Mittwoch, 22. Juni 1977

Lettland: Unter roten Zaren von einst - Millionen Häftlinge in Tausenden von Lagern verbannt






















stern, Hamburg
vom 22. Juni 1977
von Erich Follath und
Reimar Oltmanns

Die Szene hätte sich an der Klagemauer in Jerusalem abspielen können: Juden, die im Dritten Reich von Nazis verfolgt wurden, singen alte hebräische Lieder und tanzen im Halbkreis. Ein Rabbi, um den sich eine Menschentraube gebildet hat, fordert an Ort und Stelle ein Mahnmal, das an die Gräueltaten der Nazis erinnern soll.

Doch diese Juden , die sich hier versammelt haben, leben nicht in Jerusalem, ihre Zwangsheimat ist die lettische Hauptstadt Riga, und in Riga ist eine De-monstration nationaler Minderheiten verboten. Polizisten sprengen die friedliche Veranstaltung. Offiziere des sowjetischen Geheimdienstes KGB foto-grafieren die Teilnehmer. Einer von ihnen ist der 55jährige Jacob Raskin. Als der Ingenieur versucht, Polizisten von der Verhaftung des Rabbi abzuhalten, ruft ihm ein Mann zu: "Das werden Sie noch bereuen!"

VERBOTENE DEVISEN

Am nächsten Tag trifft Raskin zufällig einen lang-jährigen Freund in der Kaleju-Straße. Der bittet ihn, da er in Eile sei, doch ein paar Bücher, die er bei sich habe, in die Staatsbibliothek zu bringen. Kaum hat Raskin die Büchertasche in der Hand, treten zwei Männer auf ihn zu. Sie weisen sich als Offi-ziere des "Komitees für Staatssicherheit" aus. In der Tasche, die durchsucht wird, befinden sich 3.000 US-Dollar - in der Sowjet-union verbotene Devisen. Das Urteil für den arglosen Raskin: drei Jahre Arbeitslager ohne Bewährung.

UMERZIEHUNG

Das Arbeitslager OZ 78/7, in dem Raskin interniert wird, liegt zwölf Kilometer östlich von Riga. Es ist eines von rund 1.000 KZs, die sich die Sowjetführung leistet, um ihre Häftlinge "umzuerziehen" - so heißt das offiziell. Im Lager OZ 78/7 trifft Raskin auf den 44jährigen Olafs Bruvers. Der Taxifahrer hatte es gewagt, mit seinen Fahrgästen über Glaubensfreiheit und Menschenrechte zu diskutieren. Das Urteil gegen ihn: sechs Monate ohne Bewährung.

GEFANGENEN-FRIEDHOF

Raskin und Bruvers leben heute im Westen. Ihren Freund Wassilij Ediger ließen sie zurück; auf dem Gefangenen-Friedhof von Riga. Das einzige, das heute an ihn er- innert, ist eine quadratische Grabtafel aus Holz, auf der seine Häftlingsnummer 1214/13 eingeritzt worden ist. Er starb im Herbst 1975 an "Herzversagen". So jedenfalls teilte es die Lagerleitung der Familie mit.

UNTER-ERNÄHRUNG


Tatsächlich litt Ediger an chronischer Unterernährung. Die Steineschlepperei in der Baubrigade hatte er nicht mehr durchgehalten. Ausreichendes Essen gab es nicht, ein Arzt war nicht zur Stelle, als der Ausgemergelte zusammenbrach. Wenige Stunden später war er tot.

Drei Schicksal von 1,2 Millionen. So viele Häftlinge sind in der Sowjetunion unter unwürdigen Bedingungen eingekerkert. Nach Berichten der amerikanischen Regierung , die mit den Recherchen der Gefangenen-Hilfsorganisation amnesty international überein-stimmen, sind davon mehr als 10.000 politische Häftlinge. Ihr einziges "Verbrechen": Sie glauben und denken anders, als es die Partei befiehlt.

ENTSPANNUNGS-FEINDE

Politische Gefangene, die nach ihrer Haft in den Westen ausreisen durften und ihre Augenzeugen-Berichte veröffentlichten, werden in der Sowjetunion als "Lügner und Entspannungsfeinde" diffamiert. Die sowjetische Führung - ob früher Nikita Chruschtschow (1894-1971) oder später Leonid Breschnew (1906-1982) behauptet aber: "In der Sowjetunion gibt es keine politischen Gefangenen."

Auch als im Dezember 1975 ein unter größten Gefahren gedrehter Amateurfilm vom Arbeitslager OZ 78/7 bei Riga im französischen Fernsehen ORTF gesendet wurde und der stern (Nr. 1/1976) die Bilddokumente ver-öffentlichte, erklärte die Sowjetführung: "Der Film ist eine Fälschung." Dieses Dementi nahmen den Moskauer Kommunisten damals nicht einmal ihre französischen Parteigenossen ab. KPF-Chef Georges Marschais (1920-1997) ging bewusst auf Kollisionskurs mit Moskau, als er feststellte: "Diese Tatsachen können dem Sozialismus Schaden zu fügen."

NEUE FILMDOKUMENTE

Wie recht Georg Marschais hat, beweisen neue Film-dokumente, die der stern als erste westliche Zeitschrift veröffentlicht. Sie zeigen das Lager von Riga ein Jahr danach. Wieder gelang es unbekannten Amateur-filmern, sich unter Lebensgefahr an das Lager OZ 78/7 heranzuschleichen und den Alltag der Gefangenen im Bild festzu-halten. Der 16-mm-Streifen wurde von Freunden in den Westen ge-schmuggelt. Der Film beweist: OZ 78/7 ist in den letzten zwölf Monaten zu einem perfekten Konzentrationslager ausgebaut worden.

RHETORIK

Und das in jener Zeit, in der sich die sowjetische Re-gierung auf dem internationalen Parkett mit Ent-spannungs-Rhetorik zu profilieren sucht. Rechtzeitig zur zweiten "Konferenz für Sicherheit und Zusammen-arbeit in Europa (KSZE)", die am 15. Juni 1977 in Belgrad begonnen hat, präsentierte die KPdSU-Spitze der Weltöffentlichkeit eine neue, "liberale" Verfassung, Sie garantiert dem 225-Millionen-Volk - auf dem Papier - die klassischen Bürgerrechte: Recht auf freie Meinungsäußerung, Demonstrationsfreiheit, Glaubensfreiheit und "Unantastbarkeit im Briefverkehr und bei Telefongesprächen".

AUFGUSS DER STALIN-VERFASSUNG

In Wirklichkeit sind die als Jahrhundertwerk gefeierte Gesetzestexte ein Aufguss der Stalin-Verfassung von 1936, die ebenfalls Freiheiten versprach. Doch auch heute wie damals, gilt: "Die Ausübung dieser Rechte und Freiheiten durch die Bürger darf die Interessen der Gesellschaft und des Staates ... nicht verletzten." Und nur die Partei bestimmt, wer "die Interessen der Gesellschaft" verletzt. Und das Strafrecht ermächtigt den Staatsapparat, politische und religiöse Dissidenten zu verhaften und abzuurteilen.

Die sowjetische Verfassungswirklichkeit, die Regime-Gegner in den Untergrund zwingt und Dissidenten an der Ausreise hindert, widerspricht eindeutig der Schluss-akte der ersten KSZE-Tagung in Helsinki. Bei der Unterzeichnung im August 1975 hatte Parteichef Leonid Breschnew (1964-1982) zugesagt, den "freien Austausch von Gedanken in Informationen und Meinungen" zwischen der UdSSR und den westlichen Staaten zu verwirklichen. Amerikanische Kritik, Moskau sei "weit unter den Abmachungen von Helsinki geblieben" und wende die Menschenrechte "willkürlich" an, wies der KP-Chef stets entrüstet und mit der Begründung von sich, in der Sowjetunion gebe es keine Straflager, sondern nur "Erziehungskolonien".

"ERZIEHUNGSKOLONIEN"

Der Tag der 1.500 Häftlinge in der "Erziehungskolonie" Riga OZ 78/7 beginnt, so bekunden ehemalige Insassen, um 5.30 Uhr. Die Strafgefangenen müssen zum Zähl-Appell aus ihren Baracke heraustreten. An den Türen gibt es jeden Morgen ein Gedränge. Die Unterkünfte sind hoffnungslos überbelegt. Mehr als 50 Mann hausen jeweils in einem Schlafraum, der für zwölf bestimmt ist.

Auch im Essens-Saal ist der Platz knapp. Die zwei Tassen wässriger Hafersuppe schlürfen die meisten im Stehen hastig herunter. Die Wachposten , die Maschinenpistolen über der Schulter, treiben zur Eile. Die Armee-Lastwagen warten. Es ist sieben Uhr. Der Menschentransport beginnt.

ABGERICHTETE HUNDE

Langsam schieben sich die Laster, auf denen jeweils 50 Gefangene zusammengepfercht hocken, bewacht von abgerichteten Hunden, durch den Haupteingang des Lagers. Vorbei an Militärposten mit Maschinenpistolen im Anschlag, vorbei an Stacheldrahtverhauen und den neuen hohen Holzzäunen. Durch Stadtbezirke Rigas geht es über die "Krustpils lela", zu deutsch "Kreuzburg-straße", hinaus nach "Incukalna", einem Fabrikgelände mit Sägewerk und Holzlager.

Ob im heißen Sommer oder im bitterkalten Winter, für die Verbannten von Riga gibt es keinen Unterschied. Sie müssen neun Stunden pro Tag im Freien schuften - dazwischen liegen knappe 15 Minuten Pause. Die Sträflinge haben nur ein Ziel: die hohen Arbeitsnormen einzuhalten. Darüber wacht ein Soldat mit Stoppuhr und Notizbuch.

KNOCHENARBEIT

Für die Knochenarbeit bekommen die Gefangenen 50 Kopeken pro Tag. Das sind nicht einmal zwei Mark. Von diesen zwei Mark werden 1,60 Mark für das Essen abgezogen.

Moskaus Parteifunktionäre planen die Arbeit der Gefangenen in ihren Wirtschaftsprogrammen fest ein. Gäbe es sie nicht, würden in Riga die supermo-derne "Popow-Elektrofabrik", das neue Brotkombinat und die Wasserversorgungsanlage nicht stehen. Die sowjetische Zeitung "Kasachstanskaja Prawda": "Die von Gefangenen verrichtete Arbeit ist Schwerarbeit, und die Produktionsnormen sind maximal. Eine Arbeits-kolonne ist kein Erholungsheim. Hier muss gearbeitet werden. Im Schweiße des Angesichts."

MARX UND LENIN-TEXTE AUSWENDIG

Um 17 Uhr sollen die Laster zurück ins Lager. Schon eine halbe Stunde später beginnt der politische Unterricht. Unteroffiziere lesen aus den Werken von Marx und Lenin, lassen Texte aufsagen und klopfen immer wieder die politische Gesinnung ab. Kommt die Rede auf die Menschenrechte, dann fallen Sprüche, wie sie der Bewacher Ljubajew vor Häftlingen äußerte: "Menschenrechte? Das ist etwas für Neger!"

Wer sich nicht parteifromm verhält, muss mit harten Strafen rechnen. Familienbesuche, ohnehin nur alle sechs Monate erlaubt, werden gestrichen. Die Essensrationen, durchschnittlich 1.800, manchmal sogar nur 1.300 Kalorien pro Tag, werden um die Hälfte gekürzt - zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig. Nach allgemeingültiger Ansicht benötigt ein körperlich schwer arbeitender Mensch weit über 3.000 Kalorien.

ZU SAUL IN DIE SPEZIALKLINIK

Wer im Lager aufmuckt, kommt zu Saul in die "Spezial-klinik". Schon sein Name sorgt im Lager für Angst und Schrecken. Denn "Saul mit den Sechs-Unzen-Boxhand-schuhen", wie er wegen seiner Lieblings-Werkzeuge Lager-intern genannt wird, kann die Geschundenen körperlich so quälen, dass keine sichtbaren Spuren zurück-bleiben. Bei der Umerziehung "ist jede beliebige Maßnahme und Methode der pädagogischen Einfluss-nahme einzusetzen" - so steht es in de 1972 verfassten Erläuterungen der sowjetischen Gesetzgebung.

SCHWERE ARBEITSUNFÄLLE

Das Arbeitslager OZ 87/7 ist berühmt für seine "Feldscher". So werden in der Sowjetunion jene Hilfskräfte genannt, die ohne jede medizinische Ausbildung an kranken Gefangenen herumdoktern. Oft sind die "Feldscher" selbst Gefangene, die, weil es kein geschultes ärztliches Personal gibt, Sprechstunden abhalten. Dabei wäre gerade in Riga Mediziner dringend nötig, denn fast täglich passieren im Sägewerk "Incukalna" schwere Arbeitsunfälle. Die Männer arbeiten ohne den geringsten Sicherheitsschutz: keine Helme, keine Handschuhe, keine Schutzbrillen.

Die Einwohner von Riga wissen von alldem gar nichts. Kontakte zwischen der lettischen Bevölkerung und den Lagerinsassen weiß der Staatsapparat zu verhindern. Er setzt als Wärter nämlich Angehörige sowjetischer Nationalitäten ein, die nicht Lettisch sprechen können und oft auch nicht Russisch. Die Auswahl des Wach-personals hat Methode: In Riga tun Mongolen ind Tscherkessen Dienst. Dafür dient Wachpersonal aus Riga im sibirischen Wladiwostok.

JAHRE DANACH - ALBTRÄUME

Nur Offiziere des KGB können mit den Gefangenen sprechen. KGB-Chef in Riga ist Oberstleutnant Berzins, ein 48jähriger Mann mit stahlblauen Augen und einem pausbäckigen Gesicht. Er beschäftigt sich mit besonders gravierenden "politischen Fällen". Eine Zutat seiner Verhör-Methodik: "Reden Sie, solange wir Ihnen dazu noch Gelegenheit geben! Sonst werden Sie eines Tages froh sein, überhaupt noch sprechen zu können." Manche Häftlinge aus Riga haben noch Jahre nach ihrer Entlassung Albträume an Oberstleutnant Berzins.

Der sowjetische Fortschritt zu höherem "Ruhm und Ehre der Arbeiterklasse" ist nicht aufzuhalten - auch nicht im Arbeitslager OZ 78/7 von Riga. Zierten letztes Jahr noch Bäume und Sträucher den Weg zum Lager, so haben heute Bulldozer die Sicht freigeräumt. Damit haben die Wachen die Lagerumgebung unter totaler Kontrolle. Die Lastwagen sind neuerdings mit zwölf Millimeter dicken Stahlplatten abgedichtet, um den Menschentransport vor den Augen Neugieriger zu verheimlichen.

VARIANTE DES "FORTSCHRITTS"

Letzte Variante des technischen Fortschritts - eine haushohe stabile Holzwand, zugleich Barrikade, versperrt den Gefangenen jeden Blick in die Außenwelt. Riga im Sommer des Jahres 1977. OZ 78/7 ist eines der fünf Arbeitslager der Stadt - und es ist trotz allem noch das humanste. Die Gefangenen in den anderen Lagern müssen noch härter arbeiten, dürfen noch weniger schlafen, bekommen nur eine Schachtel Zigaretten pro Woche. Besuch dürfen sie nie empfangen. Und da es sich um "Lager der verschärften Kategorie" handelt, ist an Entlassung nicht zu denken.