Donnerstag, 6. April 1978

Sowjetunion: Das Mysterium der Vierten Abteilung für Wladimir Bukowski (Teil 3)



















stern, Hamburg
6. April 1978
aufgezeichnet von
Erich Follath und
Reimar Oltmanns

Dr. Jouri Novikov ist der erste führende Psychiater der Sowjetunion, dem die Flucht in den Westen gelang. Er war dabei , als seine Kollegen auf Befehl des Geheimdienstes unbe-queme Bürgerrechtler in die Irrenhäuser schickten. Diagnose: "Schizophrenie" - eine sowjetische Variante der Bewusstseins-spaltung.


Am 24. April 1974 hatte ich es geschafft. Meine Dok-torarbeit bei Professor Oskar Jewgenijewitsch Freierow über das Thema wurde von der Gelehrtenkommission des Moskauer "Serbskij"-Instituts einstimmig angenommen, was so viel wie "sehr gut" heißt. Dieses Ereignis wollte ich mit meinen Kollegen begießen. Für 300 Rubel, das waren damals etwa zwei Monatsgehälter für mich, lud ich sie alle in ein Lokal ein, spendierte ein Abendessen und einen teuren armenischen Kognak. Es war in den drei Jahren, in denen ich schon am "Serbskij"-Institut arbeitete, das erste und einzige Fest, das ich mit meinen Leuten feierte. Und es war eine Enttäuschung.

ALS ALKOHOLIKER VERSCHRIEN

Nicht einmal in privater Umgebung gingen meine Arbeitskollegen aus sich heraus. Sie saßen an der Tafel steif und teilnahmslos herum und würgten ihr Filet Stroganoff herunter, als seien sie zu einem Leichen-schmaus geladen. Selbst von den aufgefahrenen Wodka-flaschen blieb die Hälfte ungeöffnet stehen. Schon um zehn Uhr verabschiedeten sich die ersten, und eine Stunde später stand ich allein im Restaurant.

Ich konnte den Kollegen ihre Zurückhaltung nicht übernehmen, denn ich merkte ja selbst, wie ich mich beim Trinken kontrollierte. Schnell war man im Institut als Alkoholiker verschrien und galt als nicht zuverlässig. Sich vor den anderen kleine Blöße geben, nur keine eigenen Vorstellungen äußern - das was das oberste Ge-bot. Und ich verstand es, mich nahtlos anzupassen. Die Korsettstangen der Selbstkontrolle waren bei jedem so fest eingezogen, dass er es vermied, durch Individua-lität aus der Rollen zu fallen: Eine Abweichung von den gängigen und offiziellen Ideen könnte ja die Vorstufe zur eigenen Abnormität sein. Kein Psychiater wollte ein Fall für die Kollegen werden.

VOLLENDETE KONFORMITÄT

Diese zwanghafte Adaption bis hin zur Selbstverleug-nung ist ein klassisches Symptom der Sowjet-Gesell-schaft. Während der Westen, so scheint mir, wenigstens teilweise Individualität und persönlichen Einfallsreich-tum honoriert, strebt in der Sowjetunion jeder danach, für vollendete Konformität belohnt zu werden.

Nur wenn es darum ging, gegen Kollegen zu intrigieren, wurden die Gespräche offen, Dann zogen die Profes-soren übereinander her. Die Hauptkonkurrenten im "Serbsbkij"-Institut waren die dienstältesten Profes-soren: Oskar J. Freierow, Leiter der sechsten Abteilung, in der ich arbeitete, und Daniil R. Lunz, Chef der Ab-teilung Vier und verantwortlich für die politischen Fälle. Freierow und Lunz gingen sich aus dem Weg, wo sie nur konnten. Und wenn sie sich doch einmal auf dem Flur trafen, grüßten sie sich nicht. Aus Gesprächen mit ihnen erfuhr ich, was sie von einander hielten. Der 66jährige Lunz über den ein Jahr jüngeren Freierow: "Dass Sie ausgerechnet bei dem promovieren mussten! Von Psy-chiatrie versteht der nichts. Der ist doch schon krank und senil."

AKTEN NACHGEWORFEN - WUTANFÄLLE

Bei einer anderen Doktorarbeit wurde er fast handgreif-lich. Swjetlana Manakowa kam eines Morgens heulend zu mir und erzählte völlig aufgelöst, Lunz habe sie ruppig aus dem Chefzimmer herausgeworfen und geschrien: "Was für einen Schwachsinn Sie zusammen-schreiben! Ich will Sie hier in den nächsten vier Wochen nicht mehr sehen! Und wagen Sie sich ja nicht zu mir, wenn Sie Ihre Arbeit nicht völlig neu geschrieben haben!" In seinem Wutanfall habe er ihr Manuskript zerrissen und einen Aktenordner hinter ihr hergeworfen.

BEEINDRUCKENDE PERSÖNLICHKEIT

Trotz seiner unberechenbaren Ausbrüche war Lunz eine beeindruckende Persön-lichkeit. Nur 1,60 Meter groß, kräftig gebaut, graues schütteres Haar. Er ließ jeden seine Arroganz und Überlegenheit spüren. Es machte ihm Spaß, deutsche und französische Sprachfetzen in die Unterhaltung einzustreuen. Er beherrschte diese Sprachen perfekt, obwohl er nie im Ausland war.

Wer zu Lunz aufblickte, den behandelte er manchmal sehr freundlich. Als ich den Professor freundlich bat, mir für einen wissenschaftlichen Aufsatz das bundes-deutsche "Handbuch für Psychiatrie" zu beschaffen, überraschte er mich mit einer Einladung zu sich nach Hause: "Ich würde Ihnen das Buch gerne leihen, aber ich gebe es grundsätzlich nicht aus der Hand, weil ich es nur mühsam über Beziehungen bekommen habe."

ZERSTREUTER PROFESSOR - HANDLANGER DES KGB

Ich war überrascht, wie anspruchslos Professor Lunz mit seiner Frau lebte. Zwei winzige Räume von etwa zehn und zwölf Quadratmeter, ein kleiner Flur, eine Kochnische und ein Duschbad waren alles, was seine Privatsphäre ausmachte. Die Wohnung im zwölften Stock eines Hochhauses in der Moskauer Innenstadt, er-innerte mich an die Hinterzimmer einer Buchhandlung. Der Parkettfußboden war kaum zu sehen, so sehr sta-pelten sich die Bücher kreuz und quer. Randvolle Bücherregale reichten bis zur Decke - für Bilder war kein Platz.

Lunz war ein bescheidener Mann, der nur an seine Wissenschaft dachte, wie ich später erfuhr, hatte er keine Datscha, noch nicht einmal einen Wagen, den sich andere Professoren als Statussymbol leisteten. Als er mir einen Stuhl anbot und lange nach dem deutschen Buch kramte, wirkte er hilflos und zerstreut - genau wie die Professoren in der Karikatur.

Dabei war Lunz alles andere als ein weltfremder Wissen-schaftler. Hinter einer intellektuellen Fassade verbarg sich der skrupelloseste Handlanger des sowjetischen Geheimdienstes KGB. Er war der Mann, der die Regime-kritiker Sinjawski und Jessenen-Wolpin (1949 und wieder 1968), Frau Gorbanewskaja (1963), Fainberg (1965), Bukowski (1963 und 1967) und Griogrenko (1969) als Irre in psychiatrische Kliniken hatte abschie-ben lassen - und das sind nur die bekanntesten Opfer. Ich schätze, Lunz hat jährlich vierzig politisch Anders-denkende als unheilbar krank in Sonderhospitäler eingewiesen.

ALS PSYCHIATER GEFÜRCHTET

Als Psychiater war er unter den Dissidenten so ge-fürchtet, dass die Brüder Roy und Schores Medwedjew ihn als Gutachter ablehnten ( der Historiker Roy schrieb ein Buch über die Gräueltaten während der Stalin-Ära; der Biologe Schores über die Behinderung sowjetischer Wissenschaftler). Dieses Recht hat zwar jeder Patient, doch in der Praxis ändert es nichts: Der Staat hat genügend willfährige Mediziner, die ein-springen.

AUFSTIEG ZUM SEKRETÄR

Ich erhielt ziemlich genaue Kenntnisse und Informa-tionen über geheime Vorgänge in der sowjetischen Psychiatrie, als ich im Jahre 1976 zum Sekretär der höchsten psychiatrischen Vereinigung der Sowjet-republiken gewählt wurde. In diesem Allunionsverband saß ich neben Danill R. Lunz, Georgij Wassiljewitsch Morosow, Andrej W. Snjeschnewskij und anderen Größen aus der Psychiatrie und Neurologie.

Natürlich diskutierten wir auf den Sitzungen über politisch brisante Fälle und die damit verbundenen westlichen Angriffe. Was mich allerdings von Lunz unterschied: Ich wurde einstimmig von der Vollver-sammlung ins Präsidium gewählt. Lunz dagegen kassierte siebzehn Gegenstimmen - ein in der Sowjet-union außergewöhnliches Misstrauensvotum.

"SCHLEICHENDE SCHIZOPHRENIE"

Professor Lunz hatte sich wie kaum ein anderer mit der Definition der "schleichenden Schizophrenie" ausein-andergesetzt. Für ihn begann Bewusstseinsspaltung schon dort, wo medizinisch "keine klaren Symptome vorhanden waren, wie Wahnvorstellungen und Hallu-zinationen". Der Kranke konnte, so Lunz, "für seine Umwelt absolut normal erscheinen" und dabei tief geistesgestört sein.

Ich selbst hörte Professor Lunz 1973 in einem Vertrag in Moskau drei Beispiele von Leuten nennen, die seiner Meinung nach unter verschiedenen Stadien der Schizo-phrenie litten - und alle drei waren politischen Fälle.

Fall 1: Eine Person, die das sowjetische System kritisierte.

Fall 2: Eine Person, die Staatsgewalt grundsätzlich ablehnte.

Fall 3: Eine Person, die mit Gewalt gegen hohe Politiker vorgehen wollte.

Lunz' Vorteil war: Er glaubte, was er sagte. Er wirkte vor Kollegen vor den Kollegen so überzeugend, dass er den eklatanten Missbrauch sowjetischer Psychiatrie als ein Stück Normalität darstellen konnte. Erst viel zu spät merkte er, dass sein Name im Ausland zum Inbegriff einer fehlgeleiteten Wissenschaft wurde.

"ARZT DES TEUFELS" - NUR EINE NUMMER

Als Lunz 1973 vom Westen erstmals scharf angegriffen und "Arzt des Teufels" genannt wurde, reagierte er ziem-lich fassungslos. "Das sind doch Scheißkerle", sagte er zu mir. "Die Antipropaganda der Amerikaner und Engländer gegen unser Land geht sogar schon so weit, dass sie die Mediziner einspannen." Wäre es nach Lunz gegangen, die UdSSR hätte sich längst aus dem Welt-verband der Psychiater zurückgezogen.

Doch in diesem Fall konnte Lunz nicht abschätzen, welchen Einfluss die westliche Kritik auf die sowjetische Dissidenten-Politik hatte. Immer mehr Regimekritiker wurden nach der Konferenz für Sicherheit und Zu-sammenarbeit in Europa (KSZE), die im August 1975 in Helsinki stattfand, abgeschoben. Lunz hat nie ver-standen, warum ausgerechnet "kranke Menschen" in den Westen ausreisen durften. In den letzten Monaten, die ich ihn im Institut sah, war er verbittert und kränk-lich.

KAMPF UM TODESANZEIGE - KEINE TRAUERFEIER

Daniil R. Lunz ist am 1. März 1977 im Alter von 66 Jahren an Lungenkrebs gestorben. Der große Mann der sowjetischen Psychiatrie war dem "Serbskij"-Institut nicht einmal eine Trauerfeier wert.

Ich erfuhr die Nachricht nur beiläufig, "Serbskij"-Direktor G.W. Morsow, seit Jahrzehnten sein Wegge-fährte, ließ mir durch seine Sekretärin mitteilen, ich solle mich um eine Todes-anzeige in der Parteizeitung kümmern. Ich müsse dazu allerdings noch die Genehmi-gung des Kreiskomitees der Partei einholen. Das war einfacher gesagt als getan. Denn die Genossen im Kreis-komitee wollten die Todesanzeige in den nächsten zwei Ausgaben für den Druck nicht freigeben. Ihre Be-gründung: Auch andere verdiente Genossen stünden längere Zeit auf der Warteliste.

Ich rief Professor Morosow an. Der wollte die Todes-anzeige aus Prestigegründen unbedingt vor dem 5. März, dem Tag der Beerdigung, groß gedruckt sehen. Morosow , als Organisationstalent bekannt, hatte eine Idee. Er schickte mich mit einem Schreiben direkt zu einem Redakteur einer Moskauer Abendzeitung, dessen Mutter mehrere Jahre als Krankenschwester in der Lunz-Abteilung im "Serbskij"-Institut gearbeitet hatte. Auf diese Weise haben wir es doch noch geschafft, die Todesnachricht, zwar nicht großformatig, dafür aber pünktlich in die Zeitung zu rücken.

ALIBIS FÜR ÜBERGRIFFE

Daniil R. Lunz lieferte zweifellos die medizinischen Alibis für die politischen Übergriffe des KGB. Doch für den Geheimdienst war er nicht mehr als eine Nummer, ein nützliches Werkzeug, abhängig und austauschbar. Doch für den Geheimdienst war er nicht mehr als eine Nummer, ein nützliches Werkzeug, abhängig und aus-tauschbar.

ZAREN-ZEIT

Denn Lunz hatte mit seiner Arbeit nur eine russische Tradition fortgesetzt, deren Vorbilder und Wurzeln bis in die Zarenzeit zurückgehen. Der Mann, der als erster Ärzte zu Erfüllungshilfen seiner unrühmlichen Politik machte, war Nikolaus I. (1796-1855), ein Schreckens-herrscher, dessen Spitzel vor allem Intellektuelle denun-zierten. Eines der vielen Opfer war der Philosoph Pjotr Jakowlewitsch Tschaadajew (1794-1856). Er kam 1836 von einer längeren Reise durch mehrere europäische Länder nach Russland zurück und war entsetzt über die Rückständigkeit und Tyrannei des Zarenreichs. Tschaadajew veröffentlichte deshalb heftige Attacken gegen Nikolaus I., der ihn von seiner Geheimpolizei festnehmen und von Ärzten öffentlich für verrückt erklären ließ.

ALTE BULLETINS HOCHAKTUELL

Das Bulletin aus dem Jahre 1836 könnte auch 1978 in der Parteizeitung "Prawda" stehen. "Der Aufsatz von Tschaadajew hat in jedem anständigen Russen Wut und Widerwillen erregt. Doch das Entsetzen verwan-delte sich schnell in Mitgefühl, als die Bevölkerung erfuhr, dass ihr unglücklicher Landsmann an Geistes-zerrüttung und Wahnsinn leidet. In ihrer väterlichen Fürsorge stellt die Regierung ihm einen Spezialarzt zur Seite und verordnet Hausarrest." - Tschaadajew blieb eine prominente Ausnahme. Normalerweise machte sich der Zar nicht die Mühe, seine Gegner "nur" für geistes-krank zu erklären und sie einzusperren. Er ließ sie gleich umbringen.

LENINS OKTOBER-REVOLUTION

An dieser Praxis änderte sich auch nach Lenins Oktober-Revolution wenig. Schon im Dezember 1917 wurde die "Tscheka", eine außerordentliche Kommission zur Bekämpfung von Sabotage und Konterrevolution, ge-gründet. Nur wer weiß, wie die "Tscheka" damals ar-beitete und welche politischen Aufträge sie ausführte, kann be-greifen, welche Rolle der KGB (aus der Tscheka gingen 1922 die GPU, 1924 der NKWD und 1954 der KGB hervor) heute in allen gesellschaftlichen Bereichen spielt - insbesondere in der Psychiatrie.

STALINS STRAFLAGER

Die "Tscheka", die erste Geheimpolizei der Sowjet-union, wurde ermächtigt, "Staatsfeinde" nach eigenen Ermessen und ohne die Einschaltung von Gerichten zu verur-teilen und hinzurichten. Das taten die Geheim-polizisten unter Josef Stalin (1878-1953) millionenfach. Wer in die Straflager verbannt wurde, hatte fast keine Chance, lebend herauszukommen - und das war Ab-sicht. Die Sklavenarbeit und die miserable Verpflegung sollten die Häftlinge physisch vernichten.

So aberwitzig es heute klingt, in jenen Jahren waren die Psychiater oft Lebensretter für die verhassten Regime-kritiker, wenn sie ihnen Schwachsinn attestierten und sie in ein Irrenhaus sperren ließen. In Asan, der einzigen psychiatrischen Sonderklinik, 600 Kilometer östlich von Moskau, waren die Abweichler sicher vor den Schergen des Geheimdienstes.

BÜRGERLICHES SANATORIUM

Über die Einweisung von Kranken entschieden wie heute die "Serbskij"-Psychiater. Das Institut wurde 1921 gegründet, um "die Rechte von geistesgestörten Per-sonen zu schützen, die unfreiwillig Handlungen be-gehen könnten, die für die Gesellschaft gefährlich sind". Das Institut trägt den Namen von Professor Wladimir Serbskij, einem der ersten und fortschrittlichen Psychiater in Russland. Er war einer der Wegbereiter der Oktober-Revolution. Unerschrocken geißelte er die soziale Rückständigkeit im Zarenreich, und er gab auch nicht auf, als ihm die Regierung daraufhin die Aus-übung des Arztberufes verbot. Nach 1917 arbeitete Professor Serbskij als Begründer der "Forensischen Psychiatrie" in Moskau, hauptsächlich widmete er sich der Nationalen Gesellschaft der Psychiater.

In Archiven fand ich die Beschreibung des Dichters Naum Korschawin , der 1948 einige Monate als Patient im "Serbskij"-Institut war. Korschawin schilderte - ich traute meinen Augen nicht - das Institut als repres-sionsfreie Idylle. Er konnte lesen, was er wollte, kein Mensch interessierte sich für die Gedichte, die er schrieb, und die Ärzte verhielten sich so unauffällig, dass er sie kaum wahrnahm.

GEHORSAMER ARZT

Doch noch im selben Jahr kam eine Wende. Übereifrige Geheimdienstler machten die Partei "auf das Wider-standsnest in der Kropotkin-Gasse" aufmerksam. Eine eiligst eingesetzte Kommission unter Führung des Parteifunktionärs R. S. Zemgatschka inspizierte das Institut. Ihr Urteil: "Aus dem 'Serbskij'-Institut, das einst die Hoffnung unserer Partei war, ist ein bürger-liches Sanatorium geworden." Ihr Vorschlag: "Die Schrauben müssen wieder angezogen werden. Ein linientreuer Arzt muss die Verhältnisse in Ordnung bringen und der Partei regelmäßig Bericht erstatten."

PARTEITREUE SÄUBERUNGEN

Der Mann, den die KPdSU für diese Aufgabe auswählte, hieß Daniil R. Lunz. Der ehrgeizige Jungpsychiater hatte mit seiner Familie gebrochen, weil er mit Hilfe der Partei Karriere machen wollte, der er schon zu dieser Zeit ergeben diente. Sein Vater, ein angesehener Kinder-arzt, und seine Mutter, Professorin am Moskauer Konservatorium, waren Juden. Sie konnten nicht be-greifen, warum ihr Sohn es mit den Bolschewiki hielt.

Daniil R. Lunz hatte ein ausgeprägtes Gespür für brisante politische Entwicklungen. 1951 setzte die erste antisemitische Säuberungswelle an Universitäten, Schulen und Krankenhäusern ein. Nur wenige Juden überstanden diese Kampagne unbeschadet. Einer von ihnen war Daniil R. Lunz.

UNABHÄNGIGE ÄRZTE NACH SIBIRIEN VERBANNT

Nach Stalins Tod 1953 waren Professor Lunz und seine Psychiater von der Abteilung gefragter denn je. Nikita Chruschtschow (1894-1971) hat zwar den Massen-morden ein Ende gesetzt , aber auch er konnte sich keine politische Opposition erlauben. Gesucht wurde ele-gantere Lösungen, die keinen Spektakel verursachten, geheim ge-halten werden konnten und nach außen glaubwürdig erschienen. Damals wurde, meiner Mei-nung nach, die Verbannung politisch Anders-denkender in Irrenanstalten systematisch zur Perfektion entwickelt.

Die wissenschaftliche Vorarbeit für diese Praxis hatte der Professor Andrej W. Snjeschnweskij, zu jener Zeit Direktor des "Serbskij"-Instituts geleistet. Er machte radikal und unerbittlich gegen jeden Front, der sich seiner Meinung nicht anschloss, Anfang der fünfziger Jahre brach bereits ein Grabenkrieg zwischen den sowjetischen Psychiatern aus. Wer eine andere Auf-fassung hatte und sich der Snjeschnweskij-Schule nicht unterwerfen wollte, wurde fristlos entlassen. So prominente und bei Kollegen im Westen geschätzte Ärzte wie Gurewitsch, Epstein, Schamarjant und Gorlant verbannte die Partei über Nacht nach Sibirien.

ANREGEGUNGEN VON NAZI-ÄRZTEN

Professor Snjeschnewskij wurde berühmt durch die Definition der "schleichenden Schizophrenie", für die sich später Professor Lunz so stark engagierte. Deutsche Ärzte aus der Nazi-Zeit wie Rainer Rüdiger und Her-mann Paul Nietzsche hatten wichtige Anregungen für diese Theorie geliefert. Die schleichende Schizophrenie, so die Theorie von Professor Snjeschnewskij, ist bereits zu attestieren, bei "unrealistischen Ideen, den Sozia-lismus zu reformieren" oder bei "der Überschätzung der eigenen Bedeutung" - "Für die Umwelt kann der Patient dabei völlig gesund erscheinen", bemerkte Snjesch-newskij zynisch.


Denn die Diagnose "schleichende Bewusstseins-spaltung " verzichtet auf die Feststellung klassischer Symptome wie Halluzination und Wahnvorstellungen.

ABSURDE THESE - 1,9 MILLIONEN RUSSEN GEISTESKRANK

Nach marxistischer Lehre sind Verbrechen in einem sozialistischen System undenk-bar, weil es keine sozialen Gründe für kriminelle Handlungen gibt. Sie sind daher nur auf erbliche Anlagen zurückzuführen. Das heißt für sowjetische Psychiater im Klar-text: Auch bei Trunksucht, Renitenz, Diebstahl und Mord werden von vornherein Erbfehler unterstellt und infolgedessen eine unheilbare Geisteskrankheit konstatiert. - Eine Gummiband-Interpretation, die viele Regimekritikern zum Verhängnis wurde und wird.

Was Snjeschnewskijs Theorie in der Praxis für den Dissidenten, also den politisch Andersdenkenden, bedeutet, habe ich an der Universität und in meinen ersten Berufsjahren nicht begriffen. Seine Lehrmeinung erschien allen Studenten wissenschaftlich fundiert nd auf dem neuesten Stand der Entwicklung. Kein Mensch dachte daran, sie anzuzweifeln. Erst ein Aufsatz in einer britischen Fachzeitschrift stimmte mich nachdenklich.

DOPPELT SO VIELE FÄLLE WIE IN ENGLAND

Wo der Begriff der Schizophrenie derart weit gefasst wird, kann es kein Wunder sein, dass der Londoner Psychiater J.K. Wing in der Zeitschrift "Britisch Medical Journal" feststellte: In der Sowjetunion gebe es prozen-tual doppelt so viele Geisteskranke wie in Eng-land. Nach Snjeschnewskijs Definition müssten 1,9 Millionen Sowjetbürger unter Bewusstseinsspaltung leiden - das sind mehr, als etwa Hamburg Einwohner hat.

BILDERBUCH-KARRIERE

Eine absurde These. Doch sie war die Grundlage für Snjeschnewskijs Karriere Der "Serbskij"-Direktor wurde in kurzen Abständen alles, was er werden wollte: Leiter der Abteilung für klinische Medizin an der Moskauer Akademie der medizinischen Wissenschaften, dann Direktor des Forschungsinstituts der Akademie. Als Akade-miemitglied vertrat er die Sowjetunion in inter-nationalen Gremien. Er wurde Ehrenmitglied der Psychiatrischen Weltvereinigung sowie des amerika-nischen und des britischen Psychiaterverbandes.

War Andrej W. Snjeschneswkij in der Sowjetunion rigoros und kompromisslos, bei Internationalen Konferenzen zeigte er sich flexibel. Als vor dem Weltkongress der Psychiatrie 1971 in Mexiko City die westliche Kritik an den psychiatrischen Miss-ständen in der UdSSR immer heftiger wurde, setzt er sich per-sönlich im Kreml dafür ein, den Dissidenten Schores Medwedjew aus dem Irrenhaus in Kaluga zu entlassen und ihm die Ausreise nach England zu ge-statten. Die Taktik zahlte sich zunächst aus. Die westlichen Kollegen beruhigten sich wieder, der Weltverband verzichtete auf eine öffentliche Rüge.

ANGST, DEN RUF ZU VERLIEREN

"So eine Diagnose wie bei Medwedjew darf nicht noch einmal vorkommen", sagte Professor Snjeschneswkij bei einer internen Beratung im "Serbskij"-Institut, an der auch ich teilnahm. "Das war ein glatter Kunstfehler." Was er plötzlich als Kunstfehler bezeichnete, entsprach in Wirklichkeit der von ihm eingeübten Praxis im Um-gang mit Dissidenten. Was für eine vordergründige Dialektik, dachte ich. Der hat doch nur Angst, seinen internationalen Ruf zu verlieren.

Zu dieser Zeit existierten in der UdSSR bereits zwölf Sonderkliniken für politische Fälle: Kasan, das erste derartige Hospital, war schon in den dreißiger Jahren entstanden. Sytschjowka bei Smolensk, ein Kranken-haus aus dem 18 Jahrhundert, wurde Ende der vierziger Jahre für psychiatrische Fälle eingerichtet. Die Arsenal-naja-Klinik in Leningrad bis zur Oktober-revolution ein Frauengefängnis, kam Anfang 1950 dazu.

KLINIKEN ÜBER KLINIKEN

Mehr als ein Jahrzehnt später billigte das Politbüro der KPdSU sechs weitere psychiatrische Sonderkliniken: 1965 das Krankenhaus in Tschernjachowsk (Inster-burg), früher ein deutsches Gefängnis, 1966 Minsk in Weiß-russland, 1968 Dnejpropetrowsk in der Ukraine, 1971 die Anstalt Orel, südwestlich von Moskau, 1972 Blagowjeschtschensk am Amurfluss sowie Orda in Kasachstan. Die neuesten Sonderkliniken sind 1973 und 1974 in Taschkent, Alma-Ata und Perm eingerichtet worden.

Obwohl er selbst den Ausbau der psychiatrischen Kliniken überwachte, behauptete Snjeschneskij un-geniert: "In den 50 Jahren meiner Tätigkeit im sowje-tischen Ge-sundheitswesen ist mir kein Fall be-kannt geworden, dass ein gesunder Mensch in einer psychiatrischen Anstalt interniert wurde." Und die KP-Chefs Chruschtschow und Breschnew behaupteten, politische Gefangene gebe es in der Sowjetunion nicht. Kein Mensch werde in der UdSSR wegen seiner Reli-gionszugehörigkeit , wegen seines Bekenntnisses zu der nationalen Zugehörigkeit oder wegen seiner politischen Einstellung verfolgt. Und immer wieder beteuerten sie, der KGB habe nichts mit der Medizin, nichts mit der Psychiatrie zu tun.

Die KP-Chefs wussten, dass sie logen. Ich kann es beweisen. Allein in der berüchtigten sogenannten vierten Abteilung des "Serbskij"-Instituts, also der Sektion für die "Politischen", gibt es mindestens drei Ärzte, die KGB-Verbindungen haben: Frau Dr. Margarita F. Taltse, die seit dem Tod von Professor Lunz die Abteilung vier leitet, ist seit 20 Jahren mit einem hohen KGB-Offizier verheiratet. Ihr Stellver-treter, Dr. Jakow I. Landau, ist fast so häufig in der Moskauer KGB-Zentrale am Dserschinskij-Platz, wo er ein eigenes Zimmer hat, wie im "Serkskij"-Institut. Oberarzt Genadij N. Miljochin, Sohn eines hoch-dekorierten KGB-Funktionärs, arbeitet auch für den Geheimdienst - derzeit als Generalmajor.

"ERFOLGSBILANZ"

Wer sich die "Erfolgsbilanz" der vierten Abteilung ansieht, die Bukowski, Pljuschtsch, Grigorenko, Fainberg und all die anderen in den Kliniken ohne Wiederkehr, auf die Friedhöfe des verlorenen Verstandes, geschickt hat, muss zugegeben: Die Ärzte haben für ihre Auftraggeber ganze Arbeit geleistet.