Donnerstag, 24. Juli 1975

Aus deutschen Landen der Zeitgeschichte - Wenn DDR-Bürger schwimmen gehen ... ...






























Anfang der siebziger Jahre war auch die DDR im Zeichen der Massenmotorisierung zu einem Land des Massentourismus geworden. An der sozialistischen Ostsee - den beliebtesten Urlaubsorten der DDR - lief selbst die Erholung nach Plan. Die Gewerkschaft bestimmte, wer, wann, wo und wie Ferien machen konnte. Nahezu drei Viertel aller Erholungsplätze wurden durch den Staat und seinen Betrieben vergeben. Die Ostsee-Woche (1958-1975) war ein jährlich veranstaltetes internationales Festival. Urlaubs-Szenarien aus einer verschollenen Ära.



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stern, Hamburg
24. Juli 1975
von Reimar Oltmanns
und Dieter Heggemann (Fotos)
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Am Badestrand von Warnemünde scheppern aus Transistor-Lautsprecher Erfolgsschlager der fünfziger Jahre. Für die Ostsee-Urlauber sendet Radio Rostock ein leichtes Sommerprogramm. Lale Andersen (*1905+1972) prophezeit dem größten Überseehafen der DDR immer noch: "Ein Schiff wird kommen." In der Kurmuschel auf der Strandpromenade von Ahlbeck an der polnischen Grenze erntet der Geiger - mit Toupet, Fliege und schwarzem Anzug - Applaus für Evergreens längst verschütteter Jahre ("Ich hab' das Fräulein Helen, baden seh'n, das war schön").

SCHOKOLADEN-EISVERKÄUFER

Im Küstenstädtchen Boltenhagen - 40 Kilometer östlich von Lübeck - ist die Eisverkäufer-Brigade schon am frühen Nachmittag arbeitslos. In wenigen Stunden waren 700 Kilo Tagesration ausverkauft. Aus dem Radio die Melodie: "Das ist der Umba, Umba, Schokoladen-Eisverkäufer."

FOXTROTT MIT EGON

In der Aula der Universität Rostock stellt sich die SED-Führung den "bohrenden Fragen" der internationalen Presse; allen voran der mit obligat knalligem Blau- Hemd ausgestattete Generalsekretär des Zentralrates der Freien Deutschen Jugend, FDJ-Chef Egon Krenz (1967-1974). Seine Neuigkeit ist so alt wie die Ostsee-Woche, 22 Jahre. "Die Ostsee muss ein Meer des Friedens sein", verhallt es da lapidar. Auf dem Uni-Campus hat sich derweil eine kleine Mädchen-Traube ausgewiesener FDJlerinnen gebildet. Heiter ist die Stimmung, erwartungsvoll das Erleben. Eine Genossin stimmt plötzlich den Ohrwurm an, der da die Gemüter schwingen lässt. "Eeeeegon, ich hab ja nur aus Liebe zu dir, ja nur aus lauter Liebe zu dir, ein Glas zuviel getrunken, ach Egon, Egon, Egon." (Komponist Friedel Hensch, 1952). Stund' um Stund' wird nach dem berühmten Egon geträllert - bis endlich, ja endlich der einstige FDJ-Sekretär der Rostocker Bezirksleitung in ganz jungen Jahren (1960) zu einem Tänzchen ("Aber, Genossin nur unseren Foxtrott, nichts vom Beat") auf dem staubigen Sandboden überredet wird. Ihre Antwort: "Yes Sir, I can Boogie". Krenz -Heimspiel. Swinging DDR anno '75.

MEER DES FRIEDENS

Für die DDR-Bevölkerung ist das Meer des Friedens mit seinem 470 Kilometer langen Küstenstreifen vor allem ein begehrter Badestrand, der einzige in der Republik, an dem sich die meisten tummeln möchten. Spätestens seit den siebziger Jahren ist auch der zweite deutsche Staat zu einem Land des Massentourismus geworden. So schieben sich täglich die Autoschlangen mit Wartburgs und graumäusigen Trabanten (Volksmund: Trabbis) auf den Fernstraße nach Norden. Vor Tankstellen bilden sich über 100 Meter lange Pkw-Schlangen, Restaurants sind überfüllt. "Massentourismus" lautet jener allseits fasznierende Begriff dieser Jahre. Ein Stückchen Freiheit, ein bisschen Beweglichkeit, wobei Reisen allerdings fast nur im Bereich der "sozialistischen Bruderstaaten" möglich sind; aber immerhin, wenigstens das.

DAMPF-EISENBAHN "MOLLI"

Und wenn um 16.30 Uhr im mecklenburgischen Kühlungsborn die Dampf-Eisenbahn mit urlaubsreifen Werktätigen einläuft, herrscht im kleinen Bahnhof nicht nur Vorfreude auf den Badestrand. Dies ist auch die Stunde des Genossen Günther Witt vom Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB), der nichts dem Zufall überlassen darf. Freizeit und Urlaub sind nämlich eingebunden in die anspruchsvolle DDR-Zielsetzung, eine sozialistische Kulturgesesellschaft zu bauen. Folglich obliegt es der Einheitsgewerkschaft als Reisebüro und Quartiermacher zu fungieren.

VOM KELLNER ZUM DR. OEC.

FDGB-Bezirksleiter Günther Witt, der während der Nazi-Zeit in dem renommierten Badeort kellnerte, inzwischen den Dr. oec. (Thema: Tourismus) erwarb, ist stolz darauf, Familien der Arbeitsbrigaden in historischen Villen nächtigen und neuerbauten Heimen unterbringen zu können. Heute erholen sich 2,4 Millionen DDR-Bürger und Bürgerinnen an der roten Ostsee. 1938 gab es hier nur 400.000 Urlauber - meist betuchte Privilegierte. Damit wurden praktisch drei Viertel aller Erholungsplätze durch den Staat und seine Betriebe vergeben. Mitte der achtziger Jahre sollte die DDR mit insgesamt 137.000 Betten und 1,9 Millionen Feriengästen ihre Höchstzahl erreichen.

SUBVENTIONEN VOM STAAT

Den Platz an der Sonne bestimmt dafür jetzt der FDGB, der für den Ferienservice 300 Millionen Mark jährlich aus dem Staatshaushalt zubuttert. Mit dem staatlichen Urlaubsgeld wird zum Beispiel dem Arbeiter Harald Engelhartt vom Ernst-Grube-Werk in Werdau der Ostsee-Urlaub erst möglich gemacht. In Kühlungsborn bewohnt der 35jährige Anlageführer mit Frau Hannelore, den Kindern Jens, 7, Silke,6, und Hanka, 5, zwei Zimmer im Ernst-Grube-Heim, einem konfortablen Neubau.

FERIENSCHECK VOM WERKS-KOLLEKTIV

Den Ferienscheck - Gutscheine für Reise, Haus und Verpflegung, nur der Strandkorb kostet extra 15,20 Mark für 13 Tage - bekam Vater Engelhartt bereits sechs Monate vor Urlaubsantritt. Vorausgegangen waren Diskussionen im FDGB-Werkskolletiv, das letztlich darüber entscheidet, welcher Genosse wo seine Ferien verbringen darf. "Wir müssen als Arbeiterklasse die attraktiven Plätze nach sozialen Gesichtspunkten vergeben", erklärt umsichtig Funktionär Günther Witt. Dieser Meinung schließt sich FDGB-Mitglied Engelhartt an. Seit seiner Heirat vor acht Jahren macht die Familie zum ersten Mal Ferien am Meer. Ohne FDGB-Mitgliedsbuch bliebe für die Engelhartts Urlaub an der Küste weiterhin Illusion. So ist Engelhartt recht "froh, in der Gewerkschaft organisiert zu sein." Denn dem FDGB gehören außer den Interhotels fast sämtliche Quartiere an der Ostsee (986.000 Betten).

VORFREUDE AM GRÖSSTEN

Aber irgendwie kann Vater Engelhartt seine Ernüchterung kaum verbergen. Vielleicht haben sich in all den Jahren des Ausharrens auf einen lang ersehnten Ferienplatz zusehends die Erwartungen nach oben geschraubt. Auffallend leise gesteht er, "das Essen ist mies, die Zimmer bescheiden, Bad auf dem Flur, nur ein Fernseher im Aufenthaltsraum . Bohnenkaffee dürfen wir nur zum Frühstück schlürfen gegen Aufpreis natürlich. Der Muckefuck schmeckt plürrig, drei Scheiben fettklumpige Wurst gibt's zum Abendessen auf Zuteilung; Sülzwurst, Griebenwurst und so'ne dunkle, fettige, fast ohne Fleisch." Immer, wenn die Kellnerin laut krachend die Pendeltür mit einem Fußtritt aufstößt und neue Aufschnittplatten in den Saal hineinträgt, stürzt sich die gesamte Urlauberschaft wie eine Meute aufs Tablett. Die Jagd nach dem besonderen Häppchen hatte begonnen. Und das Tag für Tag, Abend für Abend. "Aber", bedeutet Harald Engelharrt, " wir sind doch glücklich, einen so günstigen FDGB-Ferienplatz ergattert zu haben. "

KAUM PRIVAT-PENSIONEN

Die wenigen verbliebenen Privatpensionen sollen künftig noch gezielter als bisher ihre Plätze dem FDGB überlassen. Schon heute vermittelt die Gewerkschaft von dne 17 Millionen DDR-Bürgern jeden dritten zu relativ günstigen Preisen in die Erholung. - Die Gewerkschaft als Reisobüro mit obligaten Gesinnungs-TÜV. Familie Engelhartt - die Eheleute verdienen monatlich 1.200 Mark brutto - zahlt für 13 Tage Ostsee mit Vollverpflegung 570 Mark. Je 30 Mark für die Kinder und je 240 Mark für sich. Für diesen Preis brauchen sich die Werktätigen aber auch um nichts zu kümmern. Das Kollektiv des Erholungsheimes ist den "wehrten Gästen" allgegenwärtig. Das beginnt mit dem Wecken zwischen sechs und sieben, der Bettruhe möglichst gegen 22 Uhr.

KALORIEN-TABELLEN

Das reichhaltig Angebot auf der Speisekarte berücksichtigt die "Grundsätze der gesundheitsfördernden Ernährung". Auf Seite eins steht: "Ihr Kalorienbedarf im Tagesablauf beträgt: Für Facharbeiter ohne wesentliche körperliche Anstrengung (Zeichner, Optiker, Chemiker oder leitende Angestellte) 2.700 Kalorien. Für mittelschwer arbeitende Werktätige (Tischler, Schumacher, Schlosser oder Druckformhersteller) 3.500. Für Schwerstarbeiter (Dachdecker, Schmied, Walzwerker, Bergmann oder Gleisbauarbeiter) 4.400. Für Kinder 2.100 Kalorien."

FRESS-WELLE

Doch nicht nur am Büfett wacht der FDGB daüber, dass die in der DDR ausgebrochene Freßwelle eingedämmt wird (Programm: "Jeder ist, was er isst"). Nach dem Motto "wer rastet, der rostet" steht der "sozialistische Mensch" auch in den Ferien im organisierten Wettbewerb: im sportlichen, modischen, ideologischen. Morgens neun Uhr: Konditionstest oder Lauf der Freundschaftsmeile. Gymnastik, Tischtennis- oder Volleyballturniere, Schwimmwettbewerbe über 70 Meter und "volkstümliche Dreikämpfe" - bestehend aus Lauf, Sprung und Stoß" - schließen sich an.

PUPPENDOKTOR PILLE

Nachmittags ist für Kinder "Lachen die beste Medizin" eine heitere Sprechstunde bei Frau Puppendoktor Pille, Eintritt 0,50 Mark. Oder am Strand gibt's "Korbballzielwerfen für die Familie". Für die Mütter gastiert im Konzertgarten Ost "der Meodezeichnerverband für spezialveredelte Erzeugnisse der DDR". Über 100 Modelle zeigen Charme, Schick und in HO-Läden nicht erhältliche Entwürfe.

VICTOR HUGOS "ELENDEN"

Am Abend tanzen die Urlauber entweder an "allen Verpflegungsstellen" (Programm) - wer sich einen Platz im Kurhaus ergattert, vergnügt sich bei der Wolfgang-Gißmann-Combo - oder es geht ins Kino "Aber das Blut ist rot" oder zu Victor Hugos (*1802+1885) "Elenden". Zum guten Ton gehört es auch, mindestens einmal in den Ferien etwas fürs "sozialistische Bewusstein" (Funktionär Witt) zu tun. Zahlreiche Veranstaltungen sind darauf abgestellt. Strandbühne 15 Uhr: "30 Jahre danach - Der antifaschistische Widerstandskampf und die Erfüllung seines Vermächtnisses in der DDR." FDGB-Heim 19.30 Uhr: "Zwischen zwei Parteitagen: Entwicklung und Politik der DDR." Waldkrone 20 Uhr: "Dia-Ton-Vortrag über den Revolutionär und Theologen Thomas Müntzer (*1489+1525) - die historischen Beweggrunde der Bauernaufstände."

POLIT-PROGRAMM, HEIM-UNTERKUNFT

Trotz Polit-Programm, Massenverpflegung und Heimunterkunft ist für DDR-Bürger die Ostsee das beliebteste Urlaubsziel. Jährlich warten 300.000 Familien vergebens auf eien FDGB-Zuweisung. Denn auch die sechzig Campingplätze zwischen Boltenhagen und Ahlbeck sind überfüllt. Selbst Zeltplätze werden in der DDR zentral vom Computer vergeben. Kühlungsborn Bürgermeister Walter Vörgaard :"Wir müssen im Sozialismus schließlich gerecht vergeben."

VILLEN FÜR PARTEIKADER

Wie gerecht die sozialistische Wirklichkeit aussieht, verraten auf der Landzunge zum Darß die pittoresken Badeorte Ahrenshoop und Wustrow. Entlang der Strandböschung entstand eine Art sozialistisches Kampen; irgendwie schon vergleichbar mit diesem Ort auf der Schicki-Mikki-Insel Sylt. Weißgetünchte Villen und Bungalows mit reetgedeckten Dächern reihen sich weiträumig aneinander. Wassersprüher ziehen auf den riesigen Rasenflächen und üppigen Rosenbeeten ihre Kreise. Der sowjetische Moskwitsch oder der tschechische Skoda - Klassen besser als der Zweitakter Trabant - parken in den Garagen. Zwischen Ahrenshoop und Wustrow entspannt sich weit entfernt, unnahbar die Elite vom "klassenlosen" Alltag. SED-Funktionäre, Ärzte, Ingenieure, Werksdirektoren. Ihre Luxushäuser, meist von Feierabendkolonnen und in Schwarzarbeit hochgezogen, kosten zwischen 75.000 und 100.000 Mark. Der Boden wird vom Staat für 99 Jahre verpachtet. Die Verträge müssen jedoch Jahr für Jahr bestätigt werden. Mit dieser Klausel sichert sich der SED-Staat die Loyalität seiner Intelligenz.

BLAU-HEMDEN AUF GEMÜSEFELDERN

Wie der FDGB für die erwachsenen Urlauber, organisiert die "Freie Deutschen Jugend" (FDJ) für die Heranwachsenden die Ferien. In vierzehntägigen Sommerlagern wird "Erholung und Arbeit" geboten. FDJ-Funktionär Christian Molzen: "Schulen und Universitäten gehen in die Lager, um das Kollektiv zu festigen." Der Altkommunist und Landwirtschaftsdirektor Erich Tack ergänzt: "Die müssen begreifen, dass der Schweiß salzig schmeckt." Nach dem Prinzip "Hohe Leistungen im sozialistischen Wettbewerb" arbeiten die Blauhemden m FDJ-Camp Gallentin täglich sechs Stunden (Lohn pro Tag: 15 Mark) auf Gemüsefelder und in Tierställen. Im Ostseebad Bansin legen FDJ-Brigaden Gräben für eine neue Kanalisation. In Stralsund bauen Feierabendgruppen den ausrangierten Wasserturm tueiner Jugendherberge um.

IM FERNEN CHILE ODER PORTUGAL

Politische Kampf-Appelle zu Portugal und Chile, alte Partisanen-Filme ("Pankow schlägt sich durch") prägen im Camp die Freizeit. Beat- und Rockveranstaltungen gibt es , so Lagerleiter Horst Grunwald - "nur dann, wenn Disziplin, Sauberkeit und Ordnung herrscht. Dann dürften unsere Genossen auch mal 'ne Stunde länger tanzen." Auslandsreisen sind nur als Lohn für Übererfüllung des Plans gedacht. So sollen die Leistungen der Kollektiv in den Betrieben und der Fleiß der DDR-Schüler angestachelt werden. Der Urlaub jenseits der Grenzen ist freilich auf sozialistische Bruderländer beschränkt: So verlebt die Hälfte aller DDR-Einwohner (8,5 Millionen) ihre Ferien zu Hause. Die Zahl der Kleingärtner und Geflügelzüchter überstieg jedenfalls Mitte der siebziger Jahre die Millionengrenze.