Donnerstag, 21. April 1977

Brasilien: Furchtlose Kirche gegen Folter und Barbarei


























Gotteswort hinter Gittern. Im größten Gefängnis in Sao Paulo erteilt ein katholischer Priester einem Häftling den Segen. In Jahrzehnten der Militärdiktatur (1964-1985) war die katholische Kirche in Brasilien die einzige Institutionen des Landes, die ihre Kritik an Folterungen, Massenverhaftungen, Erschießungen öffentlich erhob. Für Tausende politischer Gefangener und verfolgter Indios waren Gotteshäuser als Unterschlupf ihre letzte Hoffnung. In dem Terror- und Willkürstaat des früheren General-Präsidenten Ernesto Geisel leistete die Kirche Roms beachtlichen Widerstand. Geheime Todesschwadronen hatten damals den Priestern ihren Kampf angesagt. Killer- und Folterkommandos entführten, quälten und erschossen Geistliche, nur weil sie für Menschenrechte eintraten. Seit 1985 ist Brasilien zur Demokratie zurückgekehrt; aus der Gefangenen-Insel Ilha Grande wurde eine Insel der Reichen - Super-Reichen.

stern, Hamburg
21. April 1977
von Reimar Oltmanns

Der ältere Mann auf dem Beifahrersitz des grauen VW-Busses könnte Landwirt oder Landvermesser sein. Unter dem lichten Silberhaar ein braun gebranntes Gesicht, über dem Kakihemd ein abgewetzter Anzug aus grober Baumwolle, die derben Hände umklammern den Haltegriff. Mit schnellen, prüfenden Blicken mustert er die Straße geradeaus und die Böschungen am Rande links und rechts. Die zusammenge-kniffenden Augen verraten die Anspannung. Dom Adriano Mandarino Hypólito (1918-1996) ist katholischer Bischof von Nova Iguacu, einer Diözese mit einer Million Einwohner, 50 Kilometer von Rio de Janeiro entfernt. Seit September 1976 weiß der 59jährige, dass selbst eine harmlose Überlandfahrt wie jetzt, da er sich von seinem 20jährigen Neffen Fernando zur Inspektion der kirchlichen Wasserbohr-stelle chauffieren lässt, schrecklich enden kann.

Über das, was an jenem 22. September 1976 geschah, redet Dom Adriano nicht gern. Nicht, weil ihn die Erinnerung an die Schmerzen noch quält, die ihm die Schergen damals zufügten. Nicht, weil er sich vor dem Neffen schämt, den er nicht vor den Schlägertrupp hatte schützen können. "Nein", sagt Dom Adriano, "das schlimmste ist, sie haben meine Mutter beleidigt."

KIPNAPPING DES KIRCHENMANNES

Um 19 Uhr hatte der Bischof damals sein Büro in der Diözesankurie im Zentrum von Nova Iguacu - Stadt und Provinz sind gleichnamig - verlassen. Auf dem Kirchplatz wartete sein Neffe Fernando in einem Volkswagen. Er hatte seine 18jährige Braut Pilar mitgebracht. Ehe Fernando seinen Onkel nach Hause brachte, wollte er schnell seine Verlobte bei ihren Eltern absetzen. Es war ein kurzer Weg. Der VW-Variant stoppte vor der Haustür.

Als Pilar aussteigen will, sieht sie, wie zwei rote Volkswagen von der anderen Straßenseite heranrasen und den Bischofs-VW einkeilen. Sechs Pistolen bewaffnete Männer springen heraus. Sie tragen keine Uniformen. Einer schreit: "Das ist ein Überfall! Raus, sonst knallt's!"

Dom Adriano ist so erschrocken, dass er sich nicht rühren kann. Einer der Männer reißt die Tür auf, zerrt den Bischof aus dem Wagen und stößt ihn auf das Straßenpflaster. Vier andere springen hinzu, packen den Geistlichen und prügeln ihn in den vorderen roten Wangen. Das Mädchen Pilar, das sich in den Eingang des Hauses geflüchtet hat, hört den Geistlichen noch rufen: "Mein Bruder, was habe ich dir getan?"

KAPUZE ÜBER DEM KOPF

Der Bischof kann zwei Kidnappern ins Gesicht sehen. Der eine trägt eine rahmenlose, quadratische Brille, der andere hat grobe Züge, die Wangen voller Narben. Dann stülpen ihm seine Peiniger eine Kapuze über den Kopf.

Im rasenden Tempo kurvt der Wagen durch die Stadt, kommt in Außenbezirke, fährt über Pflaster- und Lehmstraßen. Dom Adriano verliert die Orientierung. Nach einiger Zeit reden die Gangster miteinander. Der eine zum anderen: "Das wird uns 4000 bringen."

Noch im Wagen machen sie sich über den Bischof her. Sie boxen ihn ins Gesicht und in den Magen, sie schneiden ihm die Knöpfe seiner Soutane ab. Sie reißen ihm den Rosenkranz und zwei Notizbücher aus den Taschen.

NUTTEN UND ZUCKERROHR-SCHNAPS

Dann bremst der Wagen, "Raus, du Hurenbock", kommentiert einer. Dom Adriano spürt, dass er auf einem Lehmweg steht. Ihm werden die Kleider vom Leib gezerrt. Nackt - nur die Kapuze auf dem Kopf - steht der 59jährige Jesuit vor seinen Schindern.

Die machen sich über seinen Penis lustig. Sie brüllen, er habe mit Prostituierten Kirchengelder durchgebracht. Auch seine Mutter sei eine Nutte und habe sich im Hafen von Recife verkauft.

Die Kidnapper setzen Dom Adriano eine Flasche Zuckerrohr-Schnaps an den Mund und zwingen ihn zu schlucken. Der Bischof bekommt keine Luft mehr, er wird für einen Moment ohnmächtig. Die Mannschaft aus dem zweiten Kidnapper-VW hat sich seinen Neffen Fernando vorgenommen.

Als die Entführer sehen, dass der Bischof wieder bei Bewusstsein ist, brüllt ihn einer an: "Deine Stunde ist gekommen, roter Verräter." Ein anderer: "Für Kommunisten-schweine kennen wir nur den Tod." Ein Dritter: "Gib zu, dass du ein Kommunist bist, elender Hund."

Dom Adriano will den Schlägern antworten, er stammelt: "Ich bin kein Kommunist. Ich war keiner, ich werde auch nie einer sein. Ich verteidige nur mein Volk." Dom Adriano wird an Händen und Füssen gefesselt. Dann sprühen sie mit Spraydosen seinen nackten Körper ein. "Oh, wird das schön brennen", feixen sie. Dom Adriano betet. Er glaubt, sie würden ihn verbrennen. Doch er wird wieder ins Auto geschleift. Eine neue Irrfahrt beginnt. Als der Wagen stoppt, sagt einer der Entführer: "Der Chef hat angeordnet, dich heute noch nicht zu töten. Wir haben dir nur eine Abreibung gegeben, damit du aufhörst, Kommunist zu sein."

NACKT UND GEFESSELT

Sie nehmen Dom Adriano die Kapuze ab, stoßen ihn aus dem Wagen, er fällt mit dem Gesicht auf den Bürgersteig. Nackt und gefesselt liegt der Bischof von Nova Iguacu auf dem Gehweg einer Ausfallstraße von Rio de Janeiro. Sein ganzer Körper ist rot gefärbt. In den Spraydosen war Farbe. Es ist 21.45 Uhr. Zweidreiviertel Stunden haben die Misshandlungen gedauert. Ein Autofahrer entdeckt den Bischof, bringt ihn zum nächsten Pfarrhaus. Seine erste Frage: "Wo ist Fernando?" Fernando lebt, die Gangster haben ihn zusammengeschlagen und ebenfalls aus dem Wagen geworfen.

Dom Adrianos verlassener Volkswagen wird in derselben Nacht von den Entführern vor das Haus der Nationalen Bischofskonferenz im Stadtteil Gloria in Rio de Janeiro gefahren und dort in die Luft gesprengt. Ebenfalls in derselben Nacht explodiert in der Wohnung des katholischen Journalisten Roberto Marinho eine Bombe. Marinho ist Direktor des Medienkonzern "O Globo".

TERROR GEGEN KIRCHE

Der Terror gegen katholische Geistliche in Brasilien hat System. Einige Wochen vorher war Pater Rudolfo Lunkenbein im Bundesstaat Mato Grosso erschossen worden. Er hatte sich für die Lebensrechte der von Ausrottung bedrohten Indianer eingesetzt. Sein Amtsbruder Joao Bosco Penido Burnier wurde auf der Polizeistation im Norden des Landes erschossen, als er dagegen protestierte, dass zwei Frauen seiner Gemeinde gefoltert worden waren. Immerhin: Der Gendarm, der ihn einfach mit der Pistole umgelegt hatte, wurde verhaftet. Dieser Mord war zu plump.


Die meisten Mord oder Anschläge aber bleiben ungesühnt. Sie werden ausgeführt von Kommandos der "Antikommunistischen Allianz Brasiliens" - der AAB, die sich auch zu dem Attentat auf Dom Adriano bekannt hat. Niemand weiß genau, wer hinter dieser Organisation steckt, jeder kennt nur ihre Untaten: Todesschwadronen, zusammengewürfelt aus Soldaten und Polizisten , morden, pfündern und brand-schatzen im Namen der AAB. Es gibt zahlreiche Belege, dass die AAB und das in Brasilien allmächtige Militär zusammenarbeiten.


TODESSCHWADRONEN


Die ersten Todesschwadronen waren vor 20 Jahren aufgetaucht. Ihre Opfer waren zunächst hauptsächlich Kriminelle, Als Chef einer dieser "Esquadraos Da Morta" wurde ein Kriminalrat aus Sao Paulo, Sergio Fleury, vor Gericht gestellt. Obwohl es eindeutige Beweise gab - Mönche hatten Fleury und seine Todesschwadronen bei der "Arbeit" fotografiert - ging der Kripo-Boss straffrei aus. Sein Kommentar zu dem Foto: "Hier gibt es tatsächlich einen Hurensohn, der verdammte Ähnlichkeit mit mir hat."


Seit etwa zehn Jahren richtet sich die Lynchjustiz der Freizeit-Mörder immer mehr gegen politisch Unliebsame. Die regierenden Militärs betrachteten diese "Aufgaben-erweiterung" mit Wohlwollen, die Todesschwadronen nahmen ihnen in den Jahren bis 1972 im Kampf gegen die Stadtguerillas viel Arbeit ab.


POSSENSPIEL


Gleichzeitig führten die Militärs ein Possenspiel auf, um "Rechtsstaatlichkeit" zu demonstrieren. Sie beauftragten einen Rechtsanwalt in Sao Paulo, eine Doku-mentation über die Todesschwadronen auszuarbeiten. Er bekam mehr heraus, als seinen scheinheiligen Auftraggebern recht war: Staatsanwalt Helio Pereira Bicudo, ein liberaler Mann und unerschrockener Regimekritiker, ist inzwischen Bestseller-Autor. Seine Dokumentation hat die vierte Auflage erreicht.


Dabei hatte es Bicudo zunächst schwer, einen Verleger zu finden. denn die von ihm zusammengetragenen Dokumente bewiesen eindeutig, dass die Todesschwadronen mit Billigung der regierenden Militärs agieren. Erst die katholische Kirche von Sao Paulo wagte es, Bicudos Buch herauszugeben. Der Autor ist seither selbst Adressat von Drohbriefen der AAB. Über deren Zielgruppe sagt Bicudo: "Jeder, der Kritik äußert, ist für sie ein Kommunist." Die Gefangenen-Hilfsorganisation amnesty international verbuchte in den letzten zehn Jahren 3.000 Folterungen und Er-mordungen auf das Konto der Todesschwadronen.


LEBENSLUSTIGE FASSADE


Hinter der lebenslustigen Fassade von Zuckerhut, Copacabana-Strand und Samba-Shows hat sich in Brasilien eines der heimtückischsten Regime dieser Welt etabliert. Im Jahre 1964 hatten die Offiziere nach einem Putsch die Macht hin dem von Streiks und sozialen Unruhen erschütterten Land übernommen. Aus der einstigen Demokratie, flächenmäßig das fünftgrößte Land der Welt, wurde nun der Schrittmacher für die vornehmlich in den siebziger Jahren fast überall in Südamerika regierenden Militärs, in dem es mehr Gefängnisse als Spitäler gibt.


Um sich von der Weltöffentlichkeit einen demokratischen Anstrich zu geben, schuf die Armee ein künstliches Parteiensystem. Fortan gab es als Regierungspartei die "Alianca Renovadora Nacional" (ARENA), ein williger Erfüllungsgehilfe des Generalstabs. Die Rolle der Opposition sollte die "Movimento Democrático Brasileiro (MDB) spielen. Allerdings, die MDB hielt sich nicht an ihre Auflage, keine Wahlen zu gewinnen und immer in der Minderheit zu bleiben. Da mussten die amtierenden Generale nachhelfen. Beispiel: Als im Jahre 1974 die MDB bei den Senats- und Parlamentswahlen eine große Mehrheit bekam, schickte der Generals-Präsident Ernesto Geisel (1908-1996), Abkömmling eines aus Kronberg im Taunus kommenden protestantischen Missionars , so viele Oppositionspolitiker wieder nach Hause oder ins Gefängnis, bis die militärhörige ARENA-Partei die Mehrheit der Sitze hatte.


EIN DIKTATOR NAMENS GEISEL


Ernesto Geisel bediente sich dabei des Artikel 5 der neuen Verfassung, Dieser Artikel ist so etwas wie die Notbremse der Generale: Danach können einem Politiker Parlaments-Mandat und bürgerliche Rechte vis zu 30 Jahren entzogen werden, wenn er unter dem Verdacht steht, Kontakte zu Kommunisten zu haben.


Anfang April im Jahre 1977 schickte General Geisel den gesamten Kongress für unbestimmte Zeit nach Hause. Sein vorgeschobenes Argument: Er wolle die "Justiz-reform verwirklichen, die vom Kongress mit einer Zweidrittelmehrheit abgelehnt worden war. Tatsächlich will Diktator Geisel die für 1978 vorgesehenen Parlaments-wahlen verhindern. Das amerikanische Meinungsforschungsinstitut Gallup sagte nämlich einen neuen Wahlsieg der Oppositionsparteien voraus.


AN DER HUNGERGRENZE


In einem Land, in dem die staatsverordnete Opposition zur Fassade degradiert wurde, kommen auch die ruhig gestellten Gewerkschaften über ein Schattendasein nicht hinaus. Streiks sind im Brasilien der Generale verboten, obwohl 75 Prozent des 120-Millionen-Volkes am Rande der Hungergrenze leben.


Für das Ausland wurde dieses "befriedete" Brasilien interessant. Allein aus Deutschland haben achthundert Firmen dort inzwischen Tochter-Unternehmen, Der Vorsitzende der Deutsch-Brasilianischen Handelskammer in Sao Paulo, Julius Zimmermann, ist voll des Lobes für die Generale: "Seit wir hier eine vernünftige Regierung haben. die für ruhige innenpolitische Verhältnisse sorgt, ist ein stabiles Klima für langfristige Investitionen entstanden." Nunmehr liefert die Bundes-republik den Brasilianern acht Kernkraftwerke und macht damit ihr größtes Aus-landsgeschäft.


EIN LEBEN VOR DEM TOD


Nur die katholische Kirche haben die Generale nicht in den Griff bekommen. Der Wandel der Kirche setzte in den 60er Jahren ein. Der Klerus, täglich konfrontiert mit Massennot, begriff, dass es auch ein Leben vor dem Tod gibt, und nahm fortan immer stärker zu humanitären Problemen Stellung. Aus dem sozialen Engagement wurde mit dem Amtsantritt der Militärs ein politisches Engagement.


Mittlerweile ist die katholische Kirche die einzige Opposition in Brasilien. Trotz aller Einschüchterungsversuche durch Mordkommandos, durch Folter auf Gefangenen-inseln und trotz aller Militärauflagen - die Kirchenzeitungen unterliegen der Zensur, eine Radiostation der Kirche wurde geschlossen, kircheneigene Krankenhäuser und Schulen werden beschlagnahmt - klagen die Bischöfe und Priester immer wieder unerschrocken die Willkür der Generale an. Und nehmen dafür, wie Bischof Hypólito, Überfälle und Folter, Verhöre und lange Haftzeiten in Kauf. Viele Geistliche sitzen hinter Gittern und Stacheldraht.


ZEHNKÄMPFER GOTTES


Zu den Mutigen gehört auch der Erzbischof von Sao Paulo, Paulo Kardinal Evaristo Arns. Der untersetzte Mann im maßgeschneiderten grauen Anzug, der am Revers ein kleines goldenes Kreuz wie ein Sportabzeichen trägt, hat nichts vom sakralen Habitus deutscher Oberhirten. Paulo Evaristo Arns ist so etwas wie ein Zehnkämpfer Gottes. Er kümmert sich um die Armen, um Arbeitslose, um Eingeborene, um die ungerechte Landverteilung zwischen Großgrundbesitzer und Kleinbauern, und er kümmert sich insbesondere um die Verteidigung der Menschenrechte gegen die Willkür der Generale. Sein unverbrüchliches Credo: Eine katholische Kirche könne nur dann nachhaltig den Armen das Evangelium vermitteln, wenn man ihr Freund ist. Deshalb unterstütze er bedingungslos die vom Vatikan über Jahrzehnte heftigst bekämpfte "Theologie der Befreiung". Sie hat er weniger als theoretische Lehre, sondern vielmehr als eine persönlich verpflichtende Haltung begriffen. So verkaufte Kardinal Arns etwa zu Beginn seiner Amtszeit (1966-1998) sein Bischofspalais und lies mit dem Erlös von 30 Millioen Euro Sozialstationen im Elendsviertel bauen.


Der Kardinal, dessen Vorfahren 1838 von der Mosel nach Brasilien kamen, gründete vor fünf Jahren die "Kommisson für Gerechtigkeit und Frieden". Außer Kirchen-leuten gehören ihr regimekritische Anwälte, Journalisten, Professoren und sogar Staatsanwälte ab. Der Autor des Buches über die Todesschwadronen, Bicudo, ist Kommissionsmitglied. Hauptsächliche Aufgabe dieser Gruppe ist die Verteidigung der politischen Gefangenen n Brasilien, gegenwärtig sind es 5.000. An seiner Entschlossenheit, den Kampf um die Menschenrechte kompromisslos zu führen, lässt Arns keinen Zweifel: "Wenn in einem Land ein Gesetz gebrochen wird, dann werden alle gebrochen."


In den jahrelangen Auseinandersetzungen mit dem Militärregime hat Kardinal Arns zwei merkwürdige Gesetzmäßigkeiten in der Technik und Methode der Unter-drückung entdeckt:


o Die Militärs gliedern ihre Verhaftungswellen nach Berufssparten: Mal sind die Professoren dran. mal die Rechtsanwälte, mal Künstler, mal Journalisten.


o Verhaftet wird mit Vorliebe am Freitagabend. Das verhindert Publizität in ausländischen Zeitungen.


Es war auch ein Freitagabend, als der jüdische Fernsehjournalist Vladimir Herzog aus Sao Paulo von der Geheimdienstabteilung der Zweiten Armee abgeholt werden sollte. Herzog, der in dieser Nacht noch eine Kultursendung moderieren wollte, konnte einen Aufschub bis zum nächsten Morgen erreichen Von seinen Kollegen verabschiedete er sich schließlich: "Ich gehe jetzt und werde wohl erfahren, was sie wollen. Ich habe nichts zu verbergen und nichts zu befürchten."


UM 8 UHR ERSCHIENEN - UM 15 UHR ZU TODE GEFOLTERT


Am Sonnabendmorgen um 8 Uhr 30 betrat er die Kaserne, am Sonnabendnach-mittag um 15 Uhr war er tot. Ein Journalist von der Zeitung "O Estado de Sao Paulo" hatte, als er unter Folter nach ihm bekannten Kommunisten befragt wurde, wahllos Namen aus dem Kollegenkreis genannt, um sich damit ein Ende der Schmerzen zu erkaufen. Herzogs Name war dabei gewesen.


Als der Fernsehmann tot war, mühte sich das Militär, den Mord als Selbstmord darzustellen. Ein Armeefoto wurde veröffentlicht, das den Journalisten aufgeknüpft mit seiner Krawatte am Gitter der Zelle zeigte. Eine Obduktion der Leiche wurde allerdings nicht zugelassen.


FOLTERSPUREN


Die jüdische Gemeinde zögerte, Herzog auf dem jüdischen Zentralfriedhof von Sao Paulo ehrenvoll zu beerdigen. Daraufhin erklärte der katholische Kardinal Arns, er werde für den toten Journalisten die Messe lesen. Arns wusste, dass die Selbstmord- version nicht stimmte. Die Ärzte im Krankenhaus, in dem Herzog aufgebahrt worden war, hatten dem Kardinal genau die Folterspuren an der Leiche beschrieben.


FOLTERKNECHT MIT EHRBARER DIRNE


Außerdem hatte einer der Folterer geplaudert. Er erzählte einer Freundin, einer Prostituierten, Einzelheiten der Todestortur ("Wir sind besser als die Gestapo"). Die Dirne war erschüttert von dem, was sie da erfuhr. und informierte am nächsten Tag den Kardinal. Als Arns in seiner Kathedrale im Zentrum von Sao Paulo die Gedenkmesse für den Journalisten Vladimir Herzog vorbereitete, drohte Staats-general Geisel: "Bei Unruhen muss hart durchgegriffen werden."


An einem Mittwochnachmittag um 15 Uhr sollte die Messe sein. Um 13 Uhr begann die Polizei die Zufahrtsstraßen zur Innenstadt Fahrzeugkontrollen vorzunehmen. Wagenpapiere wurden überprüft, Reifen und Beleuchtung kontrolliert. Der Einsatz hieß "Operation Gutenberg". In wenigen Minuten entstand in der nahezu Zehn-Millionen-Metropole ein solches Verkehrschaos, dass kein Fahrzeug mehr vorankommen konnte. Die Folge: Von den 30.000 Menschen, die sich aufgemacht hatten, um am Gottesdienst teilzunehmen, konnten nur 3.000 bis an die Kathedrale vordringen.


DIE MESSE ZUM TRIBUNAL


Von der Kanzel herunter machte Arns die Messe zum Tribunal über die Generale: "Es ist ungesetzlich, bei Vernehmungen von Verdächtigen physische, psychologische oder moralische Folter anzuwenden. Vor allem, wenn sie soweit getrieben werden, dass Verstümmelungen oder gar der Tod die Folge sind. Die ihre Hände mit Blut beflecken, werden verdammt."


Als die Messe beendet war, ermahnte der Kardinal seine Zuhörer, Ruhe zu bewahren. Zugleich gab er ihnen den Rat, nur in Gruppen den Heimweg anzutreten.