Donnerstag, 4. November 1976

Sorgen des Arbeitsrichters Michael Vogel





















Gruppenbild mit Robe: zehn der zwanzig Richter vom Hamburger Arbeitsgericht im Jahre 1976. - Stets zu Zeiten wirtschaftlicher Talfahrten haben deutsche Arbeitsrichter Hochkonjunktur. Immer öfter werden Ar-beitnehmer fristlos entlassen, und fast jeder Gefeuerte ruft die Justiz um Hilfe an. Doch was nützt es, wenn die Kündigung "im Namen des Volkes" für unrecht erklärt wird? Der Job ist ohnehin weg; Billig-Jobs, rechtlose Jobs. Trübe Aussichten in Deutschland seit eh und je. Überlastete Richter, verschleppte Ver-fahren, Klagen über Klagen, Prozesstermine im Viertelstunden-Takt. Nur - wer sich nicht wehrt, hat schon verloren.

stern, Hamburg
04. November 1976
von Reimar Oltmanns

Die Herren in grauen Flanellanzug und schwarzer Robe kommen schnell zur Sache. Richter Michael Vogel über-fliegt noch einmal die Akte mit dem Geschäftszeichen 11 CA 1251/75 , die beiden Anwälte werfen einen Blick in ihre Unterlagen.

TRICKS MIT DER SCHWANGERSCHAFT

Vor dem Hamburger Arbeitsgericht geht es diesen Mitt-wochmorgen um den Fall Regina Würger. Die Konto-ristin war von ihrer Firma fristlos gefeuert worden. "Pro-bezeit ist eben Probezeit", Herr Vorsitzender. Es bleibt doch schließlich dem Unternehmer überlassen, ob er die Arbeitskraft nach drei Monaten weiterbeschäftigt oder nicht", trägt der Arbeitgeber-Anwalt selbstsicher vor. Die Gegenseite: "Das sind doch die üblichen Tricks, die Sie hier anbringen. Erst als Ihnen bekannt war, dass Frau Würger schwanger ist, haben Sie den auf unbe-stimmte Zeit geschlossenen Arbeitsvertrag zum Probe-arbeitsverhältnis deklariert, um meine Mandantin an die Luft setzen zu können." Für den 36jährigen Richter Vogel ist der Sachverhalt eindeutig, Die Kündigung von Regina Würger war unzulässig, weil der Paragraf 9 des Mutterschaftsgesetzes ein Entlassung während der Schwangerschaft ausschließt.

GEWONNEN - UND DOCH VERLOREN

Dieses am 7. April 1976 gefällte Urteil hilft der am 30. März 1975 gekündigten jungen Mutter aber nur wenig. Der Arbeitgeber legte Berufung ein. Darüber geht wieder ein halbes Jahr ins Land. Und erst wenn die Firma vor der nächsten Instanz, dem Landesarbeitsgericht, abermals verurteilt wird, muss sie die Klägerin wieder einstellen - was praktisch nie passiert oder ihr eine Abfindung von höchstens einem Monatsgehalt bezahlen.

IM VIERTELSTUNDEN-TAKT

Mit dem Fall Würger hat sich das Gericht zwanzig Minuten befasst. Das ist schon sehr viel in dieser Zeit, in der einem Fall durchschnittlich maximal eine Viertel-stunde zugestanden werden - im Durchschnitt versteht sich. Überall in Deutschland nimmt die Zahl der Arbeits-gerichtsverfahren rasant zu. Gerade in Zeiten wirtschaft-licher Talfahrten, Rezessionen, Betriebsschließungen - gar Entlassungen um nahezu 50 Prozent - geht es in vielen Gerichtssälen wie einst auf röhrenden Jahr-märkten zu. Rausschmiss ist der alles beherrschende Terminus dieser Jahrzehnte; verbrannte Erde vielerorts. Menschen hadern ihrer Berufsschicksale wie auf dem Bahnhofs-Basar im Wartesaal - irgendwo in diesem Land.

"NOTORISCHER TRINKER"

Dann ruft die Schriftführerin den Hafenarbeiter Werner Hüper in den Saal. Auf den Stühlen der Anwälte haben jetzt die Rechtsvertreter der Gewerkschaft ÖTV (seit dem Jahr 2001 Verdi) und des Unter-nehmens-Verbandes Hafen Hamburg Platz genommen. Hüper, seit sechs Jahren bei seiner Firma, verdiente als Stauervize zuletzt monatlich 4.200 Mark brutto. Ihm war gekündigt worden, so der Unternehmer-Anwalt, weil er ein "notorischer Trinker" sei. Schon im Jahr 1972 hätte man ihn wegen des "tiefen Blicks in die Schnaps-flasche" eine Lohngruppe tiefer eingestuft. Jetzt habe Hüper bei den Löscharbeiten am Schuppen 59 wieder besoffen, sei daraufhin schriftlich verwarnt worden und habe dann vierzehn Tage später im Vollrausch auf dem Gelände der Hamburger Stahlwerke herumkrakeelt. Der Unternehmeranwalt ruft laut in den Sitzungssaal 1387: "Aller guten Dinge sind drei. Die Kündigung war fällig."

KEINE ZEUGEN, KEINE BEWEISE

Die beiden Laienrichter - je einer vom Arbeitgeber-verband und von den Gewerkschaften bestimmt, an diesem Tage ein Handwerksmeister und ein Sparkassen-Angestellter - blicken auf Richter Vogel. Der Fall scheint klar zu sein. Für den Arbeitsrichter ist er es aber nicht. Immer wenn es laut wird im Saal - das passiert oft, und Spektakel stößt ihn nun mal ab -, vertieft sich Richter Vogel in die Akten. Und dort findet er heraus, dass Hafenarbeiter Hüper im Jahre 1972 zu Unrecht in eine niedrige Lohngruppe runtergestuft worden war. Hüper hatte erst nach der ersten Schicht etwas getrunken: er konnte nicht wissen, dass ihn die Firma auch noch für die zweite Schicht benötigte. Und für den letzten Vorfall konnte das Unternehmen nicht einen Zeugen benennen, der Hüpers angetrunkenen Zustand bestätigte.

ALKOHOLTEST

Der Alkoholtext, dem sich Hüper an dem umstrittenen Abend auf Veranlassung der Firma freiwillig unterzogen hatte, ergab zudem einen Promille-Satz von nur 0,7 bis 0,8. Hüper: "Der Erste Offizier hatte mich zu einer Flasche Bier und einem Glas Aquavit eingeladen." Das Urteil: "Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist durch die Kündigung nicht aufgelöst worden." Der Hafenarbeiter hat seinen Rechtsstreit gewonnen. Aber die Gegenseite will Berufung einlegen.

EIN FALL FÜR DEN PSYCHIATER ?

Genauso geht es auch Peter Remmers. Dreizehn Jahre lang war er Arbeiter bei der Bundesbahn, jetzt muss er sich gegen den fristlosen Rausschmiss wehren. Für den Schranken- und Streckenwärterdienst, so erklärt der Anwalt der Bundesbahndirek-tion, sei Remmers nicht mehr tauglich, und andere Arbeitsplätze könne ihm die Bahn nicht anbieten. Er sei einmal als Streckenposten durch merkwürdiges Benehmen aufgefallen und des-halb ein Fall für den Psychiater. Obwohl wochenlange Untersuchungen in der Neurologischen Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses Hamburg-Altona und im Landeskrankenhaus Schleswig keine Diagnose er-brachte, notierte der zuständige Bahnarzt, "dass bei Remmers mit Sicherheit eine Psychose vorliegt, die diesen für den Betriebsdienst und damit auch für den Baudienst untauglich macht."

KÜNDIGUNGS-WIDERSPRUCH

Auch der Kündigungs-Widerspruch des Personalrats ("Alle Fürsorgemöglichkeiten müssen ausgeschöpft werden") half nichts, Remmers verlor seinen sicher geglaub-ten Arbeitsplatz bei der Deutschen Bahn. Vom Makel des Bekloppten, des seelisch gestörten Mannes, konnte ihn das Arbeitsgericht zwar nicht befreien, gleichwohl wurde die Kündigung für rechtsunwirksam erklärt. Vogel: Die Behauptungen der Bundesbahn, Remmers sei aus gesundheitlichen Gründen für den Bahndienst un-tauglich, ist nicht durch einlassungs-fähige Einzelheiten begründet worden."

URTEILE AM FLIESSBAND

Wie an jedem Mittwoch, dem Sitzungstag der Elften Kammer des Hamburger Arbeitsgerichts, werden auch an diesem Tag Urteile am Fließband produziert. Im Gerichtsflur hat sich ein Völkergemisch versammelt. Griechen, Türken, Spanier, Kroaten mit ihren Dol-metschern und Anwälten sind der nächste Schub.

Wieder sitzt die Deutsche Bundesbahn auf dem Platz des Beklagten. Die Bahn-direktion hatte Mirko Stojanovic gekündigt, weil er im Wohnheim "Trave" einen Landsmann mit dem Brotmesser bedroht haben soll. Richter Vogel: "Was hat eigentlich der Arbeitsplatz mit dem Wohnheim zu tun? Oder gibt es für Gastarbeiter keine Privatsphäre?

PHRASEN - EIN STÜCK PAPIER

Beim Spanier Felipe Gonzales reichte es gar schon zur Kündigung, dass er seine "Schichtführerin Frau Karin Schulze vor allen Mitarbeitern ausgelacht habe, als sie die Notwendigkeit von Überstunden bekannt gab."

In beiden Fällen wies Richter Vogel die Kündigung als unzulässig zurück. Der Fall Gonzales war Michael Vogels 720. Urteilsspruch in seiner jetzt siebenjährigen Richterzeit. Anfangs hatte der Jurist geglaubt, "für ein Stück sozialer Gerechtigkeit sorgen" zu können. Diese Illusion hat die Alltagsroutine umgebracht. Vogel weiß nur zu gut, dass seine Urteile nicht viel mehr wert sind als ein Stück Papier.

Als Regina Würger, die Arbeiter Hüper und Remmers und die Gastarbeiter Stoja-novic und Gonzales gefeuert wurden,war es Anfang oder Mitte 1975. Als Richter Vogel zum Kammertermin vorlud, war der Kalender bereits zwölf Monate weiter.

ZEHN GEKÜNDIGTE - ACHT ARBEITSLOS

Von zehn Gekündigten, die vors Arbeitsgericht gehen, sind acht noch arbeitslos, als das Urteil gefällt wird. Die kurzen Kündigungsfristen, meist zwischen einer und sechs Wochen, und die sich dahinschleppende Justiz-bürokratie lassen die Beweiswürdigung der Arbeits-gerichte zur Farce werden. Richter Vogel: "Bei der ersten Verhandlung glauben sie meisten noch, sie würden mit Hilfe des Gerichts ihren Arbeitsplatz wieder-bekommen. Beim zweiten oder dritten Termin wird ihnen langsam klar, dass es letztlich nur um eine mehr oder weniger dürftige finanzielle Abfindung geht."

Denn kein Arbeitgeber kann durch richterlichen Be-schluss gezwungen werden, einen Arbeitnehmer wieder einzustellen. Auch wenn das Gericht die Kündigung für nicht Rechtens erklärt, kann der Unternehmer die Lö-sung des Arbeitsverhältnisses beantragen. Er ist auf Grund seiner Vertragsfreiheit nicht verpflichtet, einen ehemaligen Mitarbeiter neu zu engagieren. Sein einziges Risiko: Eine Kündigung kostet Geld.

REKORDJAHRE


Für Vogel ist die Funktion des Arbeitsgerichts eher "ein Regulativ für den Arbeitsmarkt als eine konjunktur-politisch unabhängige Rechtsprechung". Der Präsident des Hessischen Landesarbeitsgerichts, Hans Gustav Joachim, bezeichnet die Ohnmacht der Arbeitsrichter als "dramatisch, sozialstaatlich unerwünscht und verfassungsrechtlich nicht mehr zu verantworten." Seit dem Jahre 1970 steigen etwa in Hessen die Zahl der Arbeitsgerichtsverfahren ohne Unterlass; zwischen 1970 bis 1975 um 54 Prozent. Selbst zu Beginn der neunziger Jahre schnellten nochmals die Gerichtstermine um weitere 19,2 Prozent nach oben - auf etwa 35.000 Fälle pro Jahr.

EROSION VIELERORTS

Keine Frage - mit fragwürdigen "Hire-and-Fire"-Methoden wird der Kündi-gungsschutz allmählich zur Makulatur, befinden sich deutsche Arbeitsgerichte in einer stetigen Erosion. Allein in Bayern bräuchten Arbeitsrichter bei einer 40-Stunden-Woche ein ganzes Jahr, um nur die bereits angehäuften Verfahren abzu-arbeiten - vorausgesetzt es kämen keine weiteren dazu. In Köln muss jeder Arbeitsrichter bis zu 96 Verfahren im Monat durchziehen. Im Jahre 1972 brauchte er in der gleichen Zeit nur 65 Fälle.

EIN VOLK GEHT EIN UND AUS

Wirtschaftskrisen, ökonomische Strukturanpassungen, Zeiten existenzieller Ungewissheiten sorgen vor Deutsch-lands Arbeitsgerichten für eine stetige Hochkonjunktur. Allein in Stuttgart, dem drittgrößten Arbeitsgericht, stieg die Zahl der Klagen in den Jahren 2001 bis 2004 um 43 Prozent auf 20.000. Immer seltener kommt es zu einer vorprozessualen Einigung beim "Gütetermin". Nach der "primitiven Faustregel" (Vogel) "ein Jahr Betriebszugehörigkeit = ein Monatsgehalt Abfindung" konnte jahrelang unzählige Prozesse abgewimmelt werden. Heute sind die Parteien kaum noch kompro-missbereit. Die Arbeitgeber, weil sie die Zahlung einer Abfindung vermeiden wollen, die Arbeitnehmer, weil ihnen der Arbeitsplatz wichtiger ist als ein "lächerlicher Geldbetrag" (Vogel).

GEWERBEORDNUNG VON 1869

Michael Vogel bedrückt die sozialpolitische Verant-wortung der Arbeitsrichter. Er war jung im Amt, als konservative Richterkollegen ihre Urteile noch im Geiste der Gewerbeordnung von 1869 fällten. Danach konnte ein Geselle oder Gehilfe schon entlassen werden, "wenn er sich eines "liederlichen Lebenswandels" schuldig machte, einen Familienangehörigen des Arbeitgebers beleidigte oder "mit einer abschreckenden Krankheit behaftet" war. Erst die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD hat Anfang 1969 den Schutz vor fristloser Kündigung durch eine Generalklausel erweitert. Jetzt muss der Arbeitgeber den Kündigungsgrund konkret beweisen. Und es liegt im Ermessensspielraum des Richters, ob er den Entlassungsgrund anerkennt oder nicht.

93 MILLIONEN EURO IM JAHR ERSTRITTEN

Ihn - den Kündigungsschutz - ganz abzuschaffen oder in seinem Wesensgehalt zu verändern, bedeute in der Praxis, so Vogel "die Arbeitsgerichte abzuschaffen, und die Menschen vogelfrei ihrem Schicksal zu überlassen." Immerhin erstritten die Gewerkschaften allein im überprüften Jahr 1993 mit ihrer Rechtsbeihilfe vor Arbeitsgerichten Abfindungen und Nachzahlungen in erster Instanz eine Summe von 93 Millionen Euro.

SCHIELEN NACH OBER-INSTANZEN

Die fortschrittlichen Richter - die "politischen Richter", wie sie der Braunschweiger Oberlandesgerichts-präsident Rudolf Wassermann (*1925+2008; OLG 1971-1990) nannte, sind darüber entsetzt. dass die konserva-tiven Kollegen immer noch "verzweifelt in der Samm-lung der Urteile der Obergerichte suchen, um den Fall irgendwie hinzubiegen". Michael Vogel: "Auf diese Art Urteile zu sprechen, beweist doch nur die Ängstlichkeit dieser Kollegen. Es ist einfach bequemer, wenn man versucht, die mögliche Entscheidung der Ober-Instanz zu erraten."

LUKRATIVE NEBENJOBS

Genauso hart geißelt Vogel die außergerichtlichen Nebenjobs so mancher dienstbeflissener Kollegen, Wenn Unternehmensleitung und Betriebsrat etwa beim Abschluss eines Haustarifs oder einer Betriebsver-einbarung sich nicht handelseinig werden, stehen Arbeitsrichter gern als Vermittler bereit. Ihr Honorar beträgt zwischen zweitausend und fünftausend Euro. Dazu Vogel: "Diese Nebenverdienste bringen Firmen-abhängigkeiten mit sich. Beim nächsten Kündigungs-prozess mit einem solchen Unternehmen glaubt der Richter womöglich, er müsse besonders nett und vorsichtig sein, um das Management bei Laune zu halten." Befangenheiten, Abhängigkeiten.

KEINER KEHRT ZURÜCK

Es ist 13.30 Uhr. Noch ein Dutzend Kläger, Beklagte und Zeugen warten. Noch vier Fälle auf dem Terminzettel, bei einen liegt die Kündigung über ein Jahr zurück, bei dem jüngsten fünf Monate. In keinem Fall wird der Richter dem Entlassenen seinen Arbeitsplatz zurückgeben können. Vogel: "Der Gesetzgeber müsste endlich dem Kündigungsschutz besser absichern. Der Arbeit-nehmer sollte nach der Kündigung weiterarbeiten dürfen und die Kündigung erst dann gelten oder aufge-hoben werden, wenn das Arbeitsgericht rechtskräftig darüber entschieden hat." - Wunschvorstellungen eines Arbeitsrichters.

RIESENLÜGE ODER FARCE

"Solange keine Waffergleichheit zwischen Unternehmer und Arbeitnehmer herrscht", bedeutet Vogel resig-niert, "frage ich mich manchmal, bei welcher Riesen-lüge und Farce wirkst du eigentlich mit?" Der Richter hängt sich die Robe um. geht wieder in den Sitzungssaal 138. Die Schriftführerin steht an der Tür und ruft auf: "Grobelny gegen Stoffers." Prozessgegenstand: Verweigerung, fristlose Kündigung.
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Postscriptum: Es ist mittlerweile im Jahre 2008 empirisch nachgewiesen, dass Lockerungen der ge-setzlichen Bestimmungen des Kündigungsschutzes keine neuen Arbeitsplätze geschaffen haben. Zudem gilt der gesetzliche Kündigungsschutz nur noch für jene Ar-beitnehmer, die im selben Unternehmen ohne Unter-brechung länger als sechs Monate beschäftigt sind. Viele Betriebe haben sich darauf verständigt, bei so genannten Neueinstellungen den ohnehin flexiblen Kündigungsschutz durch Zeitverträge zu unter-laufen. Somit dürfte sich alsbald der seit Jahrzehnten vorherrschende Ansturm auf Arbeitsgerichte alsbald zwangsläufig erledigt haben. Alle Streitigkeit in Sachen des sogenannten Befristungsrechtes im Rahmen der Hartz IV-Empfänger sind ohnehin der Sozial-gerichtsbarkeit zugeordnet worden. Im zeitaufwen-digen, individuellen Arbeitsrecht sollen künftig standardisierte Sammelklagen eingeführt, Massen-abfertigungen Maßstab sein. Dass da die Streitwert-Grenzen jeweiliger Kammern erheblich erhöht wurden, liegt ganz in Trend, für Mittellose mit Geld-Barrieren Gerichtszugänge zu erschweren; für viele Arbeitnehmer ohne Rechtsschutz sind schon zu Beginn des 21. Jahr-hunderts geradezu langatmige Gerichtsverhandlung kaum erschwinglich. Somit, steht zu befürchten: der Sozialstaat entlässt nicht nur seine Kinder, sondern der Rechtsstaat in Deutsch-land demnach alsbald auch seine Arbeitsrichter. Sicher? Ganz Sicher.












































Donnerstag, 30. September 1976

Aus deutschen Landen der Zeitgeschichte - Der alte Mann - Wahlkampf und die alte Bundesrepublik






















Kantig, authentisch, trotzig, glaubwürdig - Herbert Wehner (*1906 + 1990) - SPD-Urge-stein; Polit-Entertainer, Überzeugungstäter der Nachkriegs-Ära


stern, Hamburg
vom 30. September 1976
von Reimar Oltmanns

Tochter und Thermosflasche sind immer dabei. Wenn Herbert Wehner im grauen Dienstmercedes (BN-WZ-108) auf Wahlkampfreise geht, sitzt Tochter Greta neben ihm. Thermosflasche und Medikamente, sorg-fältig in der grasgrünen Leinentasche verpackt, stehen griffbereit hinterm Fahrersitz. Beide lassen sich von ihrem Chauffeur mit 90 Stunden-Kilometern über die Autobahn kutschieren - vom niederbayerischen Straubing ins nordrhein-westfälische Iserlohn.

Die Zufahrtstraßen zur städtischen Parkhalle sind verstopft. Menschentrauben quälen sich mühsam durch den Eingang. "Der Wehner ist 'ne Reise wert", juxen Jugendliche aus Dortmund. Eine ältere Dame mit Krokotäschen und Sonntagsbluse meint: "Die Sozis kriegen meine Stimme nicht. Aber den Strauß der SPD muss ich gesehen haben." Bei den örtlichen Partei-funktionären auf dem Podium herrscht Nervosität. Für 20 Uhr hat sich der SPD-Fraktionschef angesagt. Doch "Onkel Herbert", wie sie respektvoll nennen, ist immer noch nicht da.

"SPIEL MIR DAS LIED VOM TOD"

Um die Stimmung der 3.000 Zuhörer anzuheizen, wird eine neue Musikkassette ins Tonbandgerät gelegt. Aus den Lautsprechern tönt "Spiel mir das Lied vom Tod". Was die aufgeregten Parteifunktionäre nicht wissen - Herbert Wehner sitzt im Nebenraum vor dem Fern-seher: Tagesschau-Köpke (ARD-Nachrichtensprecher *1922+1991) verliest die neuesten Meldungen.

Aufmacher-Meldung ist auch an diesem Abend der Lockheed-Skandal. Die Schmiergeldaffäre des amerikanischen Rüstungskonzerns ist für Wehner will-kommener Anlass, um sich an Franz Josef Strauß (*1915+1988) zu reiben. "Einem bedeutenden Politiker haben sie in New York mal die Brieftasche geklaut", klärt er die Iserlohner auf. "Wäre mir das passiert, hätte am nächsten Tag mit vier dicken Balken quer-gedruckt in der Zeitung gestanden: 'Wehner von drei Nutten ausgeraubt.' Unterzeile: 'Politische Affären nicht ausge-schlossen'."

... MIT ÄTZENDER SCHÄRFE UND GEBRÜLL

Die Zuhörer in der ersten Reihe, überzeugte Genossen, jubeln. "Das ist der Herbert, wie wir ihn kennen", murmelt einer. "Der muss noch härter draufschlagen", fordert ein anderer. Wehner bleibt seinem Publikum nichts schuldig, Mit ätzender Schärfe und donnerndem Gebrüll beißt er nach allen Seiten.

Wenn der SPD-Fraktionschef (1969-1983) CDU-Wahl-anzeigen verliest ("sozialistische Misswirtschaft") , "Die Feinde des Staates werden immer frecher"), hält es ihn kaum noch am Pult: "Franz Josef, dieser Strauß", "der Ludwigshafener Kohl", "Kohl, dieser pomadige Obermufti", "Büchsenspanner Kohl", "Dregger, dieser einsilbige Vorturner", "Schleyer, das doppelbödige Doppelkinn mit dem Ypsilon in der Mitte". Pfiffe werden laut. Die Junge Union, die ihre Anhänger in der Parkhalle zusammengetrommelt hat, protestiert: "Kohl ist der beste Kanzler!" Wehner: "Dann kriege ich nur noch Kohl-Falten. Sie werden schon sehen, wie schön es da ist." Zwei Genossen schauen belustigend um sich. Der eine zum anderen:"Und schlägt unser Arsch auch Falten, wir bleiben die Alten."

ZINNSOLDATEN UND MAULHELDEN

Dann kommt Wehner auf die Sonthofener Rede des Franz Josef Strauß. Beim Zitat, wonach die wirtschaft-liche Lage "wesentlich tiefer sinken muss, bis wir Aussicht haben, mit unseren Vorstellungen gehört zu werden", krakeelt die Junge Union "Bravo". Wütend reißt Wehner das Mikrophon beiseite. "Diese Zinn-soldaten, diese Reißbrettstrategen, diese Maulhelden."

GLIEDAB-JAEGER, LÜMMEL, PIMPF

Herbert Wehner wischt sich den Schweiß von der Stirn. Ein Ordner rückt das Mikrophon wieder zurecht. Als nächster bekommt Richard Jaeger (*1913+1998), CSU-Vizepräsident des Bundestages, sein Fett ab. Wehner erinnert daran, dass es Jaeger war, der 1969 in der katholischen "Deutschen Tagespost" geschrieben hat: "Wenn Brandt neuer Bundeskanzler wird, muss man sich fragen, ob wir nicht über Nacht die Rote Armee hier haben." "Kopfab-Jaeger", empört sich das Publikum. "Nein", sagt Wehner ruhig, "der heißt 'Gliedab-Jaeger'."

Die Junge Union hält es nicht mehr auf den wackeligen Stühlen, "Pfui", tönt es im Chor. Der SPD-Genosse bleibt gelassen: "Aber meine Herren, liebe Knaben und Mäd-chen! Da sagen Sie doch nicht 'Pfui'. Wir sind hier nicht im Damenpensionat." Für den alten Kämpen ist die Provokation des Gegners bewährtes Mittel, um die eigenen Anhänger zu mobilisieren.

ALLEINUNTERHALTER DER WUTAUSBRÜCHE

In Iserlohn, wo sich die Kohl-Truppe auf der linken Saalseite platziert hat, hämmert "Onkel Herbert" pausenlos auf die Jung-Konservativen ein. "Sie Lümmel, Sie Pimpf! Ich werde Sie schon ruhig kriegen. Mich alten Mann können Sie nicht verkohlen!" Schimpf-tiraden wollen kein Ende nehmen. Der Ortsvereins-vorsitzende schiebt dem SPD-Kämpen einen Zettel zu, er solle sich nicht in Rage bringen lassen.

Plötzlich, als sei nichts gewesen, wird das Raubein Wehner behutsam. "Ich bin ein alter Mann, der hierher gekommen ist, um Ihnen meine Erfahrungen mitzu-teilen", sagt er fast entschuldigend zu den Iserlohnern. Dann beschwört er die Vergangen-heit. Aus einem vergilbten Bändchen aus dem Jahre 1925 ("Redner und Revolution") zitiert er den sozialistischen Altvater Ferdinand Lassalle: "Die Geschichte ist ein Kampf der Natur" ( Ferdinand Lassalle *1825+1864; u.a. Wortführer der deutschen Arbeiterbewegung).

MÄNNER - NACHKRIEGSGESCHICHTE

Über den 1972 verstorbenen IG-Metall-Chef Otto Brenner (*1907+1972; "Ein kritischer Freund"), den früheren Bremer Bürgermeister Wilhem Kaisen (*1887+1979; "Ein Vorkämpfer der Sozialdemokratie") kommt er fast reumütig zu jenen Unions-Abgeordneten, mit denen er sich in den fünfziger und sechziger Jahren manch hitziges Rededuell geliefert hatte. Gern zitiert er den damaligen CDU-Fraktionschef Heinrich Krone (*1895+1989), erinnert sich, wie er mit dem früheren Außenminister von Brentano (*1904+1964) nach dem Bau der Berliner Mauer in einem Frankfurter Hotel am Radio dem DDR-Chefkommentator Karl-Eduard von Schnitzler (*1918+2001)zuhörte. Und wie Adenauer und Lübke der SPD 1963 Verdienste um die Demokratie und den Wiederbau bescheinigten.

Wahlkampf 1976 - für Herbert Wehner ein Exkurs in die jüngste Geschichte, für das Publikum ein Vorgriff auf seine Memoiren. "17 Jahre", sagt er, "bin ich Vorsitzender des Gesamtdeutschen Ausschusses gewesen und drei Jahre Minister für Gesamtdeutsche Fragen. Ich kenne alles sehr genau. Ohne die SPD hätten wir heute keinen freien Teil Berlins."

ALLE SCHLACHTEN GESCHLAGEN

Es ist die Bilanz eines Mannes, der alle Schlachten geschlagen hat. Der Kommunist war, der als solcher immer noch verteufelt wird; der Narben davontrug, die manch-mal noch schmerzen, wenn der wütende Demo-krat Wehner angegriffen wird von Demokraten, denen dieser Begriff allzu glatt über die Lippen geht. Bei Wehners Rückblick kommen betagten SPD-Anhängern die Tränen, und Genossinnen, die vorhin noch entrüstet waren, nicken auf einmal stumm - teilnahmsvoll.

Die Namen Willy Brandt und Helmut Schmidt erwähnt Wehner erst zur Halbzeit seiner zweistündigen Rede. In den vorausgegangenen Passagen hießen sie nur der "Vorsitzende" und der "Bundeskanzler". Wehner wird deutlich: "Auf Helmut Schmidt ist Verlass." Der SPD-Slogan: "Weiterarbeiten am Modell Deutschland" ist allerdings in Wehners Repertoire nicht zu finden. Statt dessen benutzt er den SPD-Wahlspruch von 1972; "Wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen kämpfen."

Es ist 22.30 Uhr. Stieftochter Greta holt die Thermoskanne und Medizin aus der Tasche. Für Vater Wehner das Signal, Schluss zu machen. Eine halbe Stunde später sind die beiden wieder auf der Autobahn, ohne Journalistenkolonne, ohne Polizei-Eskorte.

Schon 60 Veranstaltungen, 12o Stunden Wahlreden. Es dürfte Herbert Wehners letzte Wahlschlacht sein.


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Nachtrag. - Nach dem Tod seiner Frau Charlotte Burmester im Jahre 1979 heiratete Herbert Wehner vier Jahre später seine Stieftochter Greta Burmester, um ihr den Zugang zur Witwenrente zu ermöglichen. Greta Burmester hatte schon seit Jahrzehnten ihrem Stiefvater als Sekretärin, Betreuerin, Chauffeurin, Haushälterin und Köchin gedient. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands und Wehners Tod zog Greta Wehner nach Dresden und gründete im Mai 2003 die Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung. Herbert Wehner fand im Jahre 1990 seine letzte Ruhe neben Charlotte Burmester auf dem Burgfriedhof in Bonn-Bad-Godesberg.

























Donnerstag, 23. September 1976

Lobbyismus - den Staat ausnehmen, abmelken, abzocken - Parteien schmieren






























Wahlkampf für Wahlkampf - die Metastasen der Demokratie: der deutsche Lobbyismus. Die CDU/CSU wirft den Gewerkschaften Verfilzung mit der SPD vor, streicht aber selbst Millionen von der Industrie ein. - Fürsorgliche Belagerung politischer Entscheidungsträger zu Berlin und vor den Länder-Parlamenten. Das, was vor mehr als drei Jahrzehnten bei Arbeitgeber und Gewerkschaften seinen Ausgangspunkt nahm, hat mittlerweile eine ganze Armada von etwa 2.000 Interessenvertreter in Berlin mobilisiert. Einflussnahme, Gehaltszahlungen, lukrative Einladungen, Urlaubsreisen, Bestechungen in Grauzonen - sanfter Druck, Informationsbeschaffung. Lobbyisten sind stets dabei, wirken , schreiben Gesetze eigennützig für ihre Konzerne mit - Kesseltreiben. Was waren das noch für "harmlose" Zeiten, als Helmut Schmidt (1974-1982) mit dem Arbeitgeber-Präsident Hanns-Martin Schleyer (1972-1977), DGB-Chef Heinz-Oskar Vetter (1969-1982) und dem Industriellen Kurt A. Körber (*1909+1992) die Millionen an Wahlkampfspenden verteilten; übersichtlich, kalkulierbar. Rückgriff.


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stern, Hamburg
23. September 1976
von Reimar Oltmanns
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Die beiden Kontrahenten blieben unversöhnlich. Obwohl DGB-Chef Heinz-Oskar Vetter (*1917+1990) dem CDU-Kanzlerkandidaten Helmut Kohl unter vier Augen parteipolitische Neutralität im Bundestagswahlkampf 1976 anbot (Vetter: "Ich halte die Einheitsgewerkschaft nicht für legitimiert, für eine einzige Partei zu plädieren"), ließ der Christdemokrat den SPD-Genossen abblitzen. Vetters Gegenforderung, die Unionsparteien sollten den Wahlslogan "Freiheit oder /statt Sozialismus" aus dem Verkehr ziehen, wollte der Mainzer Politiker Kohl (Ministerpräsident 1969-1976) nicht akzeptieren.
KRIEGSBEIL
Seither ist das Kriegsbeil zwischen CDU/CSU und Gewerkschaften wieder ausgegraben. Denn gerade der DGB fühlt sich durch die anmaßende Alternative "Freiheit oder Sozialismus" verunglimpft. Waren es doch vor allem sozialdemokratisch orientierte Gewerkschafter, die sich in den letzten 50 Jahren als stramme Anti-Kommunisten profiliert hatten.
ZEHN PRÜFSTEINEN
Die DGB-Reaktion auf Kohls Abfuhr kam sofort. In den "zehn Prüfsteinen", die der DGB seinen siebeneinhalb Millionen Mitgliedern (2007: 6,4 Millionen) zur Bundestagswahl an die Hand gab, fordern die Funktionäre indirekt auf, für die SPD zu votieren: "Hinzuweisen ist auf die Haltung konservativer Kräfte. Sie ist gekennzeichnet durch den Versuch, Reformen zu Gunsten der Arbeitnehmer zu erschweren."
FILZOKRATIE
Als dann CDU-Generalsekretär Kurt Biedenkopf (1973-1977) Gewerkschaften und Sozialdemokraten Filzokratie vorwarf, konterte die IG Bergbau und Energie mit drei einstweiligen Verfügungen, die dem CDU-Spitzenkandidaten verbieten, seine Behauptungen weiter zu verbreiten. Der Versuch Kurt Biedenkopfs, den Spruch des Gerichts revidieren zu lassen, scheiterte. Als Beweis für das enge Zusammenspiel zwischen Gewerkschaften und Sozialdemokraten hatte Biedenkopf in seiner Dokumentation angeführt, das Betriebsratsmitglied Wolfgang Neuhaus habe am 20. August 1976 auf dem Zechengelände der Schachtanlage Hugo in Gelsenkirchen-Buer unter Missachtung des Betriebsverfassungsgesetzes SPD-Flugblätter verteilt. Doch Neuhaus war an diesem Tag gar nicht auf dem Zechengelände. Er machte Urlaub im Sauerland. DGB-Chef Heinz Oskar Vetter ging zum Gegenangriff über. Er warf Kohls Union vor, den Wahlkampf mit "Angstparolen und Panikmache" zu führen, mit denen "Volk und Gewerkschaft in politische Feindschaft getrieben werden könne.
ZANKAPFEL: GEWERKSCHAFTEN
Dabei hatte noch wenige Tage zuvor DGB-Vorstandsmitglied Karl Schwab (*1920+2003) feierlich versprochen: "Ganz gleich wie hoch die Wellen schlagen, wir werden parteipolitisch neutral bleiben." Damals ließ Heinz Oskar Vetter die SPD-Genossen wissen, "angesichts der derzeitigen Situation in der Einzelgewerkschaft" sei es - im Unterschied zu 1972 ("Willy wählen") nicht ratsam, dass er auf SPD-Wahlveranstaltungen spräche. Das war nur die halbe Wahrheit. Denn nur mit Mühe können die Gewerkschaften ihre Resignation, ihre Enttäuschung über die sozial-liberale Koalition (1969-1982) verbergen. Unter der Regentschaft von Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher haben sie "zwar die Möglichkeiten ausgeschöpft, aber deutlich die Grenze gespürt" (Vetter).
HOHE WELLEN
Albrecht Hasinger (*1935+1994), Geschäftsführer der CDU-Sozialausschüsse, frohlockte deshalb: "Mindestens an der DGB-Spitze habe es "eine recht erfreuliche Einhaltung des Gebots der parteipolitischen Neutralität gegeben." Und der CDU-Bundestagsabgeordnete Adolf Müller (Remscheid *1916+2005) widersprach sogar Biedenkopfs "Filzokratie-Dokumentation": "Die neutrale Haltung des DGB ist doch den SPD-Parteistrategen ein Dorn im Auge."
GARANTIE-ERKLÄRUNG FÜR DGB
Der durchsichtige Versuch der CDU, einen Keil zwischen Gewerkschaften und SPD zu treiben, schlug fehl. Die Genossen gaben als erste Partei zu den "Prüfsteinen" eine Garantieerklärung ab: "Die Gewerkschaften können sich darauf verlassen, dass die SPD die Koalitionsfreiheit, Tarifautonomie und überhaupt die Notwendigkeit freier und starker Gewerkschaften gegen jeden Angriff verteidigt." Und Kanzler Helmut Schmidt erinnerte die DGB-Bosse daran, "dass in der von mir geführten Bundesregierung gestandene Gewerkschafter in besonders großer Zahl ihren Mann stehen".
"AUS LIEBE ZU DEUTSCHLAND"
Schmidts Appell war überflüssig. Seitdem die CDU/CSU "Aus Liebe zu Deutschland" in Fernseh-Wahlspots dem Bürger weismachen möchten, in den Schulen würden die Kinder unter dem DDR-Emblem "Hammer und Zirkel" erzogen, üben Gewerkschaftsmitglieder und Betriebsräte verstärkten Druck auf die Spitzenfunktionäre aus, sich eindeutig vor die diffamierten Sozialdemokraten zu stellen.
MOBILMACHUNG
Die Mobilmachung an der Basis kann der SPD entscheidende Stimmenprozente bringen. Denn in den meisten Großstädten sind die hauptamtlichen Gewerkschafter zugleich aktive Sozialdemokraten. So gehören in Hamburg 89 Prozent der Gewerkschaftssekretäre der SPD an. Und 55 Prozent von ihnen sind in der hanseatischen SPD in Amt und Würden. Nordrhein-Westfalens SPD-Sozialminister Friedhelm Farthmann (1975-1985) ist sicher, dass der mittlere DGB-Führungskader "einen enormen Einfluss auf die Wähler an den Werkbänken und auf den Baugerüsten" hat. "Dieser Wähler", sagt Farthmann, "liest kein Mitbestimmungsheft und kein Betriebsverfassungsgesetz, sondern hört darauf, was ihm seine Betriebsräte sagen." - Lobbyarbeit.
KAPITAL-KOMMANDO
Ein klares Kommando gab auch Arbeitgeber-Präsident Hanns-Martin Schleyer (*1915+1977) für die Bundestagswahl 1976: "Aus unserem Bereich müssen viel mehr in den unmittelbaren politischen Raum gehen." Mit anderen Worten: Lobbyisten in die Politik. Anders als 1972 verzichten die Arbeitgeber diesmal auf schrille Töne (BDI-Präsident Hans-Günther Sohl -*1906+1989 - tönte damals: "Wenn eine Partei dazu neigt, die Stellung der Institution 'Unternehmen' zu schwächen, muss sie mit unserem Widerstand rechnen."). Macht und Drohung der Industrie-Lobby.
1.o00 VERBANDSVERTRETER
Dabei fehlt es den Arbeitgeber-Funktionären an Argumenten, um öffentlich gegen das Gespann Schmidt/Genscher Stimmung machen zu können. Immerhin hat der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) nahezu 80 Prozent seiner Anregungen und Stellungnahmen in den vergangenen Jahren an die sozial-liberalen Ministerialen geschickt, statt etwa an den von der CDU beherrschten Bundesrat. Von 100 Kontakten (Eingaben, Verbandswünsche etc.), die an das Wirtschaftsministerium herangetragen wurden, kamen 96 von den Arbeitgebern. Im Finanzressort und bei Arbeit und Soziales waren es 84 Prozent, im Verteidigungs- 64 Prozent, Innen- 48 Prozent und im Justizministerium 40 Prozent. Und in den 276 Experten-Gremien, die von der Regierung bei der Gesetzgebung konsultiert werden, sitzen 1.000 Verbandsvertreter aus Industrie und Wirtschaft, die zu jedem Schritt des Kabinetts Stellung nehmen können; mitunter selbst bei den Entwürfen Hand anlegen - Formulierungshilfen geben. Hoch-Zeiten der Lobbyisten.
DIREKTEN ZUGANG FÜR BANKIERS
Bankiers und Manager hatten stets direkten Zugang zur Regierungsbank. Wichtigste Gesprächspartner der Industrie: FDP-Wirtschaftsminister Hans Friedrichs (1972-1977). Seine Nähe zur Industrie und Finanzwelt dokumentierte der Liberale, in dem er von der Regierungsbank unversehens auf den Sprecher-Posten der Dresdner Bank (1978-1985) wechselte. Wegen Steuerhinterziehung wurde Friedrichs gar rechtskräftig zu einer Geldstrafe von 61.500 Mark verurteilt. Die Kontinutät in Sachen Lobbyismus, Einflussnahme, Drehen an Stellen und schreiben von Gesetzesentwurfen - all diese feine "Kleinarbeit" war allerdings Staatssekretär Martin Grüner (1972-1987) gewährleistet - eben Kontinutität in Sachen Lobbyismus. Schließlich hatte die Martin Grüner Jahre zuvor als Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Deutschen Uhrenindustrie (1968-1972) einen hinlänglichen Überblick verschaffen können. Zu guter Letzt durfte die SPD-FDP-Regierung noch auf ihren einstigen Finanzstaatssekretär Karl Otto Pöhl verweisen. Einem ehemaligen Wirtschaftsredakteur der "Hannverschen Presse", der sich von 1968 bis 1970 mit dem Zusatz als "Mitglied der Geschäftsführung des Bundesverbandes der Banken" zu schmücken verstand. Pöhl galt einst als lichtscheuer SPD-Drahtzieher im Hintergrund. Erst in den Jahren 1980-1991 wagte er sich so ganz in der Öffentlichkeit, tanzte in seiner Eigenschaft als Präsident der Deutschen Bundesbank vornehmlich in erlesenen Festsälen von Opern- und Pressebällen der Bundesrepublik; der Smoking als Arbeitsanzug. Dienstvilla Taunus-Vorort Kronberg - reich und schön das weitläufige Milieu, Gärtner, Butler, Einfluss und Protektion. Verständlich, dass Karl Otto Pöhl im Jahre 2005 aus der SPD wegen "Linksabweichung" austrat.
KAPITALEIGNER HABEN DAS LETZTE WORT
Immerhin: Arbeitgeber-Losungen wie "Jetzt zahlen die Verbraucher die Zeche" oder "So schnürt man unserer Wirtschaft die Luft ab", sind seit Helmut Schmidts Kanzlerschaft verschwunden. Kein Wunder: Die sozial-liberale Koalition verabschiedete kein Gesetz, das die Unternehmer auf die Barrikaden gezwungen hätte. Lobby-Arbeit. Bei den Themen Mitbestimmung, berufliche Bildung, Bodenrecht und Vermögensbildung behielten die Kapitaleigner stets das letzte Wort.
182 MILLIONEN SPENDEN FÜR DIE CDU
Ausgezahlt hat sich die industriefreundliche Haltung der SPD/FDP-Regierung kaum. Während die Christdemokraten allein zwischen 1969 und 1974 Spenden in Höhe von 182 Millionen Mark kassierten, kam die SPD-FDP-Koalition nicht einmal auf die Hälfte. in den letzten zwei Jahren ist das nicht anders geworden.
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POSTSCRIPTUM . - Mit Beginn der neunziger Jahre des vergangen Jahrhundert erlebte der deutsche, aber auch der europäische Parlamentarismus geradezu einen Belagerungszustand getarnter Lobby-Organisationen. Ob in den jeweiligen Nationalstaaten oder auch auf europäischer Ebene, über 2000 Verbände und deren Vertreter suchen im Jahre 2008 ihre Interessen in den jeweiligen Gesetzesverfahren durchzusetzen. Eine spezielle Form des Lobbyismus geißelte der Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim. Er lokalisierte im Bereich des Lobbyismus des Jahres 2006 ein "Dunstkreis der Korruption". Danach arbeiten Personen aus der Privatwirtschaft, aus Verbänden und Interessengruppen, die tatsächlich Angestellte ihrer Arbeitgeber bleiben und von diesem entlohnt werden - zeitweilig als externe Mitarbeiter deutscher Bundesministerien mit. Lobbyismus in Formvollendung.
Eine besondere Berühmtheit erlangte der einflussreiche wie undurchsichtige Frankfurter Lobbyist und public-relations-Berater Moritz Hunzinger. Er jonglierte als sogenannter "Kontaktvermittler" zwischen Interessengruppen, internationalen Politikern und der deutschen Wirtschaft. Bekannt wurde Lobbyist Hunzinger einer breiten Öffentlichkeit durch eine anrüchige Beratertätigkeit für den damaligen Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping (1998-2002) und dem Grünen-Politiker Cem Özdemir (Grüne-MdB 1994-2002). Beide Politiker haben entweder auf seiner stattlichen Honorarliste gestanden oder durch Hunzingers Vermittlung einen besonders günstigen Privat-Kredit bekommen, sind von Moritz Hunzinger "eingekauft" worden. Rudolf Scharping musste als Verteidungsminister zurücktreten, Cem Özdemir wurde von den Grünen über Jahre aus dem Verkehr der Bundespolitik gezogen. Zudem beriet Kontaktmacher Moritz Hunzinger auch die Europäische Kommission in Fragen der Zusammenarbeit mit den Ländern Ost- und Mitteleuropas. Er war unter anderem auch Bundesschatzmeister der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) und bis 2004 deren Treuhänder. Am 3. Mai 2006 verurteilte das Amtsgericht Stuttgart wegen uneidlicher Falschaussage vor dem Landtagsuntersuchungsausschuss von Baden-Württemberg Cheflobbyist Moritz Hunzinger zu einer Geldstrafe von 30.000 Euro und einem Freiheitsentszug von 10 Monaten auf Bewährung. In der zweiten Instanz wurde die Strafe auf 25.000 Euro reduziert und ist damit rechtskräftig. Das Verb " v e r h u n z i n g e n " ist mittlerweile ein Synonym für Verrottung des Lobbyismus in Deutschland geworden. Es wurde für das Wort des Jahres auf den 8. Platz 2002 gewählt.


Donnerstag, 16. September 1976

Wahlkampf in deutschen Landen: "Mit besten Wünschen Euer Pfarrer"


























stern, Hamburg
16. September 1976
von Reimar Oltmanns



Mit der Verketzerung der sozialliberalen Koalition (1969-1982) will die katholische Kirche der CDU/CSU in den siebziger Jahren zum Wahlsieg verhelfen


Ein Exorzist kommt selten allein. Der Pfarrer Ernst Alt, 38, und der Salvatorianerpater Arnold Renz, 65, versuchten, die Dämonen aus dem Körper der 23jährigen Anneliese Michel im fränkischen Klingenberg zu vertreiben. Die Oberhirten der beiden wollten jetzt die Teufel SPD und FDP aus den Köpfen der katholischen Wähler verbannen.

RELIGIÖSE ENTSCHEIDUNG

Im Kampf der Amtskirche gegen die ungeliebten Sozialdemokraten ist die Bundestagswahl am 3. Oktober 1976 "nicht nur eine politische, sondern auch eine religiöse Entscheidung. Wer das nicht jedem Nachbarn und Arbeitskollegen klarmacht und nicht auch durch intensives Gebet zu einer christlichen Entscheidung beiträgt, ist ein Mitläufer des Bösen", warnt die "größte christliche Wochenzeitung Europas", die "neue bildpost", ihre katholischen Leser zwischen Papenburg im Emsland und Altötting in Oberbayern.

LAND DES UNTERGANGS

Das Boulevardblatt, das jeden Sonntag zwischen Altar und Beichtstuhl feilgeboten und von rund einer Millionen Katholiken gelesen wird, behauptete schon vor zwei Jahren, dass der "rote Sozialismus" dabei sei, "aus dem restlichen Deutschland ein Land des Untergangs zu machen." Jetzt schreckt die fromme Postille (Schlagzeile "Kardinal Döpfner: Ja, ich begegnete Gott") vor keiner Diskriminierung des politischen Gegners zurück, um im Wahlkampf Stimmung gegen SPD und FDP zu machen.

TERRORISTEN ALS SPD-MITGLIEDER

So stellt die "neue bildpost" den Terroristen Rolf Pohle (*1942+2004) als Sozialdemokraten vor, der "wegen Landfriedensbruch in der SPD bleiben durfte und erst ein völlig freischwebender Anarchist geworden ist, seit er seinen SPD-Mitgliedsbeitrag nicht mehr zahlt": Für die "bildpost"-Redakteure ist SPD-Chef Willy Brandt (*1913+1992) "ein Badefreund Breschnews", (*1906+1992, Parteichef der KPdSU 1964-1982) - der "Hauptverantwortliche für die geistige Lynchstimmung" und "die Schlüsselfigur für die mögliche Sowjetisierung Europas". Bundeskanzler Helmut Schmidt (1974-1982) "will jetzt unsere Zukunft mit Gesinnungspartnern aufbauen, die den Kommunisten in ihrem Land in den Sattel helfen."

GELDER FÜR KOMMUNISTEN

Und die Bereitschaft von dem FDP-Vorsitzenden Hans-Dietrich Genscher (1974-1985) wieder mit der SPD zu koalieren, ist "als demokratische 'Todsünde' weithin erkannt". Der Außenminister ist für die "neue bildpost" der Politiker, der die Forderung nach einem DKP-Verbot als "demagogisch" abblockt. Dafür, so wird dem Leser suggeriert, zahlt Bonn "Steuergelder für die Unterwanderer, wenn Kommunisten Ansprüche anmelden."

CDU-WEIN IST WAHRHEIT

Bei der Agitation gegen das SPD/FDP-Regierungsbündnis setzen die katholischen Bischöfe nicht nur auf die "neue bildpost", sondern sie lassen auch ihre 22 Bistumsblätter (wöchentliche Auflage: zwei Millionen) kräftig mitmischen. Das "Regensburger Bistumsblatt" des Bischofs Rudolf Graber, 73, (*1903+1992) glaubt, nur die "süddeutsche Union" mit den CDU/CSU-Rechtaußen Franz-Josef Strauß, Hans Filbinger und Alfred Dregger garantiere einen Wahlsieg der Unionschristen. Die Regensburger: "Das sind nicht Albrecht, Stoltenberg, Biedenkopf, Barzel ... Möge die Union dort lächeln, zaubern, freundlich sein, Küsschen werden, I-like-Mainzelmännchen-Helmut-singen ... Der Wähler will die Wahrheit wissen! Im Baden-Württemberger CDU-Wein ist Wahrheit."

ANTICHRISTEN IN DIESEM LAND

Das "Passauer Bistumsblatt" des Bischofs Antonius Hofmann, 67, (*1909+2000) fragt die SPD scheinheilig, "wie lange es ihr noch gelänge, antichristliche Kräfte in ihren Reihen niederzuhalten". Auf eine Antwort der Sozialdemokraten wird allerdings kein Wert gelegt. Die Redakteure fordern die Leser auf, "dem Antichristen bei der Bundestagswahl mit dem Stimmzettel eine entsprechende legale Antwort zu geben."

BISCHÖFE IN DEN RING

Die Würzburger "Deutsche Tagespost" will "die katholischen Bischöfe in den Ring rufen. Von ihnen wird eine Wahlempfehlung erwartet, an der es nichts zu deuteln gibt". Die "Tagespost" empfiehlt, prominente Katholiken aus SPD und FDP zu vergraulen: "Das Wort der Bischöfe müsste diesmal so deutlich sein, dass auch Persönlichkeiten wie die Sozialdemokraten Georg Leber, Hermann Schmitt-Vockenhausen oder der FDP-Mann Josef Ertl gezwungen werden, ihren Balanceakt zwischen ihrer Kirche und ihrer kirchenfeindlichen Partei aufzugeben...".

GEGEN ABTREIBUNG

Die katholische Kirche hat sich zum Endkampf gegen die sozial-liberale Koalition gerüstet. Vergessen ist das noch vor vier Jahren gültige Rezept, mit der Bonner Regierungen einen - wenn auch zaghaften - Dialog zu beginnen (Herbert Wehner damals: "Wir sollen miteinander reden und uns aufmerksam zuhören"). Der lose Gesprächsfaden riss, als die Sozial-Liberalen mit der Reform des Abtreibungsparagrafen 218 und des Ehe- und Scheidungsrechts ernst machen und dabei auf den erbitterten Widerstand des konservativen Klerus stießen.

TRENNUNG VON KIRCHE UND STAAT

Als Generalangriff auf den christlichen Glauben werteten die Oberhirten den Beschluss der FDP, Kirche und Staat strikt zu trennen, und den Erlass von Rahmenrichtlinien für den Schulunterricht in Hessen und Nordrhein-Westfalen, mit denen der kirchliche Einfluss weiter zurückgedrängt wurde. Der Kölner Erzbischof Joseph Kardinal Höffner (*1906+1987) erklärte: "Abgeordnete, die nicht bereit sind, die Unantastbarkeit menschlichen Lebens ... zu gewährleisten, sind für einen gläubigen Christen nicht wählbar."

SCHARFMACHER VIELERORTS

Oberwasser haben seitdem wieder jene Scharfmacher in der katholischen Kirche, die schon bei der letzten Bundestagswahl 1972 gegen die Sozial-Liberalen zu Felde gezogen sind. Im November 1972 appellierte zum Beispiel der "Nußbacher Pfarrbote" (Nr. 47) an die Gemeinde: "Als Christen sollten wir eigentlich wissen, wohin wir unsere Kreuze machen, nämlich in die Felder der CDU ... Als Pfarrer muss ich es mir leider versagen, im 'Pfarrboten' über die politische Zwielichtigkeit führender Männer und Bewerber ... zu schreiben ... Wenigstens einen Fall nimmt die heutige 'bildpost' , die im übrigen sehr zu empfehlen ist, unter die Lupe. Wer mehr wissen will, möge nach Oberkirch auf die CDU-Kreisstelle gehen und sich dort informieren. Wir haben viel Grund zu beten, dass sich unser Volk erneuere, ohne dass uns eine tödliche Diktatur wieder in den Senkel stellt. Mit den besten Wünschen, Euer Pfarrer."

Und im amtlichen Mitteilungsblatt der württembergischen Gemeinde Fronstetten rief der Pfarrer seinen Gläubigen zu: "Der mündige Christ soll selber entscheiden. Nur keine Manipulation! Aber wenn Sie es wissen wollen, wie ich persönlich denke und was ich persönlich wähle, dann sage ich Ihnen das ganz offen und ehrlich: Ich für meine Person wähle die CDU."

GEHARNISCHTER HIRTENBRIEF

Der CDU-Pressesprecher Karl Hugo Pruys (1973-1977) ist sicher, dass die Kirche auch diesmal einen geharnischten Hirtenbrief zur Bundestagswahl veröffentlichen wird: "Der wird kommen, ob uns das passt oder nicht." Denn seit dem Tod Julius Kardinal Döpfners (*1913+1976), der stets Respekt vor SPD-Chef Willy Brandt hatte, ist die viel zitierte kirchliche Neutralität gegenüber den Parteien aufgehoben.

WER LUST WILL , DEM VERGEHT SIE

In der Bischofskonferenz gibt jetzt der ultra-rechte Kölner Kardinal Höffner ("Wer Lust will, dem vergeht sie") den Ton an. Der militante Oberhirte und seine Amtsbrüder glauben, in einer Notstands-Gesellschaft" zu leben, die einen Kulturkampf zwischen Christentum und Sozialismus rechtfertigt. Prälat Wilhelm Wöste (*1911+1993), Leiter des Kommissariats der deutschen Bischöfe in Bonn: "Die Kirche hat auch die französische Revolution überlebt, obwohl sie sieben Jahre verboten war." Die Losung der Bischöfe heißt deshalb: "Nicht klagen, sondern handeln" (Höffner).

o Für Kardinal Höffner sind Schulen, in denen nach den neuen Rahmenrichtlinien des nordhrein-westfälischen Kultusministeriums unterrichtet wird, für "gläubige Christen keine Heimat, sondern ein besetztes Gebiet".

o Für den Aachener Bischof Johannes Pohlschneider (*1899+1981) besteht der Eindruck, dass die Rahmenrichtlinien eine "Entchristlichung" der Schulen einleiten und dass "aufbauende geistige Werte wie Religion, Ehrfurcht vor Gott und seinem Gesetz, Achtung vor Nächstenliebe und Opferbereitschaft" keine Beachtung mehr finden.

o Für den Augsburger Bischof Joseph Stimpfle (*1916+1996) ist "die rechtsstaatliche Ordnung bei uns nicht mehr gewährleistet", weil der Abtreibungsparagraf und das Familienrecht liberalisiert wurden.

o Für Franz Hengsbach (*1910+1991), Bischof von Essen, ist diese Reform der "seit 1945 bedenklichste Angriff gegen die sittlichen Grundwerte unserer Gesellschaft".

o Der Regensburger Bischof Rudolf Graber geht noch einen Schritt weiter: "Das Abendland stirbt, und es lacht und tanzt dazu."

o Der Hildesheimer Bischof Heinrich-Maria Janssen (*1907+1988) stellt die SPD/FDP-Reformpolitik auf eine Stufe mit Nazi-Verbrechen: "Die katholischen Bischöfe werden dazu nicht schweigen, sowenig, wie sie zu den Verbrechen des Nationalsozialismus geschwiegen haben."

o Der Münsteraner Bischof Heinrich Tenhumberg (*1915+1979) beschimpft die Bundesrepublik als "sozialistischen Nachwächterstaat" und beklagt sich darüber, dass nach der Steuerreform einige hundert Kirchen weniger gebaut werden können.

o Das Erzbischöfliche Ordinariat von München erklärte: "Die SPD soll sich künftig ihre Wähler anderswo als bei den Katholiken suchen."

SOGAR KARTOFFELN KATHOLISCH

Dieser Meinung sind auch der katholische CDU-Kanzlerkandidat Helmut Kohl und sein bayerischer Lehrmeister Franz Josef Strauß (*1915+1988). Um am 3. Oktober 1976 die absolute Mehrheit zu erzielen, muss die Union vor allem in katholischen Gebieten Stimmen zurückgewinnen, die 1972 auf das Konto der SPD gingen. Damals waren 35 Prozent der SPD-Wähler katholisch.

So erzielten die Sozialdemokraten in den tiefschwarzen Wahlkreisen Cloppenburg und Emsland Zugewinne von 4,4 beziehungsweise 5,7 Prozent. Im niederrheinischen Kleve (Schriftsteller Heinrich Böll (*1917+1985) : "Da sind sogar die Kartoffeln katholisch") erreichten die Genossen eine Aufwertung von 6,1 Prozent.

FLIRT DER PRÄLATEN

Katholik Strauß klagte: "Der Flirt der Prälaten mit der SPD zahlt sich bitter aus." Und Kohl, der sich als politischer Erbe Konrad Adenauers (*1876+1967) stilisiert, möchte den alten "Kölnischen Klüngel" aus den fünfiger Jahren wiederbeleben, als sich Hochfinanz und Oberhirten die Türklinke des Palais Schaumburg in die Hand geben. So achtet der Mainzer Politiker bei jedem Fernsehauftritt peinlich darauf, die "christlichen Grundwerte" zu beschwören. Und stets streicht der CDU-Chef die Rolle des Klerus heraus: "Die Kirchen vermitteln Wahrheiten, Wertauffassungen und Sinngebungen, die für ein Gemeinschaftsleben fundamental sind."

ERGEBENHEITS-ADRESSEN

Solche Ergebenheitsadressen lassen die Oberhirten hoffen, bei einem CDU/CSU-Wahlsieg würde die Abtreibung wieder unter Strafe gestellt und das Ehe- und Scheidungsrecht drastisch verschärft. Prälat Wöste glaubt sogar, mit einem Kanzler Kohl die Zeit zurückdrehen zu können: "In den beiden ersten Jahrzehnten hatten wir mehr Einfluss auf die Bonner Politik."

Die Verbrüderung der Unionsparteien mit der katholischen Kirche zeigt bereits erste Früchte. Auf einer gemeinsamen Veranstaltung mit dem nordrhein-westfälischen CDU-Oppositionsführers Heinrich Köppler (*1925+1980) in Düsseldorf appellierten katholische Priester der Diözesen Aachen und Paderborn an "die natürliche Verwandtschaft von Kirche und CDU" und beschworen die "gemeinsamen Wahlkämpfe in den fünfziger Jahren". CDU-Chef Kohl ließ sich auf einer Sitzung mit der Deutschen Bischofskonferenz sogar zu der Bemerkung hinreißen: "Die CDU-Aktivitäten an der Parteibasis" seien "praktisch mit den kirchlichen Kerngemeinschaften gleichzusetzen".

FREIHEIT STATT SOZIALISMUS

Als nützlicher Wahlkampfverein für die Christdemokraten hat sich vor allem das Zentralkomitee der Deutschen Katholiken unter Vorsitz des rheinland-pfälzischen CDU-Kultusminister Bernhard Vogel (1967-1976) erwiesen. Der Aufruf des Komitees zur Bundestagswahl (in einer Auflage von elf Millionen verbreitet ) stützt die anmaßende Alternative "Freiheit oder/statt Sozialismus" und die Behauptung der CDU, eine neue SPD/FDP-Regierung würde zu einem weiteren Verfall und Abbau moralischer Grundwerte führen.

Gegen den Vorwurf, die katholische Kirche betreibe ausschließlich die Wahlpropaganda der CDU/CSU, haben sich die Parteichristen schon vor Wochen gewappnetr. In der katholischen "Herder-Korrespondenz" erklärte Kohl: "Im Falle eines grundlegenden Wortkonflikts kann die Frage der Wählbarkeit und Nichtwählbarkeit einer Partei durchaus Gegenstand einer konkreten kirchlichen Erklärung sein, wenn die Glaubensgemeinschaft in dieser Frage einer Meinung ist."

VERLEUMDUNGSKAMPAGNEN

Trotz der kirchlichen Verleumdungskampagne wollen die Sozial-Liberalen vor der Wahl keinen Krach mit den Bischöfen anfangen, um die katholischen Wähler nicht in Gewissenskonflikte zu stürzen. Für die heiße Phase der Wahlschlacht gilt ein Wort von Bundeskanzler Helmut Schmidt (1974-1982): "Politiker, die das Wort Humanismus oder den Namen Jesu Christi in jeder ihrer politischen Reden im Munde führen, sind mir ein Greuel."

Donnerstag, 1. Juli 1976

Verfolgt, verboten, geduldet: Ratlos in der roten Ecke. Aus deutschen Landen der Zeitgeschichte - Kommunisten




















































Aus den Landen westdeutscher Zeitgeschichte: Während die Kommunisten in Italien und Frankreich Mitte der siebziger Jahre unter dem Begriff "Euro-Kommunismus" auf dem Vormarsch waren, führten sie in der Bundesrepublik ein Schatten-Dasein: Die Mitgliederzahl stagnierte , der Wählerstamm bröckelte, nur das Geld aus Ostberlin floss regelmäßig - einstweilen. Die Auflösung der sozialistischen Staatenwelt stürzte die DKP in eine tiefe Existenzkrise. Von den einst 57.000 Parteimitgliedern hielten nach 1989 nur wenige Tausend der Partei die Treue. Die Lenin-Statue geriet auf den Wochenend-Freizeiten - wie hier in Essen - immer mehr zum Maskottchen

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stern, Hamburg
01. Juli 1976
von Reimar Oltmanns
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Als der Kartoffelpreis in der Bundesrepublik Mitte der siebziger Jahre auf 3,50 pro Kilo kletterte, hielt es den DKP-Chef Rhein-Ruhr, Manfred Kapluck , nicht mehr ruhig am Schreibtisch. Getreu seinem Leitspruch "Wer die Welt verändern will, muss sie erkennen" kurbelte der 47jährige in der DDR geschulte Funktionär einen halben Nachmittag, um Günter Mittag (*1926+1994), den stellvertretenden DDR-Ministerpräsidenten, in Ostberlin ans Telefon zu bekommen. Als er ihn schließlich am Draht hatte, machte Kapluck dem DDR-Genossen klar, es müsse jetzt mit Hilfe einer "Agitation aus dem Kühlschrank bei den Werktätigen das Bewusstsein für die DKP-Preisstopp-Politik geweckt werden". Mit billigen Kartoffeln, Eiern und Hähnchen aus der DDR könnte sich die Partei beliebt machen - eben Beachtung verschaffen.
"HÄHNCHEN FRISCH AUS DER DDR"
Kaplucks Bittruf wurde erhört. Schließlich hatte er im Jahre 1951 und 1952 als Mitglied der damals illegal gewordenen KPD in einem westdeutschen Gefängnis eingesessen Mittag, Genosse aus alten Zeiten, ließ 100.000 Eiern, 1.000 Zentner Kartoffeln und 4.000 Hähnchen "frisch aus der DDR" transportieren (Verkaufsslogan auf eigenen Wochenmärkten zwischen Bottrop und Essen: "DKP bietet an: Das Ei des Columbus" - pro Stück für einen Groschen). Die SED-Führung schickte nicht nur Lebensmittel in den Westen. Sie unterstützte nach Erkenntnissen der Unabhängigen Kommission Parteivermögen (UKPV) ihre DKP im Zeitraum 1981 bis 1989 mit Zahlungen von 269.097.518 Euro.
AUFWIND ALTER KADER
Die wieder aus der Illegalität aufgetauchten Funktionäre von einst sahen sich jetzt erst recht in ihrer Rolle als Interessenvertreter der kleinen Leute in Gewerkschaften, Betriebsräten bestätigt. - Aufwind für alte Kommunisten, die wie Manfred Kapluck und Co. ihre Zeit im westdeutschen Untergrund durchgestanden haben. Früher in der Illegalität bestand seine Aufgabe darin, die verbotene FDJ im Untergrund am Leben zu erhalten und vornehmlich den Kontakt zur akademischen Jugend zu suchen; konspirativ versteht sich. Manfred Kapluck war seinerzeit unter dem Vorwurf zum "Hochverrat" in mehrmonatige Untersuchungshaft gesteckt worden - verschwand danach für zwölf Jahre in der Illegalität.
"KOMMUNISTEN AUCH MENSCHEN"
Die Partei, vor 57 Jahren - 1919 - von Rosa Luxemburg (*1871+1919 ) und Karl Liebknecht (*1871+1919 ) gegründet, will den Bundesbürger nicht länger mit Klassenkampf-Parolen verschrecken, sondern beweisen, "dass wir Kommunisten auch Menschen sind" (DKP-Chef Herbert Mies). Und wenn es um die Menschen geht, ist der DKP nichts zu teuer. So organisiert die DKP-Nachwuchsriege, die Sozialistische Arbeiterjugend (SDAJ), jedes Jahr zu Pfingsten Zeltlager für Jugendliche zwischen 14 und 21 Jahren - beispielsweise in Gelsenkirchen. Zum Freizeit-Angebot gehören "Getränke und Speisen zu Lehrlingspreisen". Dortmunder Fallschirmspringer, die für 700 Mark kunstvolle Absprünge zeigen, und Beat-Gruppen, die für fast 6.000 Mark internationale Hits spielen.
FDJ-PROMINENZ IM WESTEN
Unter den Gästen machen FDJler aus Ostberlin, Rostock, Dresden und Magdeburg in ihren Blauhemden am meisten von sich reden. Ihre "Fest"-Beiträge ("Warum der Kommunismus den Kapitalismus besiegt") werden live in die Nachbarzelte ausgestrahlt. Im Hauptzelt "Flöz Sonnenschein" gibt's Schmalzbrot und Korn für 'ne Mark - extra "für die DKP hergestellt". Jugendliche mit Fedajin-Tuch und Baskenmütze - die rebellische Ausgeh-Uniform dieser Jahre - reißen sich um Castro und Marx-Poster - eine Mark pro Stück. Das überlebensgroße Konterfei des legendären Latino Ernesto Che Guevara (*1928+1967) war schon noch 20 Minuten ausverkauft. Die 26jährige Lehrerin Hilde aus Nordhorn schwärmt von ihren Urlaubsplänen: "Noch 38 Tage, dann bin ich endlich mit meinen Genossen auf Kuba." - Ein bisschen Romantik, ein bisschen Revolution, viel Schwärmereien, viel Gänsehaut zwischen Bacardi-Rum, Bretterbuden und Betonbananen im Kohlenpott. Ihre Freundin Christiane ist schon drei Jahre DKP-Mitglied. "Wir sind eine Gruppe, die zusammenhält und in der sich jeder um den anderen kümmert" , sagt sie stolz. Nicht alles am Sozialismus sei ihr ganz geheuer, etwa die Arbeitslager in der Sowjetunion, "aber mir fehlen wohl noch einige Parteischulungen", bekannt die 22jährige.
VERTRAUEN - WÄHLERSTIMMEN
Altkommunist Clemens Kraienhorst (*1905+1989) , nachdem in Bottrop eine Straße benannt wurde, glaubt gar an eine zeitgeschichtliche Epoche, in der der DKP lang erhofft endlich der Durchbruch naht. Bergmann war er, immer der KPD treu geblieben, auch dann, als die Nazis in ins KZ Esterwegen internierten. Euphorisch schwärmt er: "Mit dieser Jugend und ihrem Engagement wird es für die Partei in der Bundesrepublik die große Wende geben." Clemens Kraienhorst rückblickend: "Ich bin Kommunist geworden, weil ich den Leuten helfen wollte." Er weiß, wie Wählerstimmen für die Kommunisten gewonnen werden können. Bei der letzten Kommualwahl in der Bergarbeiterstadt Bottrop brachte er es in seinem Wahlkreis auf 33 Prozent. Die DKP zog mit 7,2 Prozent ins Stadtparlament ein. Einmalig war diese Kraienhorst-Resultat. Bei den Bundestagswahlen zwischen 1972 und 1983 konnte die DKP allenfalls 0,3 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Seitdem nahm sie nicht mehr teil. Lediglich in Bremen bei der Bürgerschaftwahl 1971 brachte sie es mit 3,1 Prozent auf ein für sie ungewöhnliches Ergebnis.
BOTTROPS ERFOLGREICHE KOMMUNISTEN
Das gute Kraienhorst-Ergebnis ist der Erfolg einer zähen täglichen Kleinarbeit, auch Sozialarbeit oder Schuldnerberatung genannt. Wenn eine Familie mit der Ratenzahlung für den Farbfernseher ins Hintertreffen gerät, wenn Mieterhöhungen drohen, Schwierigkeiten beim Lohnsteuerjahresausgleich auftreten oder Arbeitslosigkeit zu einem Dauerzustand werden zu droht, wenn es zu Familienstreitigkeiten kommt - Bottrops Kommunisten haben stets ein offenes Ohr - Mitgefühl. Damit die Kinder in den Schulferien nicht auf der Straße herumlungern müssen, organisiert Fraktionschef Heinz Czymek jährlich für 800 Jugendliche eine Kinder-Land-Verschickung in den "Modellstaat DDR". Und sein Kollege Franz Meichsner baute für die Kinder aus einem alten Karstadt-Lieferwagen einen fahrbaren Spielplatz mit Bauklötzen und Tischtennisplatte.
STAATSTRAGEND STATT REVOLUTIONÄR
Auch in Bottrops Nachbarstadt Gladbeck sind die Kommunisten hochgeachtet. Hier arbeitet die DKP mehr "staatstragend" und "auffallend weniger revolutionär" an den Problemen dieser Stadt. - Hier geht es um Weichenstellungen, die der gravierende Strukturwandel in der Region, etwa durch die Neuansiedlung von Industrie oder auch Schaffung neuer Arbeitsplätzen, mit sich bringt. "Diesen Neuerung", sagt SPD-Oberbürgermeister Kurt Schmitz , "widersetzt sich die DKP nicht". Ganz im Gegenteil, sie leiste "sehr viel Kleinarbeit", konzediert der Oberbürgermeister, auch wenn sie sich laufend ungefragt als "Anwalt der kleinen Mannes" geriere. Zuweilen fühle er sich "genervt", weil sie "kleine Problemchen" über Gebühr groß aufs Trapez hochziehe.
STAMMKNEIPE MIT DKP-WIMPEL
Ob auf dem Spielplatz, in der Nachmittagsschule oder in ihrer Stammkneipe, wo der DKP-Wimpel neben den Fußball- und Skat-Ehrenurkunden hängt - Westdeutschlands Kommunisten wollen raus aus dem Schattendasein der Hinterhöfe. Um endlich salonfähig zu werden und keinen Anlass für ein neues Verbot zu liefern, geben sie sich betont bürgerlich. DKP-Chef Herbert Mies (1973-1990): "Früher gratulierten wir zuerst den DDR-Sportlern zu ihren Siegen. Heute schicken wir unserem National-Bomber Gerd Müller (68 Tore, 62 Länderspiele) Glückwunsch-Telegramme."
SCHÖNHEITS-OPERATIONEN
Doch die Schönheits-Operationen hat der Partei noch nichts eingebracht. Die DKP steckt allen Beteuerungen zum Trotz ("Wir sind eine nationale Kraft") in einer Krise. Der in Moskau geschulte Diplom-Volkswirt Herbert Mies (Kapluck: "Mies war dort drei Jahre, ich nur eines") musste vor dem Parteivorstand einräumen, dass die "sympathische Kraft" DKP weder Wahlen gewinnen noch neue Mitglieder werben konnte. Der DKP-Experte, Professor Hermann Weber (Ordinarius Politische Wissenschaften an der Universität Mannheim 1975-1993) , resümiert: "Dieser Führungsgruppe fehlt Gespür und analytische Fähigkeit, politische Zusammenhänge überhaupt noch nach zu vollziehen." Sie habe ihre politische Sozialisation in der Illegalität der West-KPD von 1951 bis 1968 in der DDR erhalten. Von den 1.500 deutschen Kommunisten, die während der Hitler-Diktatur in die Sowjetunion flüchteten, kehrten lediglich 700 mit der Gruppe Ulbricht zurück. - Von den anderen fehlt jede Spur, vermutlich in der Sowjetunion umgebracht worden. Vielerorts herrschte Nachwuchsmangel für Führungsaufgaben bei den Kommunisten. Aderlass. Etwaige Führungskader, wie der Essener-Bezirksgenosse Manfred Kapluck, wurden mit dem Argument denunziert, sie seien "Alkoholiker". - Ende der Durchsage.
MEHR KPD-MITGLIEDER ALS NS-TÄTER VOR GERICHT
Dabei hatte die westdeutsche Justiz Kommunisten weitaus konsequenter, härter und unnachgiebiger verfolgt als ehemalige eingefleischte Nationalsozialisten. Jedenfalls lagen die rechtskräftigen Urteile gegenüber Marx- und Lenin-Anhängern siebenmal so hoch wie die gegen NS-Tätern - und das eingedenk der Tatsache, dass die Nazis Millionen Menschen ermordet hatten. Den Kommunisten hingegen konnte man allenfalls Landesverrat vorwerfen. Nach dem KPD-Verbot ermittelten Staatsanwaltschaften gegen 125.000 Personen wegen angeblich "politischer Delikte". NS-Verfahren richteten sich bis dato allenfalls gegen 106.000 Verdächtige. Deutsche Geschichts-Aufarbeitung, deutsches Recht.
EURO-KOMMUNISTEN
Während die Bruderparteien in Italien und Frankreich immer stärker werden, verloren die westdeutschen Kommunisten bei den letzten Landtagswahlen 1975 in Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, im Saarland, in Nordrhein-Westfalen und Bremen 43.262 Wählerstimmen. Bis auf wenige Kommunal-Parlamente, etwa in den Universitätsstädten Göttingen, Tübingen, Marburg, konnte die DKP durchweg nur 0,3 Prozent der Wählervoten als Stimmen-Maximum in deutschen Landen erreichen. Seit 1983 nahm sie an der Bundestagswahl nicht mehr teil. Aber auch der Absturz der einst hoch gelobten Partei-Zeitung "Unsere Zeit" und der DKP-Stadtteilblätter vollzog sich rasant - sank von 1.073.000 um 272.000 Exemplare auf 801.000. Im Jahr 2008 kann die Partei vierzehntägig allenfalls 7.500 UZ-Zeitungen drucken. Zudem stagnierte die Zahl der Mitglieder stagnierte über Jahre - ab 1973 bei rund 42.000. Seitdem Zusammenbruch der DDR 1989 blieben laut Verfassungsschutz-Bericht nur wenige Tausend übrig (etwa 4.500), die an den Idealen der "Diktatur des Proletariats" unbeirrt festhalten. Der hessische DKP-Landesverband rief aus seinem Schatten-Dasein im Jahre 2008 seine noch wenigen Mitglieder auf, für die Landtagswahl die Linkspartei von Oskar Lafontaine und Gregor Gysi zu wählen. Immerhin gelangten bundesweit etwa zwanzig DKP-Kandidaten über Listenplätze in kommunale Parlamente oder auch Landtage.
KEIN DURCHBRUCH IN BETRIEBEN
Sogar in den Betrieben, wo Kommunisten nach Lenin "zu allen möglichen Kniffen, Listen und illegalen Methoden, zur Verschweigung, zur Verheimlichung bereit sein müssen, um nur in die Gewerkschaften hinzueinkommen, in ihnen zu bleiben und in ihnen um jeden Preis kommunistische Arbeit zu leisten", blieb die DKP trotz "konsequenter Kleinarbeit" (Kapluck) der Durchbruch versagt. Und das bei einer fortwährenden Arbeitslosenzahl, die schon in den siebziger Jahren bei 1,5 Millionen lag und sich in drei Jahrzehnten nahezu verdoppelte. mitunter verdreifachte. Dauerkrise. Von den 200.000 Betriebsräten in der alten Bundesrepublik, die Anfang 1975 gewählt worden sind, stellte die DKP trotz aller wirtschaftlicher Engpässe mit sozialen Härten bei Entlassungen lediglich tausend und blieb damit bei 0,5 Prozent. - Eine verschwindende Minderheit.
PARALYSE AN DEN UNIS
An den 41 Universitäten und Technischen Hochschulen mit Studentenparlamenten blockieren sich die DKP-Kommunisten und die im Kommunistischen Bund Westdeutschlands organisierten Mao-Anhänger gegenseitig. Dort gewinnt die DKP immerhin in begrenzten Umgang an Einfluss auf die "neuen sozialen Bewegungen"; weg von der "Handarbeiterklasse" - hin zur Intelligenz. Der Marxistische Studentenbund (MSB) "Spartakus" (Mitglieder: 4.700) sitzt in 35, die Mao-Linke (Mitglieder: 4.500) in 33 Parlamente. Der Konflikt, wer ein "Sozialfaschist" oder "ein Büttel der Reaktion" sei und die Revolution verraten habe, schwelt unvermindert weiter. Von den 842.000 Studenten haben sich nur ganze 1,4 Prozent hinter den roten Fahnen gesammelt, 1974 waren es immerhin noch 1,8 Prozent. In besagten Universitäts-Städten Göttingen, Hannover, Bremen, Marburg oder auch Tübingen sitzt die DKP in Stadtparlamenten jener Jahre. Der MSB "Spartakus" hat sich im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahre 1990 von den Hochschulen verabschiedet - wurde still aufgelöst. - Friedhofsruhe.
ANGST VOR BERUFSVERBOT
Im öffentlichen Dienst, den CDU/CDU-Scharfmacher wie Franz-Josef Strauß (*1915+1988) und Alfred Dregger (*1920+2002 ) von Kommunisten unterwandert sahen, sind von 3,4 Millionen Beamten, Angestellten und Arbeitern 1.789 Kommunisten in den siebziger Jahren. Beim Bund arbeiten demnach nur 256, Auf 1900 Angehörige des öffentlichen Dienstes kommt demnach ein Roter. - Schreckgespenster.
BGS UND POLIZEI
Demzufolge gibt es beim Bundesgrenzschutz und bei der Polizei gar keine Kommunisten. Doch das hindert die Behörden nicht, DKP-Anhänger auszuspähen und zu jagen. Parteichef Herbert Mies: "Mit den Berufsverboten will man uns an den Rand der Legalität drängen und die Gurgel zudrücken." Indes: Die DKP hat allerdings wenig getan, um den Argwohn des Staates zu zerstreuen und den geheimnisumwitterten Schleier ihres Getto-Daseins wenigstens etwas zu lüften. Die Fenster der Essener Parteizentrale etwa sind vergittert, Tag und Nacht wird das Haus in der Hoffnungstraße bewacht, Stahlblenden sollen vor Neugierigen schützen. Der Keller hat einen Notausgang, in einem Raum liegen Schutzhelme und Gasmasken. Im ersten Stock des Parteigebäudes ist die "Karl-Liebknecht-Schule" untergebracht. 1.400 DKP-Genossen werden dort jährlich, meist in Wochenlehrgängen, ideologisch getrimmt.
LENIN-SCHÜLER
Den Lenin-Schülern wird erklärt, wiederholt und nochmals verdeutlicht, dass
0 die Theorie von Marx, Engels und Lenin "eine Anleitung zum Handeln ist und die geistige Waffen bietet, mit denen ... ... der Weg zum Sozialismus auch in der Bundesrepublik erkämpft werden kann";
0 "das wichtigste Kriterium für eine wirkliche revolutionäre und internationalistische Gesinnung die Haltung zur Sowjetunion ist ...";
0 "die Verwirklichung des Sozialismus eine Revolution und damit mehr als eine Reform oder Summe von Reformen ist";
0 die DKP für eine sozialistische Ordnung kämpft, "deren Grundmodell in den Ländern der sozialistischen Staatengemeinschaft verwirklicht ist ...";
0 es niemals zuvor in der Geschichte eine Gesellschaft gegeben hat, die "so menschlich, so freiheitlich und so demokratisch war wie die Gesellschaft in den Ländern des realen Sozialismus. Dort hat das arbeitende Volk reale Freiheit und reale Demokratie ... Von der realen Menschlichkeit können die Arbeiter in der Welt des Kapitalismus nur träumen."
AUF NACH MOSKAU
Wer zu den jährlich etwa 220 Auserwählten zählt, die zu Jahres-, Halb- und Vierteljahreslehrgängen an das "Institut für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der KPdSU" nach Moskau geschickt werden, oder wer das "Franz-Mehring-Institut" der SED in Ostberlin (Parteischule für westdeutschen DKP-Funktionäre) besuchen darf, "der muss auch etwas in der Praxis geleistet haben," sagt Manfred Kapluck.
VOR WESTAGENTEN SCHÜTZEN
Die Auswahl der priviligierten Kader trifft der engste Zirkel um Parteichef Herbert Mies. Bottrops DKP-Fraktionsvorsitzender Heinz Czymek: "Wir müssen uns doch vor Westagenten schützen." Wie schon zu KPD-Zeiten ist der Mies-Zirkel (das sogenannte Sekretariat des Vorstandes) "die operative politische und organisatorische Führung der Partei". Beim Entscheidungsprozess ziehen die Mies-Genossen streng geheime Fragebögen zu Rate, die Auskunft über die Intimsphäre der Kandidaten, über ihren beruflichen Werdegang und über ihre Charaktereigenschaften geben.
PARTEIKARRIEREN ... ...
Wer in der Partei Karriere machen will, muss auch in Ostberlin wohlgelitten sein. Denn die Westabteilung beim Zentralkomitee der SED unter Leitung von Professor Herbert Häber (1973-1985) trifft, so der DKP-Experte Hermann Weber an der Universität Mannheim, "sämtliche Vorentscheidungen , mit welchen Leuten die westdeutsche Parteihierarchie besetzt wird." (Am 11. Mai 2004 wurde Häber vom Landgericht Berlin wegen der Anstiftung zum dreifachen Mord schuldig gesprochen; mitverantwortlich für den Tod von drei an der früheren "Staatsgrenze" erschossener Menschen). Bis 1989 war Herbert Häber Mitarbeiter bei der Akademie für Gsellschaftswissenschaften beim Politbüro des ZK der SED.
MIT DECKNAMEN IM WESTEN
Oft fahren SED- und Gewerkschaftsfunktionäre aus den sogenannten Patenbezirken der DDR uner Decknamen in die Bundesrepublik, um den DKP-Genossen bei der Verwirklichung des "realen Sozialismus" zu helfen. 1975 gingen etwa 1.400 Parteibürokraten auf West-Reise. Für Herbert Mies ist es freilich undenkbar, dass sich die DKP irgendwann von der Vormundschaft der SED befreit, um nach dem Vorbild der italienischen und französischen Genossen mit einem unabhängigen Kurs Wählerstimmen zu gewinnen. Mies: "Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr, als dass die Deutsche Kommunistische Partei für den Lophn bürgerlicher Salonfähigkeit auch nur ein Fußbreit abweicht von der Lehre von Marx, Engels und Lenin, von der große Idee des proletarischen Internationalismus." Vor dem italienischen Weg wird scharf gewarnt: "Derartige Nachgiebigkeit und Prinzipienlosigkeit duldet unsere Partei in ihren Reihen nicht."
30-MILLIONEN-PARTEI-SPRITZE
Die Nibelungen-Treue zu Ostberlin hat auch finanzielle Hintergründe. Jährlich greift die SED den westdeutschen Gesinnungsfreunden mindestens mit einer 30-Millionen-Mark-Spritze unter die Arme - so der Verfassungsschutzbericht für 1975. Mit der Summe, die über 20 kommunistische Handelsunternehmen im westlichen Ausland in die Bundesrepublik geschleust wird, werden die hauptamtlichen Parteiangestellten gelöhnt. Von den 91 Mitgliedern im DKP-Vorstand verdient gut die Hälfte zwischen 1.700 und 2.500 Mark brutto. Kapluck: "Wir haben genügend Funktionäre für eine Millionen-Partei. Nur es fehlen uns die Millionen."
SEKTE OHNE WAHL-CHANCE
Die DDR-Treue (Kapluck: "Honecker und Mies sind schon über 30 Jahre befreundet") ist für den DKP-Experten Professor Hermann Weber der Hauptgrund, "dass die DKP neben der KP Luxemburg eine Sekte ohne reelle Wahlchancen bleibt". Nur Herbert Mies verbreitet von Wahl zu Wahl Zweckoptimismus. 1972 erklärte er: "Es wird die Zeit kommen, da werden auch Kommunisten in den Parlamenten sitzen. Wir haben einen langen Atem." Vier Jahre später tröstet er seine Anhänger: "Die DKP wird bei der nächsten Bundestagswahl keinen starken Sprung nach vorn machen bei den Wählerstimmen (1972: 0,3 Prozent) machen." Aber 1980 sei es dann soweit. Doch manchmal scheint selbst Herbert Mies zu resignieren: "Bisweilen ist es schon trostlos. Da beißt sich einfach die Katze in den Schwanz". - Seither war die DKP auf Wahllisten für Bundestagswahlen nicht mehr gesehen.
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POSTSCRIPTUM . - Herbert Mies trat im Jahre 1990 als DKP-Chef zurück, arbeitete bis 1997 als Vorsitzender des Mannheimer Gesprächskreises Geschichte und Politik. Seit 1995 verdient er seinen Lebensunterhalt bei der Arbeiterwohlfahrt in Mannheim-Schönau. Nachfolger wurde der Diplom-Ingenieur Heinz Stehr aus Elmshorn (Schleswig-Holstein). Er wurde auf dem 13. Parteitag im Februar 1996 in Dortmund gewählt. Er war zuvor langjähriger Funktionär der Sozialistischen Arbeiterjugend (SDAJ). Bei der Wahl zum Europäischen Parlament im Jahr 2004 trat Heinz Stehr als Spitzenkandidat an. Er erreichte bundesweit 0,1 Prozent (37.231 Stimmen).