Donnerstag, 30. März 1978

Sowjetunion: Wer verrückt ist, bestimmt die Partei - Teil (2)



















stern,
Hamburg
30. März 1978
aufgezeichnet von
Erich Follath und
Reimar Oltmanns

Dr. Jouri Novikov ist der erste führende Psychiater der Sowjetunion, dem die Flucht in den Westen gelang. Er was dabei, als seine Kollegen Bürgerrechtler in Irrenhäuser verbannten. Er erlebte jahrelang aus nächster Nähe, was im Auftrag der Partei und auf Befehl des Geheimdienstes KGB hinter den Mauern der berüchtigten Sonderkliniken geschieht.

Ich habe mich oft gefragt, wie meine Kollegen im "Serbskij"-Institut meine Flucht in den Westen erklären würden. Zunächst wird mein Verschwinden auf Unverständnis gestoßen sein - insbesondere bei den jüngeren Ärzten. Für sie war ich ein Karriere-Vorbild, eine Art Musterschüler des Institutsdirektors Morosow. Mit 27 Jahren kam ich als junger Assistenzarzt zum Serbskij-Institut, drei Jahre später promovierte ich zum Dr. med. Wenige Monate darauf stieg ich zum Oberarzt auf und leitete schon mit 32 Jahren eine der sechs Abteilungen dieser Klinik.

LINIENTREUER ARZT

Auch meine Abteilungsleiter-Kollegen, die fast alle zwanzig Jahre älter als ich waren, werden so schnell keine plausible Antwort auf meine Flucht gefunden haben. Für sie war ich immer - darin bestand kein Zweifel - ein linientreuer Arzt, der die sowjetische Variante der Psychiatrie überzeugend vertrat, der noch in seiner Freizeit marxistisch-leninistische Seminare an der Universität belegte, der als Geschäftsführer des sow-jetischen Allunionsverbandes für Psychiatrie und Neurologie eine wichtige Funktion hatte.

Mit allem hätten meine Kollegen wahrscheinlich gerechnet - Universitätslaufbahn, Übernahme einer eigenen Klinik, Versetzung ins Gesundheitsministerium - nur mit einem nicht: mit meiner Flucht.

Auf ihre Ratlosigkeit werden die "Serbskij"-Ärzte nur eine medizinische Antwort gefunden haben. Genauso schnell wie bei den politischen Dissidenten Wladimir Bukowski, Leonid Pljuschtsch und Piotr Grigorenko wären sie dabei, mit Geisteskrankheit zu bescheinigen. Könnten sie mich heute untersuchen, dann würde das Krankheitsbild des "Patienten" Dr. med. Jouri Novikov, so aussehen:

"KRANKHEITS-BILD" DES DR. MED. NOVIKOV

"Kann sich gut an Kindheitserlebnisse erinnern (exaktes Gedächtnis ist bei Schizophrenie besonders ausgeprägt). Nach Aussagen seiner Eltern ist er sehr begabt, hat aber extreme Kontaktschwächen gegenüber Gleichaltrigen ( autistische Tendenzen). Gute Schulleistungen, aber schwache Elternbindung und frühzeitige Selbstständigkeit (pseudonormale Pubertätskrise). Rasche Entwick-lung des Geschlechtstriebes (jugendliche Promiskuität).

"Exzellente Leistungen als Student und besonderes Interesse für weltfremde Bücher und Schriftsteller wie Ionesco, Beckett und Kafka (erste Symptome für Ver-änderung von Denkvorgängen).

WELTFREMDE BÜCHER

"Fängt an, selbst Theaterstücke zu schreiben. Ehe-schließung mit Ausländerin (DDR), besonderes Interesse für Psychiatrie, gleichzeitig Versuch, den Beruf zu wechseln. Dabei von Kommilitonen weitgehend isoliert (starke soziale Instabilität, Vertiefung der autistischen Tendenzen). Gegenüber Mitarbeitern des "Serbskij"-Instituts verschlossen. Nach Mitteilung des Staats-sicherheitsdienstes KGB mangelndes politisches Engage-ment (starker Negativismus gegenüber der Realität). Bewusste Karriere-Entwicklung, dabei aber auffallendes Desinteresse für pragmatische Seiten des Lebens. Lebt trotz hoher Einkünfte mit seiner zweiten Frau in einer Kommunal-wohnung und teilt sich mit zwölf Menschen ein Bad.

FLUCHT AUS DER REALITÄT

"Weitere Entwicklung: Setzt sich bei seiner ersten Auslandsreise im Juni 1977 von Helsinki in den Westen ab.

Psychischer Befund: Es besteht - gemäß der anam-nestischen Daten - ein pathologischer (psychotischer) Drang aus der Realität zu flüchten.

Diagnose: Pseudopsychopathische Schizophrenie. Wegen Überschätzung der eigenen Person, mangelnder Anpassungsfähigkeit an die Umwelt und sozialer Ge-fährlichkeit für Staat und Gesellschaft wird die Ein-weisung in die psychiatrische Sonderklinik Dnje-propetrowsk empfohlen.

Gezeichnet: Professor Dr. med. habil. Georgij Wassiljewitsch Morosow. Direktor des 'Serbskij'-Instituts, Mitglied der Akademie der Medizinischen Wissenschaften."

FOLGENSCHWERE SPRACHFLOSKELN

So und nicht anders würden mich meine ehemaligen Kollegen begutachten, und so würde mich mein früherer Chef, Professor Morosow, als Geisteskranken hinter den Anstaltsmauern verschwinden lassen - wenn sie mich heute in der Sowjetunion zu fassen kriegten. Ich weiß, wie man solche Gutachten formuliert. Ich habe sechs Jahre im "Serbskij"-Institut für Gerichtspsychiatrie in Moskau gearbeitet und mehr als 200 Diagnosen gestellt. Ich kenne die Sprachfloskeln auswendig. Mit der Begutachtung politischer Fälle hatte ich dagegen nie etwas zu tun. Lange wusste ich nicht einmal, dass es in dem Institut eine Abteilung 4 gibt, die nur dazu da ist, politisch Anders-denkende iim Auftrag des KGB als Irre abzustempeln.

MOSKAU - WELTOFFENE STADT

Als ich im Winter 1971 im "Serbskij"-Institut als Assistenzarzt anfing, war ich optimistisch: Meine niederdrückenden Erlebnisse als Praktikant n der verrotteten Krankenhaus-Baracke von Leningrad hatte ich überwunden, meinen gescheiterten Ausbruch in die DDR und meine erste Ehe hatte ich verdrängt. Moskau war eine Stadt, die mir weltoffen schien und die mich faszinierte. Hier glaubte ich, den Platz gefunden zu haben, wo ich meinen Doktor machen und mich auf eine Universitäts-laufbahn vorbereiten konnte - unbehelligt von Partei und Politik.

Meine zweite Frau Galina hatte ich es zu verdanken, dass ich in Moskau so schnell Fuß fasste, Wir hatten uns im Herbst 1970 bei Bekannten in Leningrad kennenge-lernt. Bereits Anfang 1971 heirateten wir und mieteten uns eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung am Standrand von Moskau. Galina arbeitete als Französischlehrerin an einem Gymnasium. Auf einer Feier in Moskau lernten wir einen Oberarzt aus dem "Serbskij"-Institut kennen, der mich bei Professor Morosow empfahl.

Das "Serbskij"-Institut liegt on der Kropotkin-Gasse 23, einer schmalen Straße im Zentrum von Moskau. Der finstere Gebäudekomplex überragt die anderen Häuser des Viertels. Eine drei Meter hohe, graugelbe Mauer riegelt die Klinik hermetisch von der Außenwelt ab.

Es war ein nasskalter Januarmorgen, an dem ich zum ersten Mal die Kropotkin-Gasse entlangging. Einen Moment dachte ich, ich hätte mich verirrt. Auf einem Hof sah ich Kinder laut lachen und Fangen spielen. Unmittelbar neben dem "Serbskij"-Institut liegt eine internationale Schule, in der Töchter und Söhne von aus-
ländischen Diplomaten unterrichtet werden.

Und noch etwas fiel mir bei meinem ersten Gang durch die Kropotkin-Gasse auf. Zwei Limousinen mit ver-gitterten Fenstern, die wir im Volksmund schwarze Raben nennen. Autos mit KGB-Nummern. Das schwere massiv-eiserne Tor zum Hospital öffnete sich. Die Wagen passierten.

KLINIK - TRUTZBURG DES MITTELALTERS

"Serbskij" gleicht eher einer mittelalterlichen Trutzburg als einer Klinik. Das Gebäude steht, wie meine Kollegen mit später erzählten, auf dem Gelände, das im 16. Jahr-hundert Iwan dem Schrecklichen als Richtplatz diente. Hier ließ er seine Gegner reihenweise beseitigen.

Ein bewaffneter Feldwebel in Uniform des Innen-ministeriums - ich erinnere mich noch, dass er ein blaues Band an seiner Mütze hatte - fragte mich un-wirsch nach meinem Ausweis, und zu wem ich denn eigentlich wollte. Ich sagte, zu Professor Freierow. Weil ich noch keine Klinik-Karte hatte, musste mich der Professor pesönlich abholen. Wir gingen über einen kleinen Vorhof, ließen auf der linken Seite den Ver-waltungstrakt liegen und betraten dann das Hauptge-bäude, dessen Fenster mit Panzerglas geschützt sind. Auf den Fluren musste schon seit Wochen nicht mehr sauber gemacht worden sein. Spinnweben hingen in den Fensterkreuzen. In der Eingangshalle stand ein alter Nussbaumtisch, das Polster der Besuchersessel war zerschlissen.

"STALINS ERBEN"

Im Arbeitszimmer meines neuen Chefs sah es nicht viel besser aus als sonst in der Klinik. Sein Büro war über-raschend klein. Das mit beigem Kunstleder bezogene Sofa war abgewetzt, der Linoleumboden stumpf. An der schmutzig grauen Kalkwand hing ein Bild von Iwan P. Pawlow, dem Vater der russischen Physiologie. Rechts daneben stand im Bücherbord neben psychiatrischer Fachliteratur ein Band mit dem Titel "Stalins Erben". Der Wasserhahn über dem vergilbten Waschbecken tropfte.

Professor Oskar Jewgenijewitsch Freierow, Ab-teilungsleiter der 6. Klinischen Station, war ein grauhaariger Mittsechziger, der Ruhe und Besonnenheit ausstrahlte, "Wenn Sie Menschen helfen wollen, sind Sie hier richtig", sagte er. "Denn wir sind die einzigen, die psychisch Kranke von der Strafverfolgung befreien können." Später habe ich mich oft gefragt, ob das zynisch gemeint war.

KUR VON DER TRUNKSUCHT

Nur einmal sah ich Professor Freierow seine Ruhe verlieren: an einem Mittwoch im Juni 1973. Ich war gerade ins Institut gekommen und hatte meine Sachen in mein Fach gelegt. Da hörte ich Freierow im Neben-zimmer toben. Erregt stampfte er mit dem Fuß auf. Dann stand er plötzlich in der Tür und winkte mich zu sich herein. "Schauen Sie sich das an", schrie er mit hochrotem Kopf und zeigte auf ein tropfendes Rinnsal an der Decke.

"Schon wieder ein Wasserrohrbruch?" fragte ich.

EIN MINISTER - BRESCHNEWS SOHN

"Ach was! Das ist der Urin von dem Breschnew-Sohn! Seit 30 Jahren bin ich jetzt hier und habe noch nie eine eigene Toilette gehabt. Seit 30 Jahren lässt die Partei dieses Institut verkommen und gibt uns nicht einmal das Geld für die nötigsten sanitären Anlagen. Und für so einen dahergelaufenen Alkoholiker wird plötzlich eine Privatstation eingerichtet."

Zwei Tage hatte es nur gedauert, bis eine Baubrigade aus dem Bibliotheksraum im dritten Stock ein komfortables Krankenzimmer hergerichtet hatte mit Bad und Einbauschränken und mit einer Toilette, die von Anfang an defekt war. Die Bücher wurden in den Keller geschafft. die Bibliothekarin bekam Urlaub, und die Doktoranden sollten zu Hause arbeiten. Und das alles für den 40jährigen späteren Vize-Außenhandels-Minister Jurij Breschnew. Der Sohn des allmächtigen KP-Chefs Leonid Breschnjew (1906-1982) )musste sich in der Abgeschiedenheit des "Serbskij"-Instituts einer dreiwöchigen Kur unterziehen. Durch seine Trunksucht hatte er sogar schon im Ausland Aufsehen erregt.

ÄRZTE-STAB FÜR SOHNEMANN

Ein ganzer Stab von Ärzten stand ständig zur Ver-fügung, drei Krankenschwestern betreuten ihn rund um die Uhr. Sie hatten alle strikte Anweisung, den Namen ihres prominenten Patienten geheim zu halten und ihn vor den Blicken des Personals abzuschirmen. Für einen Moment beobachtete ich ihn einmal auf dem Hof und dachte: Das kann doch wohl nicht sein - jetzt ist es schon so weit, dass wir den Genossen Generalsekretär be-handeln müssen. Sohn Jurij sieht seinem Vater verblüffend ähnlich.

Die Sonderaktion für Breschnew junior war aber auch die einzige bauliche Er-neuerung, die während meiner sechs Jahre im "Serbskij"-Institut vorgenommen wurde. Man kann sich kaum vorstellen, unter welchen Verhält-nissen wir arbeiten mussten. Ich teilte mir mit zehn Kollegen ein etwas vierzig Quadratmeter großes Zimmer, in dem wir nicht nur unsere Schreibarbeiten erledigen, sondern auch unsere Patienten zu unter-suchen hatten. Sekretärinnen hatten wir keine, die Berichte schrieben wir selber. In einem Klassenzimmer hätte es nicht disziplinierter zugehen können, und wie in einem Klassenzimmer verhielten wir uns immer, wenn der Professor den Raum betrat, standen wir auf. Und wenn einer von uns morgens später kam als zehn Uhr wurde sein Name auf einer Liste notiert, die der Professor bei der Institutsversammlung vor allen Kollegen verlas.

In dieser räumlichen Enge war eine gründliche Unter-suchung so gut wie unmöglich. Wie sollte auch ein vernünftiges Gespräch zustande kommen, wenn zehn Psychiater mit zehn Kranken so dich zusammenhocken? Oft kam ich deshalb morgens schon ein oder zwei Stunden früher, um mich in Ruhe mit besonders komplizierten Patienten unterhalten zu können. Tagsüber stellte ich manchmal meine Fragen an die Patienten auf dem schmalen Flur, wohin ich mir aus dem Arbeitszimmer einen Schemel mitnahm. Der einzige freie Fleck auf dem Gang war keine zwei Meter von der Toilette entfernt. Es war ein ständiges Kommen und Gehen. Jeder, der mussten, griff sich eine "Prawda" vom Zeitungsstapel neben der Toilettentür: denn Papier ist knapp und teuer in der Sowjetunion.

PAMIR-ZEIT

In der Nachmittagsstunde zwischen drei und vier Uhr wurden wir eingenebelt. Denn war "Pamir-Zeit", für viele der Höhepunkt des Tages. Der Dunst der billigsten russischen Zigarettenmarken zog über den Gang. Ich habe es nie verstanden, warum die Kranken am Tag nur eine Stunde und dann ausgerechnet nur vor dem Klo rauchen durften.

Die meisten meiner Patienten waren Diebe oder kleine Gauner, aber auch Schwerverbrecher und Mörder waren dabei: Ihr abnormes Verhalten bei der Tat oder während des Prozesses hatte Richter, Staatsanwälte oder Verteidiger aufmerksam gemacht. Sie schalteten unser Institut, die höchste psychiatrische Instanz in der UdSSR, ein und wollten ein Gutachten. Rechtliche Grundlage ihres Vorgehens ist das Strafgesetz der Russischen Föderativen SSR. Im Artikel 11 heißt es: "Eine Person soll sich nicht mehr für ihre Straftat verantworten müssen, wenn sie eine sozial gefährliche Handlung im Zustand der Unzurechnungsfähigkeit begangen hat."

Allein die Beurteilung des "Serbskij"-Instituts ent-scheidet darüber, ob der Straftäter als "Schuld-fähiger" im Arbeitslager landet oder ob er als Geisteskranker für "schuld-unfähig" erklärt wird. Die "Serbskij"-Psychiater haben zwei Möglichkeiten, wenn sie sich für schuldunfähig entscheiden: Sie können ihre Patienten entweder in ein "einfaches" psychiatrisches Hospital oder in eine Sonderklinik einwiesen. Wer nach ärztlicher Meinung absolut unheilbar ist - und dazu gehören oft auch die "für die Gesellschaft besonders gefährlichen Regimekritiker" -, wandert auf unbestimmte Zeit in eine der zwölf Sonderkliniken. Bewaffnete Wachen, meterhohe Mauern schirmen diese Sonderkliniken von der Außenwelt ab.

SCHWARZ-WEISS-RASTER

Das Dilemma: Unsere Gesetze kennen nur ein Schwarz-Weiß-Raster. Die Psychiater können nicht auf "ver-minderte Schuldfähigkeit" plädieren, wie das ihre Kollegen im Westen tun. Mir ist klar, dass die Grenzen zwischen Geisteskrankheit und voller Zurechnungs-fähigkeit fließend sind.

Nach maximal 35 Tagen muss ein Gutachten fertig sein. Ausnahmen behält sich die sowjetische Bürokratie vor. Die 35 Tage können auf Antrag der Ärzte vom Innen-ministerium - und damit vom KGB - beliebig verlängert werden.

NUR EIN BRUCHTEIL DER PARTEI-WILLKÜR

Kaum in einem anderen Land klaffen, meiner Meinung Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit so weit auseinander wie in der UdSSR. - Strafgesetzbuch-Paragrafen, die dem Land nach außen hin den Anschein von Rechtsstaatlichkeit geben, werden Tag für Tag von Staatsorganen gebrochen. Die über prominente Dissidenten erstellten Gutachten, die im Westen veröffentlicht worden sind, bilden nur einen Bruchteil der Partei-Willkür. Es sind gerade die Alltagsfälle, an denen sich die Abhängigkeit der Psychiater von der Staatsmacht zeigen: Mediziner als Erfüllungsgehilfen der Politik.

Das Schicksal des 20jährigen Igor Bokow ist mir sehr nahegegangen. Der Zimmer-mannsgehilfe hatte den Sohn des Parteisekretärs in der ukrainischen Hauptstadt Kiew erstochen. Es war eine Eifersuchtstat. Der Sohn des Parteisekretärs hatte Bukow sein Mädchen ausgespannt.

LATENTE SCHIZOPHRENIE

Bei der ersten Gerichtsverhandlung redete Bokow so zusammenhanglos daher, dass sein Verteidiger ein psychiatrisches Gutachten anforderte. Verblüffend schnell kamen die lokalen Psychiater zu der Diagnose: kerngesund und schuldfähig. Der Fall landete auf meinem Schreibtisch, weil dem Verteidiger die Exploration meiner Kollegen in Kiew zu oberflächlich erschien. Er forderte ein Zweitgutachten vom "Serbskij"-Institut an.

Wir untersuchten Igor Bokow in Moskau gründlich. Kein Zweifel: Bokow litt unter einer latenten Schizophrenie. Es war geradezu ein klassischer Fall für Schuldunfähig-keit. Wir hatten unsere Gutachten schon getippt, als uns Instituts-Chef Professor Morosow in sein Zimmer bestellte und eine erneute Untersuchung des Patienten anordnete. Wir waren ziemlich überrascht, denn für uns alle war die Diagnose klar.

Als ich einen Tag später im Moskauer Gesundheits-ministerium etwas zu erledigen hatte, wurden mir die Zusammenhänge durch einen Zufall klar. Auf dem Schreib-tisch der Referentin für Psychiatrie, Frau Dr. Zoja Serebrejakowa, sah ich einen Brief vom Vater des Ermordeten liegen. Der Parteisekretär aus Kiew protestierte in diesem Schreiben schärfstens dagegen, dass der Täter ohne Strafe davonkommen sollte. Bokow sei nie und nimmer ein Geisteskranker. Einen Durchschlag seines Briefes hatte er auch an das Zentralkomitee der KPdSU geschickt. Dessen ungeachtet kamen meine Kollegen aus einer anderen "Serbskij"-Ab-teilung, die von der Intervention nichts wussten, zum selben Ergebnis wie wir.

KEINE CHANCE AUF NORMALES LEBEN

Drei Monate später rief mich ein Kiewer Richter an, der über den Fall entscheiden sollte. Wir kannten uns von früher. Er schilderte mir seine verzwickte Lage: "Was soll ich nur machen, die Partei setzt mich unter Druck, den Jungen ins Arbeitslager zu schicken, und Ihre Gutachten stehen dagegen. Am besten Sie kommen noch einmal hierher und untersuchen den Täter im Beisein des Gerichts."

SONDERKLINIKEN SCHLIMMER ALS ARBEITSLAGER

Mir blieb nichts anderes übrig, ich fuhr nach Kiew und plädierte für die Einweisung in eine normale psychia-rische Klinik. Das Urteil war fatal. Der Richter versuchte es allen recht zu machen - den Medizinern und dem Parteisekretär, der Rache suchte. Er schickte Bokow in eine Sonderklinik. Diese Sonderkliniken sind schlimmer als Arbeitslager. Den Insassen wird medizinisch nicht mehr geholfen, sie werden nur noch mit Beruhigungs-mitteln betäubt. Im Gegensatz zum Arbeitslager ist die Internierung in der Sonderklinik oft unbefristet: die Patienten haben kaum eine Chance, ins normales Leben zurückzukehren.

IM EILVERFAHREN DURCHGEPAUKT

Es kam selten vor, dass sich "Serbskij"-Psychiater den "Empfehlungen" der Partei-Oberen widersetzten. Das Schicksal des Patienten entschied sich jeweils zwischen 10 und 15 Uhr. Dann tagte die große Kommission, die aus dem vortragenden Oberarzt, dem leitenden Professor und den Kollegen der Abteilungen bestand. Einvernehm-lichkeit war das Gebot der Stunde. Im Eilverfahren wurden die Fälle durch-gepaukt, manchmal in ein paar Minuten.

Als Professor Freierow einmal bei einer meiner Diag-nosen völlig anderer Meinung war als ich, ließ er den Patienten in den Sitzungsraum holen: "Guten Tag, wie geht es Ihnen heute?" Und: "Welchen Tag haben wir eigentlich?" Zwei absolut belanglose Fragen, die der Patient völlig korrekt beantwortete. Ich fragte mich, welchen Auf-schluss dieses kurzes Fragespiel über den geistigen Zustand dieses Kranken geben sollte. Doch Freierow belehrte mich: "Wenn Sie dreißig Jahre hier wären, würden Sie auch begreifen, dass dieser Mann unheilbar paranoid ist. Aber bitte, wenn Sie anderer Ansicht sind, brauchen Sie das Gutachten ja nicht zu unterschreiben!"

KEINE UNTERSCHRIFT UNTER "GUTACHTEN"

Das tat ich auch nicht. Denn für mich litt der Kranke nur unter vorübergehenden psychotischen Zuständen. An meiner Stelle unterschrieb ein Kollege, der gar nichts mit dem Fall zu tun hatte: Abweichende Meinungen zu einem Gutachten sind in der Sowjetunion witzlos. Professor Danill R. Lunz, Leiter der vierten Abteilung des "Serbskij"-Instituts, hatte für solche Fälle den Spruch parat: "Wenn ich sage, jemand ist schizophren, dann ist er es - oder wollen Sie meine Berufserfahrung anzweifeln?"

Eine Wochen später kam der Kollege, der für mich das strittige Gutachten unter-schrieben hatte, kleinlaut zu mir. Er sollte als Gutachter vor Gericht erscheinen und seine "Diagnose" den Richtern erläutern. Dabei wusste er noch nicht einmal den Namen des Patienten. Verleger bat er mich um die Akten.

OHNE SELBSTZENSUR NUR NACHTEILE

Ein zweites Mal wagte ich es nicht, die Unterschrift zu verweigern. Ob das Gutachten stimmte oder nicht, das war für mich nicht mehr ausschlaggebend. Die Nachteile, die sich aus abweichenden Meinungen ergaben, waren viel gravierender: Freierow, der schließlich mein Doktorvater war, ließ mich wochenlang links liegen. Ich kam mit meiner Arbeit nicht voran, und meine Kollegen begannen ungeniert, an meiner Qualifikation als Arzt zu zweifeln. Kein junger Kollege, der etwas werden will, kann sich in diesem System der Selbstzensur entziehen.

AUF ETAGEN EIN FELDWEBEL

Aber auch die Professoren hatten in der Klinik nur eine begrenzte Macht. Die wahren Herren des "Serbskij" sind die Offiziere aus dem Innenministerium. Bewaffnete Soldaten kontrollieren das Institut.

Auf jedem Stockwerk sitzt ein Feldwebel, dessen Dienst-zimmer größer und kom-fortabler ist als die Professoren-räume. Die unteren Dienstgrade bewachen Tag und Nacht die Zellen der Patienten.

SCHLÄGEREIEN

Und wie sie die Insassen bewachen! Oft kommt es zu Schlägereien. Als ein Kranker einmal nachts trotz der starken Beruhigungsmittel laut vor sich hinsang, knöpfte sich ein Wärter das hilflose Opfer vor und drosch auf den Patienten ein. Am nächsten Morgen stellte ich fest, dass zwei Rippen gebrochen waren. Ich meldete diesen Fall der Instituts-Leitung. Nichts geschah. Dann sprach ich Professor Feierow noch einmal auf den brutalen Übergriff des Wachmanns an. "Ich weiß von diesem Fall", sagte er. "Und ich finde das genauso verheerend wie Sie. Aber ändern können wir nichts. Den Wärtern ist alles erlaubt. Hauptsache es herrschen im Institut Ruhe und Ordnung."

Spätestens seit diesem Vorfall gab es für mich keinen Zweifel mehr, dass das "Serbskij"-Institut vom Pförtner bis zum Professor, von der Putzfrau bis zum Personal-chef vom Innenministerium kontrolliert wird - und damit auch vom KGB. Es ist schon grotesk: Das Hospital untersteht ausgerechnet den Leuten, deren Hauptaufgabe es ist, für die "innere Sicherheit" der Sowjetunion zu sorgen. Das Gesundheitsministerium, offiziell für "Serbskij" zuständig, hat in Wirklichkeit nichts zu sagen, es darf lediglich die Arbeitsverträge aushändigen.

JEDER KÖNNTE EIN KGB-SPITZEL SEIN

Weil jeder Kollege befürchtet, der andere könnte ein KGB-Spitzel sein, gehen sich die Ärzte aus dem Weg, wo sie nur können. Besonders schlimm war es mit den Kollegen der Abteilung vier. Sie verhielten sich genauso unnahbar wie das Wachpersonal. Mittags in der Kantine traten sie als geschlossene Gruppe zum Essen an, ließen nie einen von uns an ihren Tisch und marschierten nach dem Kaffee gemeinsam wieder auf ihr Stockwerk. Es war unmöglich, mit ihnen ein paar harmlose Worte zu wechseln, ganz zu schweigen von einem Gespräch von Arzt zu Arzt.

Ich merkte bald: Es gab ein Geheimnis um die vierte Abteilung. Und naiv, wie ich in meiner Anfangszeit 1971 im Institut war, fragte ich eines Tages Professor Freierow geradeheraus: "Was machen die eigentlich in der Vierten? Man sieht sie kaum, keiner redet mit ihnen und nie wird dort einer eingeliefert ..."

Freierow unterbrach mich, fasste mich an die Schulter und sagte: "Die vierte Abteilung ist kein Thema für uns." Dann schaute er sich um, ob auch die Tür zu ist und fügte etwas leiser hinzu: "Da sitzen unheilbar Kranke. Leute, die unsere Gesellschaft reformieren wollen."