Donnerstag, 8. Januar 1976

Lebensbruch, Karriere-Ende - Jäh gescheitert am Verrat. Der steile Absturz des Helmut Kasimier




















Ein Stigma des ewigen Verlierers klebt seit mehreren Jahrzehnten an den Fersen des Helmut Kasimier. Er scheut die Öffentlichkeit, meidet Auftritte, vor Kameras flüchtet er. Es ist die tragische Geschichte eines SPD-Politikers, der als Ministerpräsident des Landes Niedersachsen im Jahre 1976 ganz nach oben wollte und nach zwei missglückten Anläufen ganz unten landete - sich von der Politik verabschiedete; menschlich, seelisch an diesem anonymen Verrat fast zerbrach; zur Strecke gebracht von eigenen Parteigenossen. Mit Kasimiers Abgang ging zugleich die Ära der Nachkriegs-Hilfsarbeiter in der Sozialdemokratie zu Ende. Seither ist der öffentliche Dienst unaufhaltsam im Vormarsch. Aus deutschen Landen der Zeitgeschichte
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stern, Hamburg
08. Januar 1976
von Reimar Oltmanns
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Schützenfeste, Schulterklopfen sind Helmut Kasimier ein Greuel. Jedesmal, wenn Hannovers SPD-Genossen mit Bundesminister Egon Franke (*1913+1995) und einem Spielmannszug an der Spitze ins Bierzelt ziehen, um "die Basis zu mobilisieren", setzt sich der Sozialdemokrat nach Hause ab. Die Herren vom Kleinkaliber sind ihm ebenso fremd wie das "ewige Schulterklopfen" bei Honoratioren-Treffen. Daran soll sich auch nichts ändern, wenn der 49jährige SPD-Politiker am 14. Januar 1976 zum niedersächsischen Ministerpräsidenten gewählt wird. Helmut Kasimier: "Ich bin keine Betriebsnudel, die sich bei allen möglichen Veranstaltungen sehen lässt."
SILBERNE HOCHZEIT, REGIERUNGSCHEF
Kasimier und seine Frau Juliane (Lia),52, sitzen auf dem Kanapee in ihrem Atrium-Reihenhaus in Hannover-Bothfeld. Frau Lia schaut ihren Helmut an und bemerkt stolz: "Das war schon ein Jahr, dieses 1975. Erst unsere silberne Hochzeit, und nun wird du auch noch Ministerpräsident." Auf dem Karussell für die Nachfolge von Ministerpräsident Alfred Kubel, 66, (*1909+1999; Spitzname "Das Ekel") hat der gelernte Großhandelskaufmann Helmut Kasimier zwar immer gesessen, aber so recht hat er nie daran geglaubt, zum Regierungschef gekürt zu werden. Er profitierte davon, dass zwei ehrgeizige Mitkonkurrenten schon vor der Entscheidung das Handtuch warfen. Der als Wirtschafts- und Sozialminister erfolgreiche Helmut Greulich, 52, (*1923+1993) musste seine Ansprüche nach einem Herzinfarkt aufgeben. Und Karl Ravens,48, (Bundesminister für Raumordnung und Städtebau 1974-1978) zog es vor, unter Helmut Schmidt als Bundeskanzler (1974-1982) als einer von vielen zu dienen, statt in Hannover erster Mann zu werden - vorläufig zumindest.
GENERATION: HILFSARBEITER
So blieb Helmut Kasimier übrig - ein Mann, der sich in den Nachkriegswirren zunächst als Bauhilfsarbeiter durchschlug, bevor er im Verlag der SPD-eigenen "Hannoverschen Presse" die Zeitungspakete als "Packer vom Dienst" versandfertig machte. Im Arbeiterviertel Hannover-Linden, wo heute noch 61 Prozent SPD wählen, 87 Prozent der user kein eigenes Bad und viele das Plumpsklo auf dem Hinterhof haben, meldete sich Kasimier am 1. Mai 1947 bei der SPD. Mit einer anderen Partei hatte er nie etwas im Sinn gehabt. Denn schon sein Vater Franz, der Maurer war, hatte als treuer Genosse Straßenkämpfe gegen die Nazis mitorganisiert und war deshalb von der SS ins Gefängnis gesteckt worden.
DER KASSIERER
Nach dem Partei-Eintritt bekam Helmut Kasimier gleich einen Posten. Er wurde Kassierer im Ortsverein. Der SPD-Mann pflichtbewusst: "Nach einer Woche musste ich schon die Mitgliedsbeiträge von über hundert Leute einsammeln." - Erfolgsmomente. Damit war der Grundstein seiner Karriere gelegt. Ein Jahr später stieg er zum Jusos-Sekretär auf und sang auf den Bundeskongressen mit den Junggenossen Klaus Schütz (Regierender Bürgermeister von Berlin 1967-1977) und Werner Buchstaller (*1923+1989 ; Vorsitzender des Bonner Verteidigungsausschusses im Bundestag 1975/1976) inbrünstig die "Internationale".
LIA AUS PRAG IN DER PARTEI
In der SPD-Zentrale, die damals in Hannover angesiedelt war und vom damaligen Parteichef Kurt Schumacher (1946-1952; *1895+1952) regiert wurde, lernte er 1949 seine Frau Lia Hellmich kennen - eine Deutsche aus Prag, die nach Hitlers Einmarsch mit ihrer Familie nach Schweden emigrieren musste, weil ihr Vater SPD-Funktionär war. Wie die meisten Deutschen musste sich das Ehepaar Kasimier und die 1950 geborene Tochter Karin mit einer nur 40 Quadratmeter großen Wohnung begnügen. Für Akten und Dokumente gab es kaum Platz. Sie wurden bald sogar im Schlafzimmer gestapelt.
GROSSE WOHNUNG, GRÖSSEREN EINFLUSS
Mit der Größe der Wohnung wuchs in den folgenden Jahren auch Kasimiers Einfluss in der Partei. 1963 wurde er Landtagsabgeordneter in Hannover. Vier Jahre später stieg er zum SPD-Fraktionschef im niedersächsischen Parlament auf. Im Hauptberuf brachte er es zum Geschäftsführer der "Union Boden", einer städtischen Siedlungs-GmbH mit Millionenumsatz. Und im Jahre 1974 avancierte er dann gar im Finanzminister. Der Durchbruch war da und von niemanden mehr zu nehmen. Frau Lila schaut melancholisch drein. Sie sagt: "Wir können nicht vergessen, dass wir die erste Butter, die wir überhaupt in unserem Leben gegessen haben, auf Marken bekamen. Damals verdiente mein Mann Helmut 230 Mark. Jetzt wird er als Ministerpräsident 10.000 Mark monatlich bekommen. Deshalb werden wir aber nicht unsere Arbeiterherkunft verleugnen." Schwindelgefühle.
UNAUFRICHTIGKEITEN . . . . . .
Für Unaufrichtigkeiten haben die Kasimiers nichts übrig, Deshalb geriet Parteifreund Egon Franke (Bundesminister 1972-1972) bei ihnen in Misskredit. "Unter den Genossen", sagt Frau Lia, "rühmt er sich immer ein Atheist zu sein. Im Bundestag schwor er dann aber als Minister den Eid auf die Verfassung mit dem Zusatz 'so wahr mir Gott helfe'". Kasimier gehörte seit 1970 zur Fronde, die Franke aus dem Sattel des hannoverschen SPD-Bezirkschefs gab.
MACHTKÄMPFE ENTSCHÄRFT
Doch als die Franke-Gegner für eine sozialistische Gesellschaftsordnung plädierten und der neugewählte SPD-Landeschef Peter von Oertzen (1970-1993 *1924-+2008) die Übertragung des jugoslawischen Modells der Arbeiterselbstverwaltung auf die Bundesrepublik im Prinzip nicht unmöglich" bezeichnete, als Egon Franke sich daraufhin mit seinen Mannen in die Kneipen zurückzog ("Mit dem Oertzen werde ich nicht mehr reden") und auf "Rache" sann, war es Helmut Kasimier, der den Krach einigermaßen beilegen konnte. Der damalige Fraktionschef brachte die in Flügel zerstrittenen Genossen, die von 1970 bis 1974 mit nur einer Stimme Mehrheit (SPD: 75, CDU: 74) regierten, in mühseligen Gesprächen immer wieder auf eine Linie. - Kärrnerarbeit. Die Linken beschwor er, sich "unmissverständlich von den Kommunisten abzugrenzen und nicht alles auf den Kopf stellen zu wollen", und an die Adresse der Rechten richtete er den Appell, "nicht die Theorie zu verteufeln und den Pragmatismus für heilig zu erklären".
HAUCHDÜNNE MEHRHEIT - ZITTERPARTIE
Einem zukünftigen Ministerpräsidenten Helmut Kasimier trauen die Genossen daher zu, den Koalitionspartner FDP bei der Stange zu halten. Denn die SPD, die seit 1974 nur noch 67 Parlamentssitze hat, ist auf die 11 Volksvertreter der FDP angewiesen, um an der Macht zu bleiben (CDU: 77 Sitze). Deshalb findet Kasimier über den Chef der Liberalen und Innenminister Rötger Groß (Innenminister 1974-1976 und 1977-1978; *1933+2004) nur gute Worte. "Ein solider Koalitionspartner und fleißiger Mann." Die SPD/FDP-Regierung muss außerdem 1976 mit einer Rekordverschuldung des Landes von 2,96 Milliarden Mark fertig werden, die unter anderem durch den forcierten Neubau von Universitäten und Schulen sowie deren Folgelasten hervorgerufen worden ist. Die unpopuläre Konsequenz: Ab 1977 können keine zusätzlichen Lehrer mehr eingestellt werden.
ZUM ERFOLG VERDONNERT
Helmut Kasimier weiß, dass er Erfolg haben muss, wenn er die Landtagswahlen 1978 gewinnen will. In der hannoverschen Parteizentrale ist es kein Geheimnis, dass er das Kabinett deshalb schlagkräftiger machen und die glücklosen Minister Ernst Gottfried Mahrenholz (Kultus 1974-1976), Hans Schäfer (Justiz 1970-1976; *1913+1989) und Herbert Hellmann (Bundesrat 1970-1976 ) ablösen möchte. Doch zur Kabinettsumbildung wird es so bald noch nicht kommen. Denn im Landtag ist Kasimier auf jede die Stimme aus dem SPD/FDP-Lager angewiesen - und gefeuerte Minister sind bei Abstimmungen unsichere Kantonisten.
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POSTSCRIPTUM - Über ein etwaiges Kabinettsrevirement jedenfalls musste Helmut Kasimier keine Gedanken verlieren. Seine politische Ära in Niedersachsen war schon zu Ende noch ehe sie auch nur begonnen hatte. Bei der Wahl im Landtag am 14. Januar 1976 erhielt er nur 75 Stimmen und damit nicht die erforderliche Mehrheit 78 Stimmen von SPD und FDP. Seinem Gegenkandidaten Ernst Albrecht (CDU) indes fehlte nur ein Votum. Am kommenden Tag wurde Ernst Albrecht (1976-1990 ) mit Hilfe von drei mutmaßlich bestochenen anonymen Überläufer aus der SPD-FDP-Koalition zum Ministerpräsidenten gewählt. Damit begannen für die Sozialdemokraten 14 lange Oppositionsjahre in Hannover - das Ende der sozialliberalen Ära in der Bundesrepublik hatte sein erstes Exempel. Judas-Opfer Helmut Kasimier war seinerzeit "menschlich schwer gekränkt, seelisch traumatisiert, vom allgegenwärtigen Misstrauen - einer Hab-Acht-Stellung" gezeichnet. Er zog sich imselben Jahr ganz aus der Politik zurück. Keine Interviews, keine Pressegespräche mehr. Kontaktverbot. Seither ward Kasimier in der Öffentlichkeit kaum noch gesehen. Nur gelegentlich wagt er sich noch in SPD-Ortsvereine ländlicher Provinzen. Da hockt er dann im hinteren Kneipenstübchen, etwa im "Lindenhof" zu Emden oder bei der Arbeiterwohlfahrt in Edemissen am Hämeler Wald. Er bittet um Verständnis, dass er sich und seinem Lebensthema treu geblieben ist. "Dunkelmänner aus den eigenen Reihen" damals wie heute. Am 16. April 2013 ist Helmut Kasimier   in Hannover gestorben.