Donnerstag, 4. Dezember 1975

Aufruhr in Polen - Genossen gegen Gierek: Preise, Warenknappheit, Freiheit - Meinungsfreiheit






















Polen kommt nicht zur Ruhe. Erosionen - Momente etwa eines Bürgerkriegs in dem zwischen Ost und West zerriebenen Land. Rasante Preissteigerungen, Warenknappheit, geplünderte Sparbücher, jäher Absturz des Lebensstandards. Mittendrin blockt eine moskauhörige Beton-Fraktion noch so zaghafter Reformpolitik des polnischen KP-Chefs Edward Gierek ( 1970-1980; *1913+2001) ab. Er scheiterte mit der Modernisierung der Wirtschaft, konnte die horrende Auslands-Verschuldung nicht annähernd tilgen. Der Arbeiter Edward Gierek wurde nach Gründung der Solidarnosc-Gewerkschaft (1980) gestürzt und nach Verhängung des Kriegsrechts durch General Wojciech Jaruzelski im Jahre 1981 - noch im selben Jahr Ministerpräsident - kurzzeitig inhaftiert.


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stern, Hamburg
4. Dezember 1975
von Reimar Oltmanns

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Der Machtkampf in der polnischen Parteispitze wurde von Flammenzeichen begleitet. Am 21. September 1975 brannte die Warschauer Wislostrada (Weichselautostraße) lichterloh. Die Asphaltstraße war mit flüssigem Napalm überschüttet . Wenig später schlugen Flammen aus den Fenstern des Warenhauses "Cedet" in der Warschauer Innenstadt. Das beliebte Einkaufszentrum brannte völlig aus. Im Königsschloss glomm das Gebälk. In Wroclaw, früher Breslau, loderten mehrere Brandherde in der größten Kirche der Stadt.

WARSCHAU WIRD BRENNEN

Zwei Wochen vor dem VII. Parteitag der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, der am 8. Dezember 1975 in Warschau beginnt, drohten die bislang unbekannten Brandstifter sogar: Wenn jetzt die Preise erhöht werden, dann werde bald die ganze Hauptstadt brennen. Preise und Warenknappheit beunruhigen viele Polen. Vor den Sparkassen stehen Schlangen. Ein Warschauer Bank-Angestellter: "Jahrelang haben uns die Leute ihr Geld gebracht. Jetzt heben sie auf einmal alles von den Konten ab." - Und kaufbesessen drängen die nervös gewordenen Menschen sich in die teuersten Textilläden der Nowy-Swiat-Straße. Sowjetische Pelzmäntel, die zwischen 12.000 und 20.000 Zloty kosten (durchschnittliches Monatseinkommen: 3.200 Zloty), werden bar bezahlt.

GRÖSSTE KRISE IM NACHKRIEGS-POLEN

Trotz der bisher erfolgreichen Wirtschaftspolitik des Parteichefs Eward Gierek - Polen verdrängte die DDR vom zweiten Platz der Industrienationen in der Ostblock-Gemeinschaft COMECON (gegründet 1949 als Gegengewicht zum Marschall-Plan des Westens), und den meisten Polen geht es heute besser denn je - steht die größte Krise in der 30jährigen Nachkriegsgeschichte Polens bevor. Um den Staatshaushalt vor dem Bankrott zu bewahren, muss Gierek im nächsten Jahr stufenweise die Preise heraufsetzen:

o Lebensmittel (Preise seit 1970 nicht erhöht) zwischen 40 und 50 Prozent;

o Textilien bis zu 40 Prozent;

o Elektrogeräte 35 Prozent;

o Baumaterial 20 bis 30 Prozent;

o Bahntarife bis zu 40 Prozent.

TV-LIVE-ÜBERTRAGUNGEN ABGEBROCHEN

Aber für solche Preissteigerungen braucht Edward Gierek, 62, die Zustimmung des Zentralkomitees, das auf dem Parteitag neu gewählt wird; und vor allem benötigt er Ruhe im Lande. Deshalb wirbt der Parteichef seit vielen Wochen auf Veranstaltungen in allen Provinzen - Motto: "Arbeiter fragen den Genossen 1. Sekretär" - um Verständnis für die wirtschaftliche Lage. Das Fernsehen, das ursprünglich einige Auftritte live übertragen sollte, durfte erst hinterher kurze Ausschnitte senden. Der Grund: Applaus gab es nur am Anfang und am Schluss, sonst schrille Proteste und Pfiffe.

ARBEITER-AUFSTÄNDE UNVERGESSEN

Die blutig niedergeschlagenen Arbeiteraufstände in Posen 1956 und in Stettin und Danzig 1970 - nach denen Edward Gierek an die Macht kam - sind im Lande unvergessen. Die zunehmende Unruhe unter den Arbeitern hat schon wieder alte Gierek-Gegner auf den Plan gerufen. Angeführt von Ministerpräsident Piotr Jaroszewicz,66 (Ministerpräsident 1970-1980, *1909+1992; wurde unter nicht geklärten Umständen ermordet), der einst als Polit-Offizier dere I. Polnischen Armee auf Seiten der Sowjets Polen befreien half, wollen die moskautreuen Falken die Wirtschaftsreformer und Technokraten um Gierek zu einer einschneidenden Kursänderung zwingen.

NACH WESTEN GEÖFFNET

Ihr Argument: Polen habe sich auf Kosten der "internationalen Solidarität" zu weit nach Westen geöffnet. Statt der versprochenen 10 Milliarden Mark als Entschädigung für KZ-Häftlinge und Rentner habe Gierek nur 2,3 Milliarden Mark von der Bundesrepublik Deutschland bekommen. Die Staatsbesuche des französischen und des amerikanischen Präsidenten in Warschau hätten im Moskauer Zentralkomitee schon die Befürchtung aufkommen lassen, ob Polen noch ein verlässlicher Bündnispartner sei. Vor allem bringe die hohe Verschuldung im kapitalistischen Ausland - 5 Milliarden Dollar - Polen in eine langfristige Abhängigkeit gegenüber dem Westen, denn das Land könne erst jetzt mit der Rückzahlung eines amerikanischen Kredits von 1938 beginnen. Und der Import arabischen Erdöls habe nicht nur die Sowjetunion verärgert, sondern vor allem die Inflation (9 bis 15 Prozent) angeheizt.

KONSPIRATIVE TREFFEN

Unterstützt wird die Moskau-Fraktion im ZK von siebzehn Regierungspräsidenten, die durch die Gebietsreform im Juni dieses Jahres an Einfluss verloren, als die bisher 17 Bezirke in 49 aufgeteilt wurden. Zu ihnen gehören zwei Provinzchefs, die damals, im Dezember 1970 , für den Panzereinsatz gegen die Arbeiter verantwortlich waren. Auch die alten Partisanen, die schon 1971 in Olsztyn (früher Allenstein) ein konspiratives Treffen gegen den Reformpolitiker Edward Gierek organisierten, wollen auf dem Parteitag die KPdSU-Fraktion unterstützen.

ÜBERLEBENS-KAMPF

Der einstige Arbeiter in nordfranzösischen Fabriken, Edward Gierek, will sich in seinem politischen Überlebenskampf auf dem Parteitag vor allem auf jüngere Kandidaten stützen. Er sorgte dafür, dass von den 218 ZK-Mitgliedern 63 nicht wieder als Kandidaten aufgestellt wurden. Von den neuen aber hören mindestens 40 auf die moskautreuen Gierek-Gegner. - Ein Vabanque-Spiel auf Messers Schneide um die Macht in Polen in diesen Jahren. Ein hoher Parteifunktionär, der natürlich nicht genannt sein will, verdeutlicht hinter vorgehaltener Hand: "Auf dem Parteitag wird sich Giereks Zukunft entscheiden. Wenn er keine breite Mehrheit im ZK bekommt, kann er die Preiserhöhungen und ideologischen Flügelkämpfe nicht durchstehen."



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