Donnerstag, 14. April 1977

In Memoriam: Befreiungskampf - Folter - KZ: Der Lebensweg der Ana Ines Quadros zu Montevideo vor vielen, vielen Jahren


















Eines von vielen Schicksalen - vergilbt, verdrängt, unkenntlich zu den Akten gelegt. Ana Ines Quadros Herrera (Foto 1977 und 2010) war eine von 7000 Frauen, die im südamerikanischen Gefangenenlager Punta Rieles eingekerkert, geschunden, gefoltert - zerbrochen wurden. Denunziert vom Ehemann im Streit um das Sorgerecht ihrer Kinder. Ana Ines kämpfte gegen die Militärdiktatur, wurde Mitglied der revolutionären, marxistischen Partido por la Victoria del Pueblo - eine Tragödie.


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stern, Hamburg
14. April 1977 / 04. September 2010
von Bericht von
Peter Koch, Reimar Oltmanns
und Perry Kretz
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Der Blick vom Balkon des Penthouse hat Postkartenqualität. Im sanften Bogen das weiße Sandufer der Playa Ramirez, mit langen Wellen dünt der Rio de la Plata den Strand hinauf. Teure Apartmenthäuser bilden den Hintergrund der Kulisse und schirmen sie gegen die schmuddelige City von Montevideo ab.

Die Traumwelt setzt sich im Inneren der Wohnung fort. Auf dem Parkett üppig verlegte Kashan- und Nain-Teppiche, ihr verhaltenes Leuchten weist auf antike Kostbarkeit. Italienische Meister aus dem 16. Jahrhundert geben dem Raum feierliche Strenge, die durch eine Kollektion verspielter Porzellanfiguren - Meißen, Sèvres, Wedgwood, Royal Kopenhagen - aufgelockert wird. Die aufgestellten Fotos im Silberahmen zeigen den Hausherrn mit Queen Elizabeth, Frankreich einstigem Präsidenten Georges Pompidou, mit Gustav Heinemann und Willy Brandt.

DIPLOMATEN-LEBEN

José Antonio Quadros (*1915+2004)hat ein langes Diplomatenleben hinter sich. Er hat sein Land Uruguay in den großen Zentren London und Paris und schließlich in Bonn vertreten. Die Familie der Quadros' gehört zum politischen Adel Südamerikas, einer der Vorfahren war Staatspräsident. Ehefrau Esther, eine geborene Herrera, kommt ebenfalls aus einer der ersten Familien: Ihren Namen trugen in Uruguay ein Präsident, ein berühmter Maler, ein Dichter. Nun haben die beiden sich für ihren Ruhestand im schönsten Stadtteil ihrer Heimatstadt Montevideo eingerichtet. Oft kommt ihre Tochter Mercedes zu Besuch, zartgliedrig, das ebenmäßige schöne Gesicht von langen schwarzen Haaren gerahmt. Mercedes hat noch eine Schwester, Ana Ines, ihr Foto steht auf dem Sofatischchen, lebhafte große Augen beherrschen das Porträt. Es ist ein Erinnerungsfoto, denn Ana Ines kann auf lange Jahre nicht in die Wohnung ihrer Eltern kommen. Sie sitzt. Sie ist im Konzentrationslager. Ihr Verbrechen war, dass sie eine eigene Meinung hatte; ihr Verhängnis war, dass sie einen Mann geheiratet hatte, der sie bei den Militärbehörden denunzierte, als die Ehe zu Bruch ging und es Streit um die Kinder gab.

AUS DEM BLDERBUCH

Als sie heiratete, war Ana Ines 18 Jahre alt. Ihr Mann war nur drei Jahre älter, verwöhnter Sohn der reichsten Industriellenfamilie in Uruguay mit riesigen Ländereien, Fabriken für Zellulose, Lebensmittel, Exportfirmen. Die junge Frau hieß nun Ana Ines Quadros de Strauch. Wenn sie ihre Eltern in Deutschland besuchte - der Vater war im Oktober 1972 als Botschafter nach Bonn versetzt worden - ging sie mit Schwester Mercedes zum Tennisspielen in den Amerikanischen Club in Bad Godesberg. Den Teams auf den anderen Plätzen fiel es dann schwer, sich aufs Spiel zu konzentrieren. - Das ist lange her.

NACH URUGUAY VERSCHLEPPT

Als Ana Ines 1976 in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires gekidnappt, gefoltert, nach Uruguay verschleppt, wieder gefoltert und schließlich ins Frauen-Konzentrationslager Punta Rieles gesteckt wurde, war sie gerade 31 Jahre alt geworden. Sie war inzwischen Mutter von einem Mädchen und zwei Jungen: Anes, 12. José Miel 10, und Martin,7.

Nach der Geburt ihres letzten Sohnes war die Ehe in eine Krise geraten. Es gab mehrere Gründe. Ana Ines suchte eine eigene Aufgabe, sie wollte sich nicht damit abfinden, als Ehefrau und Mutter in einem Luxushaus in den Tag hinein zu leben; im Wohlstand eingesperrt. Zwischen ihr und ihrem Mann kam es auch zu politischen Differenzen. In Uruguay gärte es, der Mann hatte kein Verständnis für ihren Ruf nach einer gerechteren Sozialordnung, Aus seiner Sicht der Dinge gehörte jeder hinter Schloss und Riegel, wer sich gegen die herrschenden Zustände aufbäumte.

Ana Ines begann Anfang der siebziger Jahre ein Jura-Studium an der Universität von Montevideo. Sie fand gleichsinnte Freunde unter den Studenten. Sie machte mit, als die jungen Leute in Flugblättern und Versammlungen gegen das immer unduldsamer werdende Regime, gegen die immer stärkere Vorherrschaft der Generäle agitierten. Ana Ines hatte sich dem radikal marxistischen Parteikader de la Victoria del Pueblo im Jahre 1973 angeschlossen, einer Organisation, die die Militärdiktatur zu Montevideo bekämpfte. Ana und Genossen sahen im bolivanischen Revolutionär Ernesto Che Guevara (*1928+1967 ) eines ihrer Vorbilder. Ihr Markenzeichen war antikapitalistisch, anti-autoritär. Sie träumte von Fabrikbesetzungen - hoffte auf einen "langen Marsch des Volkes". Ihr Trugschluss: Sie glaubte, die soziale Revolution stünde in Lateinamerika auf der Tagesordnung - mitnichten.

MILITÄRPUTSCH

Anfang 1974 kamen die Eltern von Ana Ines nach Uruguay zurück. Der Vater hatte in Bonn unter Protest sein Amt aufgegeben. Nach dem Militärputsch und der zwangsweisen Auflösung des Parlaments im Juni 1973 hatte José Antonio Quadros dem Marionetten-Präsidenten Juan Marie Bordaberry (1972-1976) geschrieben, er wolle angesichts der undemokratischen Verhältnisse in Montevideo nicht länger sein Land im Ausland vertreten. Der Brief indessen blieb ohne Antwort. Auch sein zweites Schreiben. Daraufhin hatte José Antonio Quadros die Koffer gepackt und war mit seiner Frau einfach nach Hause geflogen. Er konnte es sich leisten, den Diplomatenjob wegzuwerfen. Ihm gehört eine große Hazienda in Uruguay.

Als die Eltern in Montevideo waren, trennte sich Ana Ines endgültig von ihrem Mann, Die Kinder nahm sie mit und gab sie ihren Eltern in Obhut.


EHEMANN GING ZUR POLIZEI

Ihr Ehemann ging zur Polizei. Dort gab er wider besseres Wissen zu Protokoll: Ana Ines habe Verbindungen zu Terroristen, sie sei eine Staatsfeindin. Mit seinen Denunziationen wollte er das alleinige Sorgerecht für die Kinder bekommen. Ana Ines musste fliehen. Sie ging nach Argentinien. Mit ihr flohen viele der Studenten, die nach dem Staatsstreich der Militärs fürchten mussten, für ein paar Flugzettel oder spontane Reden eingesperrt zu werden. Das was im Dezember 1973.

JAGD AUF STAATSFEINDE

Schwester Mercedes und die Eltern besuchten Ana Ines öfters, von Montevideo nach Buenos Aires ist es eine knappe halbe Stunde im Linien-Jet. Sie erzählten von den Kindern , die jetzt beim Vater waren und nur manchmal zu Besuch kamen. Ana Ines wollte zurück. Sie hatte zuletzt auch in Buenos Aires Angst. Seit dem 24. März 1976 war in Argentinien ebenfalls ein Offizier an der Macht, General Jorge Rafael Videla (1976-1981). Die Geheimdienste aus Uruguay und Argentinien arbeiteten jetzt eng zusammen bei der Jagd auf "Staatsfeinde". Täglich "verschwanden" Menschen spurlos, niemand wusste, was mit ihnen geschehen war. Über 30.000 Oppositionelle sollen erschossen, zu Tode gefoltert worden sein. Es waren nicht nur Argentinier, sondern in ständig steigender Zahl auch im Exil lebende Uruguayer.

UNO-Offizielle schätzen heute die Gesamtzahl der in Argentinien gekidnappten Uruguayer auf 800 Personen. In jener Zeit wurden auch zwei in Argentinien lebende uruguayische Politiker, der Ex-Senator Zelmar Michelini (*1924+1976) und Ex-Parlamentspräsident Héctor Gutiérrez Ruiz (*1934+1976) ermordet, weil sie Dokumentationen über die Verletzung der Menschenrechte in Uruguay nach USA und England geschickt hatten.

LETZES LEBENS-ZEICHEN

Mercedes Quadros besuche ihre Schwester Ana Ines noch einmal im Mai 1976. Sie riet ab, nach Montevideo zurückzukommen. Da sei die Gefahr für sie noch größer. In der Nacht zum 13. Juli 1976 war Ana Ines dran. Sie wurde auf der Straße gegriffen. Ehe ihre Häscher sie in ein Auto zerren konnten, schrie sie ein paar Passanten ihren Namen zu. Das war das letzte, was von ihr gehört wurde.

Die Zeitung Buenos Aires Herald berichtete über den Vorfall. Im Vergleich zu Uruguay ist in Argentinien die Presse noch relativ frei. Daraufhin flog der Vater von Ana Ines sofort in die argentinische Hauptstadt. Er fragte das Rote Kreuz, den uruguayischen Botschaftrer, alarmierte das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für das Flüchtlingswesen, das in Buenos Aires in der Sùipacha 280, mitten im Einkaufsviertel, untergebracht ist. - Niemand konnte ihm sagen, was mit seiner Tochter geschehen war.

VERSTÜMMELTE MENSCHEN

Wochen vergingen mit hoffnungslosen Suchaktionen und langem Warten. Es war die Zeit, in der fast täglich aus dem Grenzfluss Rio de la Plata Leichen gefischt wurden, verstümmelte Menschen mit entstellten Gesichtern und abgehackten Händen, um eine Identifizierung unmöglich zu machen.

Was Ana Ines Quadros nach ihrer Festnahme durchmachen musste, geht aus dem Bericht eines Augenzeugen hervor. Enrique Rodriguez Larreta (*1921+1977), Enkel des Gründers der Blancos-Partei, einer der traditionellen politischen Gruppierungen im einst demokratischen Uruguay, hat diesen Report Anfang 1977 verfasst. Und das kam so:

AUF DER SUCHE NACH KINDERN

Auch Laretta suchte im Juli 1976 in Buenos Aires sein Kind, seinen 26 Jahre alten Sohn Enrique Rodriguez Larreta Martinez. Der Junge war bis 1972 in Uruguay Studentenführer gewesen. Dann hatte ihn die Armee gegriffen und hinter Gittern gesetzt. Doch damals funktionierte in Uruguay noch halbwegs der Rechtsstaat. Der Prozess gegen den Jungen musste aus Mangel an Beweisen eingestellt werden. Dennoch wollte der Ex-Studentenführer nun nicht mehr länger in Uruguay bleiben. Er siedelte mit seiner Frau Raquel Nogueira Paullier nach Argentinien über, nahm einen Job bei der Zeitung El Cronista Comercial an und lebte legal angemeldet in der Straße Victor Martinez 1488 in Buenos Aires. Am 1. Juli 1976 plötzlich wurde der Vater, der in Montevideo geblieben war, von seiner Schwiegertochter angerufen. Sie sagte ihm , dass sein Sohn spurlos verschwunden sei.

Vater Larreta flog nach Buenos Aires, machte sich auf die Suche. Er sprach mit Dr. Mones Ruiz vom Hohen Kommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Naionen und dem Militärvikar, hatte Termine beim Subsekretariat der Episkopalen Konferenz und bei der Justizkammer. Doch keiner konnte ihm einen Hinwies auf den Verbleib seines Sohnes geben.

Schon fast zwei Wochen dauerte die Suche. Während dieser Zeit lebte der Vater im Haus seines Sohnes und seiner Schwiegertochter in der Victor Martinez 1488. In der Nacht vom 12. zum 13. Juli 1976 wurde plötzlich die Eingangstür des Hauses aufgebrochen, ein Dutzend bewaffneter Männer stürmten in das Gebäude, fesselte Schwiegertochter und den Vater Laretta und verschleppten beide.

GARAGE IN BUENOS AIRES

Die zwei waren Opfer eines Großeinsatzes argentinischer und uruguayischer Geheimpolizei gegen in Buenos Aires lebende Uruguayer geworden, die mit Zeitungsartikeln, Broschüren und Reden die Unterdrückung in ihrem Heimatland angeprangert hatten. In derselben Nacht wurde Ana Ines Quadros gekidnappt. Alle Gefangenen wurden in dasselbe Verlies gebracht, eine kleine Garage in der Straße Venacio Flores in Buenos Aires. Ein paar Gefangene aus früheren Einsätzen waren schon hier. Allen waren die Augen verbunden, die Hände auf den Rücken gefesselt. Das sollte so bleiben, für Tage, für Wochen.

In den nächsten Stunden lernte der alte Larreta seine Leidensgefährtin kennen. Er sprach mit Ana Ines. Eine junge Mutter, Sara Rita Mendez, schilderte ihm ihr Schicksal. Bei der Festnahme hatte man der Frau ihr Baby weggenommen, der kleine Simon Lompodio Riquelme war gerade 2o Tage alt gewesen. Und in dieser Garage fand Larreta auch seinen Sohn wieder. Er erkannte ihn an seiner Stimme.

ÖL, DRECK, SÄGESPÄHNE

Insgesamt waren an die dreißig Gefangene in diesem Loch, Männer und Frauen. Es gab nur ein einziges Klo gleich rechts neben dem Eingang. Geschlafen wurde auf dem Fussboden, er war voll Öl, Dreck und Sägespänen. Es gab, besonders in den ersten Wochen, wenig zu trinken, fast nichts zu essen. Manchmal stellten die Soldaten einen Eimer mit Wasser in den Raum und eine Schüssel mit Kartoffeln. Nur dann wurden den Gefangenen für kurze Zeit die Fesseln abgenommen. Was in der Garage an Schrecklichem geschah, hat Larreta in seinem Bericht festgehalten. Es heißt daran wörtlich:

BARBARISCH GEFOLTERT ... ...

"Mehrere der Anwesenden brachte man gleich nach meiner Ankunft zum ersten Stock, wo sie vernommen werden sollten. Fürchterliche Schreie hallten kurz darauf durch das Haus, offensichtlich wurden sie barbarisch gefoltert. Dies bestätigte sich, als sie wieder runtergebracht wurden. Die Wächter schleppten sie rein. Man hörte Klagen und Stöhnen. Sie wurden auf den Zementfussboden geworfen, es wurde uns verboten, ihnen Wasser zu geben, weil sie in der 'Maschine' waren, wie die Wächter sagten."

AN HANDGELENKEN AUFGEHÄNGT

"Am darauffolgenden Abend brachte man mich in die oberen Stockwerke, wo ich unter Folter verhört wurde. Ich musste mich ganz ausziehen, und ich an den Handgelenken aufgehängt, zirka 20 bis 30 cm über dem Boden. Gleichzeitig bekam ich eine Art Lendenschurz mit mehreren elektrischen Anschlüssen. Wenn er angeschlossen wird, bekommt man Stromstöße an mehreren Teilen des Körpers gleichzeitig, besonders an den sensibelsten Zonen. Diesen Apparat nannten sie 'Maschine'. Der Fussboden , über dem die Gefangenen aufgehängt werden, ist sehr nass und mit groben Salzkristallen bestreut. Dies soll den Zweck erfüllen, die Folterungen fortzusetzen, falls der Gefangene es schafft, die Füsse auf den Boden zu stellen. Die Stromschläge sind dann noch heftiger, und die groben Salzkristalle schneiden die Haut auf. Manche meiner Mitgefangenen rutschten aus der Fesselung und fielen zu Boden, wobei starke Verletzungen eintraten. Ich erinnere mich besondes an den Fall einer Frau, die, wie ich später erfuhr, Edelweiß Zahn des Andrés hieß. Sie hatte Schnittwunden an der Schläfe und an den Knöcheln, die sich später entzündeten."

PORTRÄT VON ADOLF HITLER

"Während ich gefoltert wurde, fragten sie mich über die politischen Aktivitäten meines Sohnes aus und über eine 'Partei für den Sieg des Volkes', in der mein Sohn angeblich Mitglied war. Wegen des starken Schweißausbruchs löste sich meine Augenbinde etwas, und an einer Wand konnte ich ein Porträt von Adolf Hitler erkennen."

"Ich kann nicht genau sagen, wie lange ich gefoltert wurde. Ich glaube, es war ungefähr eine halbe Stunde. Andere aber wurden nach meiner Einschätzung zwei bis drei Stunden gefoltert."

VERHÖRE DES CID-GEHEIMDIENSTES

Geleitet wurden die Folter und Verhöre von Offizieren des CID, des uruguayischen Geheimdienstes. An ihrer Spitze stand ein Major Gavazzo, vermutlich der Verantwortliche des ganzen Kidnapping-Unternehmens. Tatsächlich war Major José Nino Gavazzo Chief Operating Officer der Information Service Defensa de Uruguay. Als solcher war er direkt verantwortlich für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit; 140 Uruguayer blieben unauffindbar. Beteiligt waren außerdem auch Offiziere der uruguayischen Armee. Sie redeten sich vor den Gefangenen mit Oscar an und setzen dahinter eine Nummer, die wohl dem Rang entsprach. Oscar I jedenfalls ein Mann von untersetzter Statur und weißem Haar, etwa 45 Jahre alt, war offensichtlich der Ranghöchste. Er gab die Kommandos.

Als Ana Ines zum erstenmal an der Reihe war, wurde sie nach einer Stunde ohnmächtig auf den Garagenboden geworfen. Sie kam in den folgenden Tagen noch öfters dran. Die Eingekerkerten dämmerten in der Garage dahin. Wann es Tag war, konnten sie an den Geräuschen von draußen erkennen. Sie hörten den Lärm spielender Kinder auf einem nahegelegenen Schulhof. Das Rattern der Züge zeigte an, dass dicht am Folterhaus eine Bahnlinie vorüberführte.

"KOPF SAUBERMACHEN"

Am 19. Juli 1976, gegen Abend, schleppten die Soldaten einen großen Tank in die Garage. Den Entführten wurden die Binden abgenommen. Die Soldaten sagten, man werde ihnen in dem Tank "den Kopf saubermachen". Dann stürzten sie sich auf einen der Gefangenen, Carlos Santucho. Er war ein junger Argentinier, etwa 20 Jahre alt. Sein Verbrechen bestand daran, dass er der Bruder des Guerillakämpfers Mario Roberto Santucho (*1936+1976) war. Carlos selbst war nie politisch aktiv gewesen.

IN TANKS VERSENKEN

An diesem 19. Juli 1976 war sein Bruder Mario Roberto bei einem Feuergefecht ums Leben gekommen. Ein Hauptmann der argentinischen Armee war ebenfalls getötet worden. Carlos Santucho wurde mit Ketten an Händen und Füssen gefesselt, dann über ein Laufrad, das an der Garagendecke befestigt war, hochgehievt und in den Tank versenkt. Ein paarmal wurde er kurz vor dem Ersticken hochgezogen. Die Soldaten prügelten auf ihn ein. Dann versenkten sie ihn wieder. Die anderen Gefangenen sahen, wie Carlos unter Wasser zuckte, dann still liegen blieb. Den leblosen Körper zogen die Soldaten hoch, schmissen ihn in den Kofferraum eines Wagens und fuhren ihn weg. Unter denen, die die Marter von Carlos mit ansehen mussten, war auch seine Schwester Manuela Santucho.

PLÜNDERUNGEN

Eine Woche später, am 26. Juli 1976, wurde den Gefangenen mitgeteilt, sie würden jetzt woanders hingebracht. Nun wurde ihnen auch noch mit Klebestreifen der Mund verklebt. Sie mussten auf einen Lastwagen klettern und sich hinlegen. Dann deckte man Bretter über sie, die von den Seitenwänden des Lkw gehalten wurden. Auf die Bretter luden die Soldaten Kisten und Pakete. Sie unterhielten sich über den Inhalt: Fernsehapparate, Kühlschränke, Schreibmaschinen, Haushaltsgeräte, Fahrräder, Bücher - alles Dinge, die sie bei ihrer Nacht-und-Nebel-Aktion in den Häusern ihrer Opfer geplündert hatten. Die Soldaten lachten. "Erobert auf dem Schlachtfeld!" Und sie riefen sich zu, dies sei schon die vierte Fuhre.

Der Lkw fuhr dann mit großem Tempo los, vorweg Motorräder und Personenwagen mit Sirene. Nur zwei Mann aus der Gruppe der Entführten blieben zurück. Noch wusste niemand, was das zu bedeuten hatte. Auf einer Militärbasis in der Nähe des Stadtflughafens von Buenos Aires mussten die Gefangenen in ein Flugzeug steigen. Enrique Rodroguez Larreta konnte unter der Augenbinde hindurch erkennen, dass es eine Propellermaschine der uruguayischen Luftlinie PLUNA war, Typ Fairchild. Nach einer Stunde Flug landete die Maschine auf einer Militärbasis neben dem Flughafen Carrasco von Montevideo.

"ZIMMER MIT EIMER
"

Außer der Tatsache, dass sie in Uruguay waren - nicht freiwillig, sondern verschleppt -, änderte sich nicht viel für die Gefangenen. Sie kamen ins Haus, blieben in Handschellen , behielten eine Binde vor den Augen, wurden weiter gefoltert: Stromstöße, Peitschenhiebe und "U-Boot", das Eintauchen des Kopfes unter Wasser bis fast zum Ersticken. Den Raum, in dem die U-Boot-Folter stattfand, nannten die Schergen "das Zimmer mit dem Eimer".

Ab 23. August 1976 hörten die Foltereien auf. Später sollte die Gruppe auch erfahren, weshalb die Soldaten so lange versucht haben, aus ihnen Geständnisse über geheime Waffenlager, die es nicht gab, und über geheime Staatsstreiche, die es auch nicht gab, heraszupressen. Zwei der Gekidnapten waren schon bei den Verhören in Argentinein übergelaufen: Um ihre Freiheit zu erkaufen, hatten sie den anderen angedichtet, einen Umsturz zu planen. Als die uruguayischen Schergen schließlich einsehen mussten, lauter harmlose Oppositionelle eingefangen zu haben, suchten sie nach einem Ausweg.

Eines Tages machte Major José Nino Gavazzo, der schon in Buenos Aires dabeigewesen war, seine Opfer auf ihre neue Lage aufmersam: Die Sicherheitskräfte Uruguays hätten sie vor "den argentinischen Mördern befreit, die euch nach oben schicken wollten, um die Harfe mit Petrus zu spielen."

INVASION VORTÄUSCHEN

Gavazzo, das wurde den Gefangenen schnell klar, wollte etwas von ihnen. Er schlug ein Abkommen vor, das ihre Anwesenheit in Uruguay erklären sollte: Die Gefangenen sollten in der Nähe von Port Negro eine Invasion vortäuschen, sie würden dann von den urugayischen Streitkräften "entdeckt". Wenn sie dies später vor Gericht zugäben, bekämen sie höchstens 15 bis 30 Jahre Haft. Wenn sie nicht mitmachten , könne er sie erschießen lassen. Gavazzo zeigte auf zwei Soldaten mit MP, die er mitgebracht hatte. Er brauchte dann nur die Blutspuren abwaschen zu lassen und die Einschüsse in den Wänden zu füllen. Niemand wisse ja etwas von ihrem Verbleib.

Die Gefangenen lehnten ab. Sie erklärten Gavazzo, sie würden überhaupt kein Abkommen unterschreiben, solange nicht das Baby der jungen Rita Mendez herbeigeschafft sei.

KUHHANDEL: SUBVERSIVE VEREINIGUNG

Ende September kam Major Gavazzo mit einem neuen Vorschlag: Die Armee werde eine Gruppe der Gefangenen, darunter Ana Ines Quadros, bei einem "konspirativen Treffen" überraschen. Sie kämen dann unter Anklage , einer "subversiven Vereinigung" anzugehören. Der andere Teil der Gruppe werde in verschiedenen Hotels in Montevideo, wo sie sich mit falschem Namen registriert haben müssten, verhaftet werden. Diese Leute kämen nur wegen "Unterstützung einer subversiven Vereinigung" unter Anklage.

GNADENGESUCH

Auch als Gegenleistung wurde jetzt mehr versprochen: sechs bis 18 Jahre Haft höchstens, überdies nach drei Jahren die Möglichkeit, ein Gnadengesuch einzureichen. Rita Mendez überredete ihre Leidensgefährten einzuwilligen. "Ich habe mein Baby nur 20 Tage gekannt", sagt sie, "jetzt sind schon fast vier Monate vorbei, ich würde es ja nicht einmal wiedererkennen." (Heute sitzt Rita Mendez im Frauen-KZ Punta Rieles und ist psychisch schwer krank aus Sehnsucht nach ihrem Kind, das sie nie mehr wiedersah.)

FILM-SZENEN AUS EINEM BADEORT

Am 23. Oktobr 1976 lief die Posse an. Ana Ines und vier weitere wurden in ein Haus im Badeort Shangrilla nahe Montovideo gebracht. Die Armee umstellt das Haus. Von Fernseh-Kameras gefilmt, wurden die fünf zur "Kapitulation" gezwungen und verhaftet. Im Eifer des Gefechts nahm die Armeegruppe gleich auch noch die in zivil gekleideten Soldaten fest, die im Haus die Überwachung der fünf übernommen hatten. Noch immer wussten die Eltern von Ana Ines nichts über den Verbleib ihrer Tochter, sie wussten nicht einmal, ob sie überhaupt noch lebte. José Anonio Quadros, der Ex-Botschafter von Bonn, wollte nun nach Washington fliegen, um vor dem US-Kongress das Los seiner Familie zu schildern und die Machthaber seines Landes anzuklagen.

Das Flugticket war für den 29. Oktober 1976 gebucht. Am Vorabend des Abfluges, am 28. Oktober gegen 17 Uhr, brachte das uruguayische Fernsehen die Meldung, dass eine große Verschwörergruppe von den Sicherheitskräften des Landes ausgehoben worden sei. Dazu lief der Fernsehbericht mit dem im Badeort Shangrilla gefilmten Kriegsspiel. Weitere "Staatsfeinde" seien in Hotels von Montevideo festgenommen worden (Tatsächlich hatten die neun für diese Aktion vorgesehenen Gefangenen gar nicht das Folterhaus verlassen dürfen, ihre Rollen hatten weibliche Polizistinnen und Soldaten in Zivil übernommen).

Auf dem Fernseher erkannte José Antonio Quadros seine Tochter wieder. Nach vier Monaten Ungewissheit wusste er wenigstens, dass sein Kind noch lebte.

José Quadros, selbst Jurist, schrieb sofort an die Militärbehörden, er wolle die Verteidigung seiner Tochter übernehmen. Er bekam nie eine Antwort. Ana Ines Quadros erhielt einen Militäranwalt zugewiesen. Sie wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt.

Wochen später erfuhren dann die Quardos' auch den Aufenthaltsort ihrer Tochter. Ein Soldat kam vorbei mit einer Liste persönlicher Dinge, die Ana Ines brauchte: Zahnbürste, Decken, Wäsche. Der Soldat sagte den Eltern, ihre Tochter sitze in Punta Rieles.

Am 18. Dezember 1976 sahen die Quadros' ihre Tochter zum erstenmal wieder, im Besucherzimmer des KZ. Ihre Haare waren auf fünf Zentimeter Länge gestutzt, sie sah bleich aus. Das Gespräch musste schreiend geführt werden, Eltern und Tochter saßen einige Meter auseinander. Zwischen ihnen hockte ein Soldat.

Alle vierzehn Tage ist nun ein Treffen in der Zelle gestattet. Besuchszeit: 30 Minuten.

Am 22. Dezember 1976 wurde Enrique Rodriguez Larreta(*1921+1977) freigelassen. Trotz aller Folter - die Narben sind noch heute an seinen Handgelenken sichtbar - hatten die Militäs aus Larreta nicht mehr herauspressen können, als dass er auf der Suche nach seinem Sohn gewesen war, als er im Haus seiner Schwiegertochter verhaftet wurde. Larreta ließ sich trotz immenser Schmerzen nicht einschüchtern. Er hielt stand.

Nach seiner Freilassung blieb Laretta nur noch wenige Wochen in Montevideo. Er hatte sich entschlossen, Uruguay zu verlassen, um im Ausland auf die schlimme Lage in seiner Heimat hinzuweisen.

Oft fuhr Larreta während seiner letzten Wochen nach Uruguay raus zum KZ Libertad. Dort ist sein Sohn eingesperrt, wegen angeblicher "Mitgliedschaft einer subversiven Vereinigung". Der Junge hat jetzt die Gefangenennummer 2126, er sitzt im dritten Stock, Sektion B. Am 8. Februar besuchte der Vater ihn zum letzten Mal. Laretta flog dann nach Genf, schrieb dort den Bericht über das Schicksal der Gefangenengruppe minuziös nieder. Die Dokumentation überreichte er Prinz Aga Khan (*1933+2003), dem UN-Hochkommissar für das Flüchtlingswesen (1965-1977). Aga Khan versprach, er werde diesen Fall aufgreifen.

Doch Erfolg hatte der Prinz nicht. Ein halbes Jahr später erklärte der Leiter der südamerikanischen Sektion für das Flüchtlingskommissariat, George Koulischia, auf Anfrage: "Wir unternehmen permanent Anstrengungen in dieser Sache. Doch über den Erfolg können wir nichts sagen, denn wir müssen diskret bleiben."

Immerhin fand Koulischia, dass der von Laretta geschilderte Fall der Ana Ines Quadros besonders bedeutend sei, denn: "Es handelt sich um ein menschliches Wesen." - Na denn ... ...