je in den beiden Kirchen des Ortes stehen, und einen, der zu Ehren des Schlagerstars Heino errichtet wurde - im Frühstücksraum der Pension Manhalter im Dammweg Nr. 3 . Vor einem Buntglasfenster steht dort ein weißer Schreibtisch, darauf zwei Nelken in langhalsiger Vase, links und rechts zwei ledergerahmte Bilder des Schlagerstars.

TREFFPUNKT DER HEINO-FANS

Der Haushalt bei der 52jährigen Hedwig Manhalter ist ein Treffpunkt der Allendorfer Heino-Fans. Und davon gibt es viele. Als beim ZDF die sechsteilige Sendung "Sing mit Heino" auf der Kippe stand, starteten Hedwig und ihr Mann Toni eine Unterschriften-Aktion im Dorf. Immerhin solidarisierten sich fast 800 Allendorfer mit Heino, zwei Drittel aller Einwohner. Per Einschreiben ließen sie es das ZDF wissen, Heino dankte "seinen Lieben" und sagte sich für den 24. März in Allendorf an; zum Konzert in der Ulmtalhalle, zur Übernachtung bei den Manhalters. Seither gibt es im Dorf kein Schaufenster ohne Heino-Plakat.

Gedämpft wurde diese Vorfreude, die den Ort beherrschte, am 17. Januar. Da beobachtete die Zeitungsbotin Kraus in den frühen Morgenstunden, wie zwei Polizisten vom Außenposten Ehringhausen in der Allendorfer Straße 11 den 65jährigen Ludwig Jantz in ihren Peterwagen bugsierten. Noch dazu in Hand-schellen und mit einem kleinen Köfferchen. Tags darauf dann beendete die Wetzlarer Neue Zeitung das vage Gemunkel der Dörfler mit einer alle erschrek-kenden Schlagzeile: Mutmaßlicher Massenmörder verhaftet.

BRAV UND DANKBAR

Man muss sich vorstellen, was das für Allendorf bedeutet. "Bei uns", so Ortspfarrer Karlheinz Potthoff, "sind doch nur rechtschaffene Menschen. Brav und dankbar." Die meisten fahren morgens um fünf nach Wetzlar ins Industriegebiet und bringen monatlich zwischen 1.200 und 1.700 Mark brutto nach Hause. Nach Feierabend hat fast jeder noch eine Nebenarbeit. Zum Beispiel am Fachwerkhaus, dessen schwarze Balken nachgeteert werden müssen. Selbst im vereisten Winter behält die Dorf-Idylle ihre wohlerträumte Ordnung.

Der jetzt verhaftete Ludwig Jantz kam vor vier Jahren hierher. Er kam aus Düsseldorf, das, wie er immer wieder sagte, in Nordrhein-Westfalen liegt. Er betonte das einfach deshalb, weil die Allendorfer vor allem zu Kohlenpott-Leuten Zutrauen haben. Jährlich erholen sich über 25.000 "Zechengäste" im Ulmtal. Mit ihren "Quar-tiergroschen" konnten die Allendorfer schon so manches auf die Beine stellen, ihren Märchenwald etwa und ein Legoland.

"AUS DER OSTZONE"

Mit seiner erklärten Zuneigung zum Pott gelang es Ludwig Jantz leichter, heimisch zu werden, als etwa dem zugereisten Arzt Dr. Koch und dem Ortslehrer Jung, die den Allendorfer Argwohn noch nicht ganz abzubauen vermochten. Obschon über zwei Jahrzehnte hier ansässig, heißt es hinter vorgehaltener Hand noch immer: "aus der Ostzone".

EIN SS-MASSENMÖRDER

Dass nun ausgerechnet "unser Herr Jantz" verhaftet wurde, war zunächst "eine Sensation, die schwer Staub aufgewirbelt hat", so sein Nachbar Emil Sattler. Dass Herr Jantz "eigentlich nicht so heißt und sogar in wilder Ehe leben soll, kann hier keiner so recht glauben. Schließlich hat er doch gültige Papiere, und seine Frau ist auf freiem Fuß", so die Wirtin Elfriede Kunz. Dass Herr Jantz ein "SS-Massenmörder sein soll, der aus lauter Lust und Laune Kinder, Frauen und Greise erschoss und hier untertauchte, "kann und darf nicht wahr sein", so die Metzgersfrau Irmgard Bremond.

Frau Bremond lebt schon seit 46 Jahren im Ort. Morgens um sieben Uhr steht die Mutter drei Kinder im Fleischerladen, abends zapft sie in der Wirtschaft Bier. "Nein", sagt sie nachdenklich, "wir haben schon viel erlebt - einen Makler, der sich als Gauner entpuppte, einen Zahnarzt, der mit 300.000 Mark Steuerschulden durchbrannte, und auch einen Rentnermord, doch die Täter saßen schon am nächsten Tag." Aber einen Massenmörder? Frau Bremond sagt, da helfe nur eines: "Abzugsfinger ab, Kopf ab."

Mit dieser Meinung steht die Metzgersfrau freilich ziemlich allein da. Zwar beherrscht die Verhaftung des Jantz das Dorfgespräch, aber an die Hintergründe, dass es sich um einen mutmaßlichen SS-Massenmörder handelt, will so recht keiner glauben. Ob im Edeka-Laden, bei Bäcker Erno Müller, bei Foto Grimm, im Elektrogeschäft Mandt, alle reagieren zunächst zaghaft-ängstlich, dann aber entschlossen offensiv, um die angenagte Reputation des Dorfes zu retten. Für Brigitte Müller, eine Endzwanzigerin im Verkehrsverein, "muss doch nun endlich mal Schluss sein". Und die Postbotin Schmidt, die Tag für Tag in Lastexhosen und Anorak ihre Runden zieht, wirkte Herr Jantz "ja geradezu liebenswürdig". Als die Beamtin zwei ältere Damen im Fenster bemerkt, ruft sie ihnen zu: "Stimmt doch, wir können über Herrn Jantz nichts Schlechtes sagen?" Vom Gegenüber tönt es zurück: "Ja, er ist nett und bescheiden."

"DASS MIR DER HUND DER LIEBSTE SEI ..."

Zu Hause bei den Nachbarn des Verhafteten, bei Emil und Anita Sattler in der Hauptstraße 9, hängt in der guten Stube der gerahmte Spruch: "Dass mir der Hund der Liebste sei, sagst du oh Mensch sei Sünde, der Hund bleibt mir im Sturme treu, der Mensch nicht einmal im Winde."

Über ihre Haustiere haben sich die Sattlers und die zugezogenen Jantzens vor vier Jahren angefreundet. Denn seltsamerweise verstanden sich Sattlers Jagdhündin Anka und der Kater Peter Bunsemann von Jantz auf Anhieb prächtig. "Die Sympathie zwischen den beiden ging sogar so weit, dass meine Anka für den Bunsemann das Kitekat apportierte", erzählt Sattler.

RUSSEN SCHIESSEN EINEN NACH DEN ANDEREN

Verständlich, dass auch die Nachbarschaftshilfe zwischen Haus Nr.11 und Nr. 9 gedieh. Sattler über Jantz: "Er ist ein Mann der hilft, wo er nur helfen kann." Schon früh morgens, wenn Hobbygärtner Sattler seine 75 Kilo schwere Fräsmaschine aus dem Stall holen wollte, kam Jantz im Pyjama und packte mit an. Er schmirgelte und strich den Nachbarn die Zäune, fuhr mit seinem Simca-Chrysler die Hausfrauen zum Supermarkt nach Wetzlar, und sein Telefon - das einzige im Straßenabschnitt - war mehr oder minder ein Gemeinschaftsanschluss.

Und nun auf einmal "soll unser Herr Jantz ein Mörder sein?" fragt Frau Sattler, "Nein", gibt ihr Mann die Antwort, "Rufmord ist das. Die Russen schießen hier einen nach dem anderen raus. Die wollen Europa kassieren wie eine faule Frucht. Die wollen, dass ihre Pferde einmal Wasser aus dem Atlantik saufen."

UNTER FALSCHEM NAMEN GELEBT

Die Limburger Oberstaatsanwälte Alfred Gerber, 53, und Norbert Winkler, 44, sehen das anders. Für sie ist der 65jährige Ludwig Jantz in Wirklichkeit der 61jährige SS-Unterscharführer Ludwig Klemm. Fünfzehn Jahre suchte die bundesdeutsche Strafverfolgung diesen Mann, sechs Jahre dauerten die Ermittlungen, und zwar zur Person und zur Sache. Wenn Ludwig Jantz im Oktober vor der Ersten Großen Strafkammer des Landgerichts Limburg stehen würde (Az.: Js 12541/78), sollten insgesamt 39 Zeugen aussagen.

HERREN ÜBER LEBEN UND TOD

Begonnen hatte alles damit, dass der SS-Unterscharführer (Unteroffizier) Ludwig Klemm Anfang 1941 vom ostpolnischen Zamosc in die Kleinstadt Izbica abkommandiert wurde. Gemeinsam mit SS-Unterscharfführer Kurt Engels - er nahm sich am 31. Dezember 1958 in der Hamburger Untersuchungshaft das Leben - richtete Klemm eine GESTAPO-Außenstelle ein. Die beiden hatten die Aufgabe, im Ort für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Denn in Izbica, einer Durchgangsstation für die Konzentrationslager, sollte vor allem die unbeteiligte Zivilbevölkerung unter Kontrolle gehalten werden. "Engels und Klemm", so Oberstaatsanwalt Winkler, "waren fast zwei Jahre Herren über Leben und Tod." Dabei gehörten die beiden zu keinem Exekutionskommando; sie waren nicht einmal für den Abtransport der Juden verantwortlich.

MÜTTER-BRÜSTE ALS ZIELSCHEIBE

Engels und Klemm sollen sadistisch gemordet haben - aus Fanatismus und Rassenwahn. Ein zehnjähriges Mädchen, das auf dem Marktplatz stand und nach seiner Mutter weinte, soll Klemm per Genickschuss getötet haben. Eine junge Frau mit drei Kindern habe er aus dem Haus geholt und die Mutter mit ansehen lassen, wie er ihre am Boden liegenden Kinder, die Gesichter im Dreck, erschoss. Anschließend soll Klemm die Brüste der Mutter als Zielscheibe benutzt haben. Ältere Juden seien in ein leerstehendes Haus gepfercht worden. Mit Handgranaten sollen Engels und Klemm Gemäuer und Menschen in Schutt und Asche bombardiert haben. Sie hätten ältere polnische Juden zu deren Friedhof gebracht - keiner von ihnen sei in die Stadt zurückgekehrt. Sie seien nachts in Wohnungen eingedrungen und hätten und hätten um sich geschossen. Wer von Engels und Klemm nicht den Hut zog, sei in Izbica ein toter Mann gewesen.

Wie viele Menschenleben Engels und Klemm damals auf ihr Gewissen lud, sei heute nicht mehr auszumachen. Für die Staatsanschaft können es 500, es können auch 1.000 Opfer gewesen sein. Die Staatsanwälte Gerber und Winkler reduzierten ihre Anklage auf zwanzig Punkte, mit denen sie einen lückenlosen Nachweis zu führen glauben.

MIT NEUER IDENTITÄT VERSCHWUNDEN

Doch in der Limburger Untersuchungshaft sitzt ein Mann, der bei all seinen Verhören nur stereotyp einen Satz von sich gibt: "Ich bin nicht Klemm, ich heiße Ludwig Jantz." Offensichtlich erinnert sich Ludwig Jantz alias Klemm nicht mehr an jene wirren Tage des Jahres 1945 in Thüringen, wo er seine erste Frau Hedwig Klemm wiedertraf. Bereits damals hatte er eine neue Idenität. Aus Ludwig Klemm, geboren 1917 in Odessa, war Ludwig Jantz, geboren 1913 in Freistatt/Westpreußen, geworden. Nach ein paar Wochen verschwand Klemm plötzlich und spurlos. Fünf Jahre wartete die verängstigte und wegen des Namenswechsels verunsicherte Frau vergebens auf die Rückkehr ihres Ehemannes, dann stellte sie einen Suchantrag beim Deutschen Roten Kreuz - vorsorglich auf beide Namen.

Ludwig Jantz will heute auch nicht mehr wissen, welche Unterlagen er in seinem Schreibtisch hatte, als die Kripo 1973 seine Düsseldorfer Wohnung durchsuchte. Es waren Aufzeichnungen über seine Eltern, Brüder und Schwestern und deren Adressen kreuz und quer in der Bundesrepublik. Denn seine neue Identität hat ihn offensichtlich nicht davon abgehalten, die Kemmsche Familienchronologie für sein Gedächtnis festzuhalten. Das war für die ermittelnde Kripo ein weiteres Indiz, in der mörderischen Sache auf der rechten Spur zu sein. Und dann war da noch der unstimmige Lebenslauf.

LEBENSLAUF: UNSTIMMIG

Als Ludwig Jantz will der Beschuldigte am 9. August 1913 in Freistatt/Westpreußen geboren worden sein. Das Einwohnermeldeamt in Freistatt: "An diesem Tag ist ein Ludwig Jantz nicht registriert." Seine Mutter, eine Wendlin Oestroem, soll in Zoppot geboren sein. Amtlicher Vermerk: "Nicht registriert." Im Jahre 1911 sollen seine Eltern in Freistatt geheiratet haben. Amtlicher Vermerk: "Nicht registriert." Er will mit seinem Vater, einem Holzhändler, in Zoppot in der Seestraße 8 gewohnt haben. Amtlicher Vermerk: "Nicht registriert."

IM HAUS VERSCHANZT

Für die Staatsanwälte wird eine Klemmsche Familienzusammenführung nach fast vierzig Jahren zu Prozessbeginn unvermeidlich sein. nur eine Frau bleibt davon ausgeschlossen. Nämlich die, die der angebliche Ludwig Jantz in Allendorf als seine Ehefrau ausgab, die aber tatsächlich Erna Boehlke heißt. Sie hat sich in ihrem Haus verschanzt. Ihre Augen sind rot unterlaufen, ihr Gesicht von den vielen Be-ruhigungsmitteln aufgedunsen.

Die Verhaftung ihres Lebensgefährten traf sie plötzlich unerwartet. Nicht einmal andeutungsweise habe ihr Gefährte ihr von seiner undurchsichtigen Vergangenheit berichtet. "Dabei haben wir uns alles gesagt, bei uns war nichts tabu", beteuert sie. "Wenn er etwas auf dem Kerbholz gehabt hätte, hätte er sich doch irgendwann einmal aussprechen müssen."

LANDFLUCHT

Für die frühere Angestellte hab es keinen ersichtlichen Grund, an Jantz zu zweifeln. In Düsseldorf, wo sie zuletzt lebten, war er als zuverlässiger Buchhalter bekannt. Als die Kripo 1973 seine Wohnung durchsuchte, lebte Jantz noch mit seiner zweiten Frau zusammen, die noch im selben Jahr an Krebs starb. Erna Boehlke kannte er schon seit 1958. Als er kurz nach dem Tod seiner Frau arbeitslos wurde, schlug Jantz der Erna Boehlke vor, gemeinsam aufs Land zu ziehen. Mit Erspartem kauften sie sich beide in Allendorf ein heruntergekommenes Bauernhaus. Zwei Jahre dauerte die Renovierung, Eine Heirat kam nicht in Frage, wegen Ernas Rente. Also spielte man für die Allendorfer das traute Ehepaar und konnte sich - er erhielt Arbeitslosen-unterstützung - im Sommer sogar Fahren an den Rhein, an den Bodensee und nach Liechtenstein leisten.

MOZART, BACH, CHOPIN

Am Dorfleben beteiligten sich die Zugereisten aus Düsseldorf nur soweit wie nötig. Beim Feuerwehrfest tauchten sie allenfalls als Zaungäste auf. Sie blieben lieber zu Hause, sahen Krimis oder hörten klassische Musik von Mozart, Bach, Chopin, aber auch die beliebten Opernchöre oder "Volkslieder aus dem Heimatland Ostpreußen". Gelegentlich las Jantz seiner Gefährtin auch etwas vor. Sein Lieblingsautor war Casanova.

EIN JAGDFLIEGER WIE RUDEL

"Ich kann das alles nicht fassen", sagt die Erna Boehlke und weint. Für sie war Jantz Luftwaffenpilot, "einer der ersten deutschen Jagdflieger im Zweiten Weltkrieg". Und sie erinnerte sich noch genau, wie er über seine Kameraden sprach. Das letzte Mal über Oberst Rudel, der stand gerade in den Schlagzeilen. "Da hat Ludwig mir noch erklärt, dass der Rudel kein guter Flieger war. Dafür soll er aber besser geschossen haben als die anderen."

"Soll'n die mich doch gleich erschießen", hat er zu Erna Boehlke bei ihrem letzten Besuch in der Untersuchungshaft gesagt. Sie solle sich bloß nicht um ihn sorgen. "Er will nicht einmal, dass ich noch seine Wäsche wasche."

Frau Boehlke bringt mich bis vor die Tür des penibel renovierten Bauernhauses in Allendorf und blickt für einen kurzen Moment aufs Kopfsteinpflaster. "Da, erinnert sie sich, "lag im letzten Herbst ein Regenwurm. Den hat Ludwig aufgehoben und behutsam ins Gras gelegt. " - 42 Tage nach seiner Verhaftung erhängte sich Ludwig Jantz alias Klemm mit einem Bettlaken am Fensterkreuz seiner Zelle - eine Nachricht ließ er nicht zurück.