Mittwoch, 18. Mai 1977

Russland: Der Weg zum Wahnsinn - Arbeitslager, Irrenhäuser, Gefängnisse




In sowjetischen Arbeitslagern und Gefängnissen erleiden mehr als 10.000 politische Gefangene furchtbare Qualen, nur weil sie eine andere Meinung haben. Die hartnäckigsten Regimekritiker verschwinden in Irrenhäusern, wo sie in finsteren Zellen und vergitterten Krankenzimmern mit Psychopharmaka "behandelt" werden und willenlos dahindämmern

Frauen-Zwangsarbeit in den Wäldern der Mordwinischen Republik. Die Psychiatrische Klinik für Regimekritiker in Kaschtschenko


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stern, Hamburg
18. Mai 1977
von Reimar Oltmanns
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In sowjetischen Arbeitslagern und Gefängnissen erleiden mehr als 10.000 politische Gefangene furchtbare Qualen, nur weil sie eine andere Meinung als die Partei haben. Die hartnäckigsten Regimekritiker verschwinden in Irrenhäusern, wo sie in finsteren Zellen und vergitterten Krankenzimmern mit Psychopharmaka "behandelt" werden und willenlos dahindämmern


Vor dem Militärtribunal in der westukrainischen Stadt Luzk musste sich Igor Golz, Leutnant der sowjetischen Armee verantworten; angeklagt wegen "Verbreitung von wissentlich falschen Behauptungen, die die sowjetische öffentliche und staatliche Ordnung verleumden". Sein Vergehen: Der 26jährige Offizier hatte in einem Kasino-Trinkspruch die israelische Armee hochleben lassen. Das Urteil: drei Jahre Arbeitslager mit verschärfter Haft.

RADIO BESCHLAGNAHMT

Dem Mathematiker Wassilij Tschernyschew wurde zunächst gar kein Prozess gemacht. Agenten des sowjetischen Geheimdienstes KGB holten den Leningrader Wissenschaftler im Winter 1970 frühmorgens aus dem Bett, verhörten ihn, weil er als Freizeitdichter Kritisches über den Antisemitismus in der UdSSR gereimt hatte, und lieferten ihn dann einfach in der psychiatrischen Spezialklinik an der Arsenalnaja-Straße ab.

Die psychiatrische Untersuchung dauerte nur 30 Minuten, die Ärzte stellten prompt fest: "Der Patient leidet unter einer chronischen Schizophrenie." Als Indiz für die "dauernde Bewusstseinsspaltung" werteten die Mediziner den vorzeitigen Abbruch einer Universitätkarriere sowie einen Selbstmordversuch, den der Mathematiker bereits vor sieben Jahren aus Liebeskummer unternommen hatte. Den Richtern, die am Schreibtisch über Tschernyschews Einweisung ins Irrenhaus entscheiden mussten, reichte diese Schnellexpertise, um ihn als Geisteskranken abzustempeln. Drei Jahre verbrachte der Regimekritiker in der Arsenalnaja-Anstalt in Leningrad (seit 1991 Petersburg). Dann wurde er in die 1600 Kilometer entfernte "Sonderklinik" von Dnjepropetrowsk im Süden der Sowjetunion verlegt.

NEO-STALINISMUS

Der Fall des Mathematikers Tschernyschew kennt viele Parallelen, wie aus dem umfangreichen Dokumentationsmaterial hervorgeht, das seit Jahren in den Westen geschmuggelt wird. Auch der Mathematiker Leonid Pljuschtsch, 37, war in der Psychiatrie von Dnjepropetrowsk interniert. Er hatte gegen den sowjetischen Einmarsch in der CSSR (1968) und gegen den zunehmenden Neo-Stalinismus rebelliert. Auch ihm bescheinigten die Ärzte "chronische Schizophrenie".

Dennoch sind die beiden Namen nicht austauschbar. Pljuschtsch , im Westen von Freunden als Regime-Kritiker populär gemacht, wurde Anfang 1976 nach Österreich abgeschoben. Tschernyschew, ein Unbekannter, sitzt heute noch in einer der berüchtigten Zellen der "Sonderklinik" von Dnjepropetrowsk - im siebten Jahr.

ZWEI-MANN-ZELLEN

Die Zwei-Mann-Zellen für politische Gefangene in der ukrainischen Industriestadt Dnjepropetrowsk haben schwere, mit Eisenplatten verkleidete Holztüren. Ein Guckloch, eine Klappe für die Essensausgabe. Es gibt kein Klo, kein Waschbecken, nur ein vergittertes Fenster - einen Meter mal sechzig Zentimeter. Die Pritschen sind aus Eisen, die Matratzen aus gepresster Wolle. Ein Holzstuhl, ein kleiner Spind, eine nackte Birne, die von der Decke baumelt und unentwegt brennt. Kein Bild schmückt die graue Betonwand, keine private Habseligkeit ziert den Raum. Die Zellen sind kalt, nass und schmutzig. In manchen gibt es ein kleines Abflussloch, das den Gestank der Kanalisation hochtreibt.

WISSENSCHAFTLICHER FORTSCHRITT

Russlands neun psychiatrische Sonderanstalten, die angeblich "an der Spitze des wissenschaftlichen Fortschritts" stehen (sowjetische Ärzte auf dem internationalen Psychiatrie-Kongress 1971 in Mexico-City), sind Monumentalbauten aus dem vergangenen Jahrhundert. Die Leningrader "Arsenalnaja-Anstalt" war bis zur Oktoberrevolution 1917 ein Frauengefängnis, die Spezialklinik in Orel einst ein berüchtigter Knast im zaristischen Russland, die Sonderanstalt Tschernjachowsk (Insterburg) diente schon den Deutschen als Gefängnis, und die Psychiatrische Kolonie in Sytschjowka bei Smolensk feierte ihr Richtfest bereits im 18. Jahrhundert.

SEKI - SPÜRHUNDE

Ein Meter dicke Betonmauern mit aufgesetzten Stacheldrahtrollen und Wachsoldaten mit Spürhunden schirmen die "Geisteskranken" gegen die Außenwelt ab. Auf den Fluren der Kliniken geben so genannte Krankenwärter den Ton an. Die meisten von ihnen haben keine Sanitätsschule besucht, sondern waren kriminelle Häftlinge (Seki) . Als Internierte in den Arbeitslagern begannen sie eine neue Laufbahn, im Auftrag des KGB bespitzelten und denunzierten sie andere Lagerinsassen und wurden dafür belohnt. In Psycho-Kliniken - als Krankenwärter im weißen Kittel - genießen sie nun ihren "gesellschaftlichen Aufstieg".

REGIMEKRITIKER: BUKOWSKIJ

Der Regimekritiker Wladimir Bukowskij, 34, der unlängst gegen den in Chile eingesperrten KP-Chef Luis Corvalán (*1916+2010) ausgetauscht wurde, hat über ein Jahrzehnt in Arbeitslagern und Irrenhäusern zugebracht: "Jeden Tag schlagen Wärter auf die Insassen ein, fesseln sie, treten ihnen in den Magen. Manchmal werden sie auch in Isolierzellen gesteckt, in denen sie bis zur Bewusstlosigkeit geprügelt werden. Ich weiß, dass mehrere Männer daran gestorben sind."

Ein Aufseher, der degradiert und wieder eingesperrt wurde, erzählte seinen Mitgefangenen im Arbeitslager Sytschjowka: "Es ist gut, im Irrenaus zu arbeiten. Da gibt's immer was zu essen und immer einen Grund, jemanden auf das Maul zu schlagen." - "Aber warum diese Leute schlagen?" fragte einer. Er antwortete: "Ich sag' dir, warum. Du stehst in der Mitte vom Gang. Ein Irrer kommt vorbei, schleicht an der Wand entlang. Du langweilst dich. Du gibst ihm einfach einen Schlag in die Schnauze, und schon geht's dir besser."

MIT HIEBEN THERAPIE BETREIBEN

Wo "Krankenwärter" mit Hieben Therapie betreiben, können auch sachfremde Ärzte herumdoktern. Die Gefangenen-Hilfsorganisation amnesty international berichtet, dass 1970 der Chirug Baryschnikow die Psychiatrische Sonderanstalt in Orel leitete. Zu seinem Team zählten praktische Ärzte, Hals-Nasen-Ohren-Spezialisten, Augen- und Zahnmediziner. Sie alle fühlten sich berufen, ihre geistesgestörten Patienten psychiatrisch zu behandeln.

In der Sonderklinik von Dnjepropetrowsk war der politische Gefangene Leonid Pljuschtsch drei Jahre - meist in Gruppenzellen - eingesperrt: "Dort gab es vor allem Geisteskranke, aber auch Mörder, Diebe und Gammler. Wir waren ungefähr 60 politische Häftlinge. ... ... Ich bekam einen Platz in der Mitte zwischen zwei Betten. Auf ihnen quälten sich die Patienten vor Schmerzen. Einem hing die Zunge raus, ein anderer hatte herausquellende Augen, ein dritter ging auf und ab, gebückt in spastischer Haltung. Die meisten waren bettlägrig und hatten zu Grimassen verzerrte Gesichter vor Schmerzen. Sie sagten mir, dass sie wegen ihres schlechten Benehmens bestraft worden seien. Alle Patienten waren in knopflose Nachthemden gesteckt worden. Neben der Tür bettelten Kranke die Aufseher an, auf die Toilette gehen zu dürfen ..."

SOWJETISCHE METHODEN

" ... Eine Woche später wurde ich auf eine andere Etage verlegt. Dort war die Behandlung menschlicher. Niemand krümmte sich vor Schmerzen. Wieder wurde ich auf ein Brett zwischen zwei Betten gelegt. Einer meiner Nachbarn hatte kein menschliches Gesicht mehr. Er war aufgeschwollen, völlig unmitteilsam und onanierte ständig. Wenige Tage später wurde er sterbend in ein Hospital gebracht. Das ist eine bekannte sowjetische Methode, um die Zahl der Todesfälle in den psychiatrischen Kliniken gering zu halten. Ein Schwerkranker, den wir 'Mister' nannten, schrie unaufhörlich antisowjetische Sprüche und bat mich, seine völlig verworrenen Briefe an die Behörden zu korrigieren. Die Wärter versprachen ihm, seine Briefe heraus zu schmuggeln und nahmen ihm dafür seine ganze Nahrung ab. Zwei Monate später war er tot. Zweimal am Tage durfte man rauchen und sechsmal zur Toilette gehen. Die meisten Kranken rauchten soviel sie konnten, um erbrechen zu können. Das erleichterte ihre Behandlung."

CHRONOLOGIE

6. November 1973 - zweiter Besuch von Tatjana: "Leonid sagte mir, er könne keine Bücher mehr lesen."

4. März 1974 - dritter Besuch: "Er hat starke ödemartige Schwellungen, kann sich nur mit Mühe bewegen, seine Augen sind völlig leblos."

13. November 1875 - vierter Besuch: "Pljuschtsch schiebt seiner Frau einen Zettel zu: "Ich kann keine Briefe mehr beantworten. Vielleicht bin ich ja wirklich krank."

PSYCHO-PHARMAKA

Krankgemacht worden - muss man wohl hinzufügen. Der Körper von Leonid Pljutschtsch war mit dem Psycho-Pharmaka Haloperidol, Insulin und Triftasin vollgepumpt worden. Andere Insassen bekamen Sulphasin oder Aminasin gespritzt. Diese Medikamente werden teilweise auch in westlichen Ländern angewandt, aber nur in bestimmten schweren Fällen von Schizophrnie und progressive Paralyse. In den Sonderkliniken der Sowjetunion missbrauchen Ärzte die gefährlichen Pharmaka als Folter gegen unbequeme Systemkritiker. Dr. Ljamin, Psychiater im Irrenhaus von Sytschjowka, sagte zu mehrere politischen Gefangenen frei heraus: "Wir behandeln Sie nicht wegen einer Krankheit, sondern wegen Ihrer Ansichten."

Die Folgen sind verheerend. Viktor Feinberg, einst ein "Geisteskranker" in der UdSSR, heute Schriftsteller in London, berichtet: "Nach Sulphasin-Spritzen geht die Körpertemperatur bis auf 40 Grad hoch. Drei Tage krümmt sich der Kranke vor Schmerzen. Man kann sich vorstellen, wohin das führt, wenn ein Patient jeden zweiten Tag eine Injektion erhält." Oder wenn der Körper mit Haloperidol, Aminasin und Triftasin absichtlich verseucht wird. Die Resultate: Leberentzündungen, Druck in den Augäpfeln, Schüttelfrost, Magenkrämpfe, Blutdruckschwankungen, Trockenheit im Mund, tagelange Depressionen.

AUS DEN URZEITEN

Eine weitere Methode der Psychiater ist das so genannte "Einrollen"; eine raue Behandlungsart aus den Urzeiten der Medizin, die in den russischen Sonderkliniken als Folter angewandt wird: Die "Krankenpfleger" wickeln die Opfer von Kopf bis Fuss so fest in lange, nasse Tücher, dass sie kaum noch atmen können.

Wenn die Laken trockener werden, spannen sie sich noch enger um den Körper. Das Opfer schwankt zwischen Todesangst und Bewusstlosigkeit. Erst kurz vor dem Kreislaufkollaps werden die Tücher gelockert.

SCHALTZENTRALE: SERBSKIJ-INSTITUT

Die Schaltzentrale, die die Systemabweichler auf die neun Sonderkliniken in der UdSSR verteilt, ist das Moskauer Serbskij-Institut für Gerichtsmedizin. Es wurde 1922 gegründet, um "die Rechte von geistesgestörten Personen zu schützen, die nicht in böser Absicht, sondern unfreiwillig Handlungen begehen können, die für die Gesellschaft gefährlich sind", hieß es damals.

Heute ist das Serbskij-Institut quasi eine Außenstelle des sowjetischen Geheimdienstes KGB. Andersdenkende, die in diesem Institut von dem leitenden Professoren Danil Luntz und G.W. Morosow behandelt werden, können sicher sein, dass sich unter dem weißen Kittel der Ärzte die Oberst-Uniform des KGB verbirgt.

ARMEE-GENERAL: GRIGORENKO

Ex-Armeegeneral Pjotr Grigorenko (*1907+1987), der in der Geheimdienst-Psychiatrie zur Staatsräson gebracht werden sollte und nach qualvollen Jahren als gebrochener Mann entlassen wurde, erklärte: "Ich habe nicht nur Professor Luntz, sondern auch andere Ärzte in KGB-Uniformen zur Arbeit kommen sehen."

Selbst der Partei war die Arbeit ihrer Psychiater einmal nicht ganz geheuer. Nach der Stalin-Ära (1922-1953) beauftragte das Zentralkomitee eine Sonderkommission, um die "repressiven Missbräuche" in den Kliniken aufzuklären. Der Genossse S.P. Pisarew berichtete 1956, im Jahr der Entstalinisierung, den Spitzenfunktionären der KPdSU: "Jahr für Jahr ist die Psychiatrie als Instrument zur Einkerkerung geistig gesunder Menschen benutzt worden."

ROTBANNER-ORDEN

Doch trotz dieses Berichts - geändert hat sich nichts. In den fünfziger Jahren war Psychiater Danil Luntz Dozent am Serbskij-Institut. Als die Abteilung im November 1971 von der Sowjet-Regierung für "ausgezeichnete Arbeit" mit dem Rotbanner-Ordnen geehrt wurde, durfte er sich schon Professor nennen. Heute ist er die graue Eminenz im Direktorium des Instituts, das mit Schnellgutachten den Vorwand liefert, unbequeme Widersacher des Regimes "bis zur Genesung" in die Irrenhäuser zu verbannen.

Professsor Luntz: "Wenn ich sage, jemand ist schizophren, dann ist er schizophren - und wenn ich sage, ein Aschenbecher ist schizophren, dann ist auch er schizophren." Luntz-Kollege G. W. Morosow scheut sich nicht, politischen "Patienten" gelegentlich die Wahrheit zu sagen: "Warum sollen wir uns mit politischen Prozessen plagen, wo wir psychiatrische Kliniken haben!"

KEIN GESETZ SCHÜTZT PATIENTEN

Für die Arbeiten in den Sonderkliniken ist nicht die Gesundheitsbehörde verantwortlich. Die Oberaufsicht führt das mächtige Innenministerum, das mit dem KGB gemeinsam den Willkür-Apparat des stalinistischen Volkskommissariats des Inneren (NKWD) geerbt hat Kein Gesetz schützt Patienten vor heimtückischen Übergriffen, kein Beschwerderecht, keinen Verteidigerkontakt.

Junge Psychiater, die sich der politischen Säuberung widersetzen, gefährden sich selbst. Der Fall des 31jährigen Dr. Semjon Glusman aus Kiew: In einem Alternativ-Gutachten zur geistigen Verfassung von Pjotr Grigorenko hatte Glusman dem früheren Armee-General ein normales Verhalten bescheinigt. Die Serbskij-Diagnose hingegen sah in Grigorenkos "Reformideen und in der Überschätzung seiner eigenen Person deutliche Anzeichen einer pathologischen Persönlichkeits-Entwicklung, die nur in einer Anstalt mit dem höchsten Sicherheitsgrad behandelt werden könne.

NACH GUTACHTEN VERHAFTET

1971 schloss Glusman seine Grigorenko-Expertise ab. Im Mai 1972 wurde er verhaftet. Der Grund war das Alternativ-Gutachten. Fünf Monate später wurde der junge Psychiater in Kiew zu sieben Jahren Arbeitslager mit anschließende dreijähriger Verbannung verurteilt.

Augenzeugenberichte und Dokumente sowie Protokolle und Tonbandaufzeichnungen, die in den Westen geschmuggelt wurden, belegen zweifelsfrei, dass seit 1969 mehr als 130 Sowjetbürger aus politischen oder religiösen Gründen in den Sonderkliniken verschwanden. Und wie das genau gemacht wird, dafür drei Bespiele in diesen Dokumenten:

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Der Moskauer Psychiater Dr Hermann Schafran zu seinem "Patienten" Gennadij Schimanow, einem orthodoxen Christen: " ... Was Sie erzählt haben, bestätigt uns, dass die Krankheit die Grundlage Ihrer 'Bekehrung' darstellt ... Sie können uns glauben, wir sind darin Spezialisten ... Wären Sie in einer religiösen Gemeinschaft oder im Westen aufgewachsen, könnten wir Ihre Religiosität noch begreifen. Aber Sie wurden in einer sowjetischen Schule und in einer atheistischen Familie erzogen . Dass Sie jedoch so plötzlich, wie von ungefähr, die Religion befällt, nehme ich ihnen nicht ab. Wir glauben, dass sich in Ihrer Jugend anormale Prozesse abgespielt haben ..."

0 Der Moskauer Psychiater Dr. W. D. Dmitrijewskij zu seinem "Patienten" Jewgenij Nikolajew, einem sozialkritischen Wissenschaftlicher: "Wenn Ihre sozialen Ansichten nicht gesellschaftlich gefährlich wären, hätte man Sie nicht in eine psychiatrische Klinik gesteckt ... Sie kennen doch unsere Staatsmaschinerie. Wir sind alle den zuständigen Organen unterstellt und haben die Direktive zu befolgen ... Sie sehen, Sie sind gut bekannt wie Solschenizyn. Er wurde wegen seiner Erklärung außer Landes geschickt. Sie werden wegen Ihrer Erklärungen und Ansichten in eine psychiatrische Anstalt kommen ...".

0 Der Psychiater Dr. A. J. Lifschitz in Kaluga an der Oka zu seinem "Patienten" Schores Medwedjew , einem international bekannten Biogenetiker: " ... Ihre 'publizistische' Tätigkeit neben der normalen beruflichen Arbeit ist ein Zeichen für Ihre gespaltene Persönlichkeit. Natürlich wird das Krankenhaus Sie zu gegebener Zeit entlassen ... Aber wenn Sie Ihre publizistische Tätigkeit fortsetzen, werden Sie unweigerlich wieder hier bei uns landen ...".

STAATSTERROR AUF PSYCHIATER-COUCH

Staatsterror auf der Psychiater-Couch. Kaum in einem anderen Land klaffen Verfassungstext und -wirklichkeit so weit auseinander wie in der Sowjetunion. Die unter Josef Stalin (*1878+1953) im Jahre 1936 verabschiedete Verfassung garantiert dem 255-Millionen-Volk grundlegende Menschenrechte: Glaubensfreiheit und Ausübung religiöser Kulthandlungen (Artikel 124) Rede- und Pressefreiheit, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit (Artikel 125). Außerdem sichert Artikel 17 der Verfassung jeder Sowjetrepublik zu Recht zu, aus der Union auszutreten. Das bedeutet, dass sich jeder Bürger zu seiner eigenen Nationalität bekennen darf.

So kann KPdSU-Generalsekretär Leonid Breschnjew (*1906+1982) getrost behaupten: "Die sowjetischen Gesetze gewähren unseren Bürger große politische Freiheiten. Gleichzeitig schützen sie unser System vor jedem Versuch, diese Freiheiten zu missbrauchen."

Die liberalen Paragrafen haben noch niemanden aus dem Gefängnis geholt - eher hineingebracht, wenn Sowjetbürger sie für sich beanspruchen. Denn das Strafrecht, in den sechziger Jahren neu gefasst, schränkt die von der Verfassung geschützten Freiheitsrechte gravierend ein. Danach ist der Staatsapparat ermächtigt, politische Kritiker und religiöse Dissidenten zu verhaften, anzuklagen, abzuurteilen.

JAHRHUNDERTWERK

Auch der neue Verfassungsentwurf, der im Juni 1977 der sowjetischen Öffentlichkeit zur Diskussion vorgelegt worden ist, räumt den Bürgern nur scheinbar größere Freiheiten ein. In Wirklichkeit sind die als Jahrhunderwerk gefeierten Gesetzestexte ein Aufguss der Stalin-Verfassung von 1936. Auch heute, wie damals schon, gilt: "Die Ausübung dieser Rechte und Freiheiten durch die Bürger darf die Interessen der Gesellschaft und des Staates ... nicht verletzen." Und nur die Partei bestimmt, wer "die Interessen der Gesellschaft" missachtet.

KEINE FREISPRÜCHE

Der Generalprokurator der UdSSR, Roman Rudenko (*1907+1981) ernennt und dirigiert alle Staatsanwälte der Unions-Republiken. Sie sind die Chefankläger gegen politische Oppositionelle, Nationalisten, Juden und Christen. Verteidiger, die sich kompromisslos für ihre Mandanten einsetzen, müssen mit empfindlichen Sanktionen rechnen. So wurde der Moskauer Spitzenanwalt B. A. Solutuchin vor Jahren aus der KPdSU und aus dem Anwaltskollegium verwiesen, weil er für den demonstrierenden Schriftsteller und Bürgerrechtler Alexander Ginsburg (*1936+2002) - der im März 1977 erneut in Moskau verhaftet worden ist - Freispruch gefordert hatte. Kein Gericht in der Sowjetunion hat jemals die von Staatsanwälten vorgetragenen Anklagen abgewiesen. Kein Richter hat bisher einen aus politischen oder religiösen Gründen Angeklagten freigesprochen.

Im Namen der sozialistischen Sowjetrepubliken geht es immer in die Sonderkliniken oder Arbeitslager, die offiziell "Arbeitsbesserungskolonien" heißen. Der Moskauer Bürgerrechtler und Nobelpreisträger Andrej Sacharow (*1921+1989) schätzt, dass in mehr als 1000 Camps zwischen Kaliningrad und Wladiwostok 1,7 Millionen Sowjetbürger aus Gewissensgründen interniert sind. Die Gefangenen-Hilfsorganisation amnesty international ermittelte insgesamt 1,2 Millionen Gefangene, darunter mindestens 10.000 politische Häftlinge.

"CHRONIK DER LAUFENDEN EREIGNISSE"

Welche Zahl auch stimmen mag, die KPdSU-Führung leugnet strikt, auch nur einen einzigen politischen Häftling in ihren großflächigen Lagern festzuhalten. Schon Nikita Chruschtschow (*1894+1971) behauptete 1959: "Es gibt heute keine politischen Gefangenen mehr in sowjetischen Gefängnissen." Dabei war es Chruschtschow, der die Liberalisierung in der Nach-Stalin-Ära beendete und neue Verhaftungswellen gegen Intellektuelle in Gang setzte.

Auch Chruschtschow-Nachfolger Leonid Breschnjew (KPdSU-Chef 1964-1982) zeigte sich nicht weniger zimperlich. Sein absoluter Machtanspruch provozierte Widerspruch, vor allem Literaten, Theaterleute und Wissenschaftler schlossen sich insgeheim zur "Kultur-Opposition" zusammen, die schnell gesellschaftpolitische Bedeutung gewann. Die hektografierte Untergrund-Zeitschrift "Chronik der laufenden Ereignisse" (Chronika te Kutschtschich sobytij), zunächst eine klassische Literaturpublikation, die unzensiert und illegal von Mann zu Mann wanderte, gewann zunehmend politisches Profil. Die Forderung nach mehr politischer Freiheit und nach mehr Informationen wurde vom Kreml mit spektakulären Einschüchterungsprozessen beantwortet.

VERSCHÄRFTE LAGERHAFT

Als erste traf es die Schriftsteller Juli Daniel (*1925+1988) und Andrej Sinjawskij (*1925+1997), die zu sieben und fünf Jahren verschärfter Lagerhaft verurteilt wurden, weil sie ihre kritischen Bücher im westlichen Ausland veröffentlichen liessen. Der Einmarsch sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei rief 1968 Regimekritiker wie Wladimir Bukowskij , Schlüsselfigur der demokratischen Oppostion, Alexander Ginsburg, Pawel Litwinow (+2005) oder Larissa Daniel zur Demonstration auf den Roten Platz in Moskau. Die Parolen auf ihren Transparenten - "Hände weg von der CSSR" oder "Freiheit für Dubcek" (*1921+1992) - brachten sie auf der Stelle in Lager und Sonderkliniken.

IRRENHAUS + NOBELPREIS

Zwischen Irrenhaus und Nobelpreis pendelt auch der Atomphysiker Andrej Sacharow, der in Moskau unerschrocken den "freien Austausch von Gedanken, Informationen und Meinungen" fordert. Zu diesen Freiheiten hatte sich auf der KSZE-Konferenz (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) 1973 in Helsinki auch Parteichef Leonid Breschnjew feierlich bekannt, als er im August 1975 die Schlussakte unterzeichnete.

GEFANGENEN-TRANSPORTE

Dessen ungeachtet rollen weiter jeden Monat die Gefangenen-Transporte von Moskau zu den Arbeitslagern nach Perm im Ural oder in der Mordwinischen Republik. Fünfzehn Verbannte hockten in einem Schlafabteil. Die Fenster sind luftdicht verschlossen, die Lebensmittel verdorben. Toiletten und Waschräume sind aus Sicherheitsgründen verriegelt, die Gefangenen müssen die Gänge benutzen. Schmutz, Gestank, Atemnot. Nach zweitägiger Fahrt läuft der Zug in Perm ein. Ein unverstellbares Martyrium erwartet die Verbannten.

KÖPFE: KAHL GESCHOREN

Rings um Perm und in den sumpfigen Regionen der Mordwinischen Wälder gibt es kaum Straßen, nur Bahngleise verbinden die Arbeits-Wälder mit der Außenwelt. In den Kolonien ShCh 385/1, 385/3 und 385/17 sind die politischen Gefangenen interniert. Den meisten wird sofort der Kopf kahlgeschoren, In der Kolonie 385 /3 sitzen Frauen, die zu laut an Gott geglaubt und deshalb ins Arbeitslager verbannt wurden.

Getreu der marxistisch-leninistischen Doktrin "Arbeit ist ein universelles Mittel zur Erziehung des Volkes", so der Kommentar zu den Grundlagen des sowjetischen "Besserungsarbeitsgesetzes" von 1972, beginnt die Frühschicht um 8.00 Uhr und dauert bis 16.30 Uhr, die Spätschicht von 16 bis 0.30 Uhr. Die Arbeitsplätze sind Wälder, Sumpfgebiete, Sägewerke, Ziegeleien oder chemische Fabriken.

ZWANGSARBEITER VERSCHARREN

In Sibirien bauen Gefangene eine der längsten Eisenbahn-Linien der Welt. Parallel zur bestehenden transsibirischen Linie soll nördlich der sowjetisch-chinesischen Grenze eine neue Strecke entstehen.

Ob Sonntag oder Feiertag - malocht wird immer, "um den Rest der Arbeitskraft auszubeuten", sagt Hauptmann Sutschkow aus dem Lager Dubrow in der Mordawinischen Republik. Manche Männer fallen während der Arbeit tot um. Im nahe gelegenen Birkenwald werden sie dann verscharrt. Eine Zahl auf einem kleinen hölzernen Grabschild ist alles, was an die Zwangsarbeiter erinnert.

Andrej Sinjawskij, der die letzten Jahre seines Lebens in Paris lebte, war einst in den Mordwinischen Wäldern interniert. Er erinnerte sich an einen Greis, den er damals fragte: "Wie lange bist du schon hier, Großvater?" - "Seit 43 Jahren", antwortete der alte Mann. "Dann kennst du also das Sowjetregime so gut wie gar nicht?" "Nein", sagte er, "Gott hat mir hier seine Gnade gegeben."

FOLTER DES HUNGERS

Mit anderen Häftlingen ist er nicht so gnädig. Die von Moskau verordnete Folter des Hungers treibt viele in den Wahnsinn. Am Morgen dünne Grütze, Wassertee und etwa 20 Gramm Zucker. Am Abend das gleiche, nur der Zucker fehlt. Mittags eine Kohlsuppe aus Wasser und Knochen und Hafergrütze. Manchmal gibt's auch eine Kartoffel.

Gefangene mit so genannten verschärften Sonderregimen (Haftbedingungen) bekommen noch weniger. Der internationale Standard für einen Gefangenen, der acht Stunden arbeitet, liegt zwischen 3100 und 3900 Kalorien täglich. In den sowjetischen Lagern erhalten die Häftlinge unter normalen Konditionen 2600, unter strengen und scharfen Regimen nur 2100 und 1300 Kalorien. Zum Leben zuwenig, zum Sterben zuviel. Dafür werden den Geschundenen auch noch täglich 42 Kopeken von ihrem ohnehin mageren Fron-Lohn abgezogen.

POLIT-UNTERRICHT

Wer dem politischen Pflichtunterricht, der mindestens einmal in der Woche stattfindet, fernbleibt oder die Parteilinie nicht vertritt, wird bestraft. Die erst nach einigen Jahren Lager in Aussicht gestellte Besuchserlaubnis der Familie wird von vornherein gestrichen. Denn das vordringliche Ziel ist, den Gefangenen "zum Geist eines redlichen Verhaltens zur Arbeit, der strikten Einhaltung der Gesetze, der Achtung vor den Regeln des sozialistischen Gemeinschaftslebens ..." umzuerziehen, heißt es im Kommentar zu den Grundlagen der sowjetischen "Besserungsarbeitsgesetze" von 1972. Dafür können die Wärter "jede beliebige Maßnahme und Methode der pädagogischen Einflussnahme" einzusetzen.

Beim Polit-Unterricht des Oberstleutnant Ljubajew vom mordwinischen Lager Nummer 11 wagten es einige Dissidenen doch einmal, eine Art Diskussion über die Menschenrechte der Vereinten Nationen zu entfachen. Lubajew zeigte sich nachsichtig: "Hört mal, aber das ist doch für Neger." In die Weltpoltiik führte Oberstleutnant Bessubow seine Schüler ein. "In China", so verkündete er Wissenschaftlern, Schriftstellern und Künstlern, "treiben die Zionisten und der Tschou-En-lai (*1898+1976, Premierminister Chinas von 1949-1976) ihre Unwesen. Aber das chinesische Volk ist ja nicht blöd - es wird es ihnen schon zeigen."

SELBST-VERSTÜMMELUNGEN

Wohin die Verzweifelung der Ausgemergelten führt, berichtet der Schriftsteller Eduard Kusnezow in seinem Tagebuch, das auf geheimen Wegen in den Westen gelangte. Kusnezow, der wegen eines missglückten Fluchtversuchs mit einem entführten Flugzeug zu 15 Jahren Arbeitslager in den Mordwiniscen Wäldern verurteilt wurde, schildert: "Unzählige Male bin ich Zeuge der unglaublichsten Selbstverstümmelungen geworden. Nägel und Stacheldraht werden kiloweise verschluckt. Man würgt Quecksilberthermometer, Schachfiguren, Nadeln, Glasscherben, Löffel und Messer hinunter. Man näht sich den Mund oder die Augen mit Zwirn oder Draht zu. Man nagelt sich den Hodensack an den Pritschen fest. Man verschluckt Haken, gebogene Nägel und befestigt sie mit einem Faden an der Tür, so dass man sie nicht öffnen kann, ohne den 'Fisch' zu ziehen. Man schneidet sich Fleischstücke vom Bauch oder von den Beinen heraus, brät und verspeist sie. Man hüllt sich ganz in Papier ein und zündet sich an ...".

Vor den Sanitätsstationen stehen rund um die Uhr lange Menschenschlangen, einen Arzt bekommen die Verbannten selten zu Gesicht. In dem notdürftigen "Krankenzimmer" operieren sich die Häftlinge oft untereinander.

Jurij Galanskow starb am 18. Oktober 1972 mit 33 Jahren im mordwinischen Lager 17 A von Potma. Der junge Dichter litt an einer akuten Infektion des Zwölffingerdarms. Ein Mithäftling operierte ihn zu Tode.