Donnerstag, 18. Dezember 1975

Polnische Spät-Aussiedler - "Heim ins Reich"





















Zwischen 1950 und 1998 kamen etwa 1,44 Millionen Aussiedler und Aussiedlerinnen von Polen nach Deutschland. Als Folge des Warschauer Vertrags von 1970 über die Grundlagen der Normalisierung der Beziehungen zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland wurde erneut eine Vereinbarung über die Möglichkeit der Familienzusammenführung von Deutschen aus Polen getroffen. Die Volksrepublik Polen erkannte damit indirekt die Existenz von Deutschen im Lande an. Während Polen von einigen Zehntausenden von Ausreisewilligen ausging, lagen dem Deutschen Roten Kreuz 1970 etwa 250.000 Anträge v0r. Die zurückhaltende Genehmigungspraxis der polnischen Behörden veranlasste Bundeskanzler Helmut Schmidt (1974-1982) bei Gesprächen mit Polens Staatschef Edward Gierek ( *1913+2001) am Rande der KSZE-Konferenz in Helsinki 1975 auf die Unterzeichnung eines Ausreiseprotokolls zu drängen. Danach sollten innerhalb von vier Jahren weitere 125.000 Personen eine Ausreiseerlaubnis erhalten. Der Zuzug aus Polen nach Deutschland ist erst zu Beginn der neunziger Jahren durch die Neufassung des Aussiedleraufnahmegesetz gestoppt worden. Rückblick. Zeitgeschichte.


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stern, Hamburg
18. Dezember 1975
Ein Bericht von
Reimar Oltmanns und
Dirk Reinartz (Fotos)
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Die Kiste steht mitten in der Küche. Dem 78jährigen Josef Mainka dauert die Packerei viel zu lange. "Wir haben nicht mehr viel Zeit", treibt er seine Schwiegertochter Monika Mainka, 37, an, die gerade Röcke und Pullover ihrer Töchter Veronika,13, und Christa, 10, verstaut. Zwei Frachtkisten stehen schon gepackt auf dem Hof.
DURCHGANGSLAGER FRIEDLAND - BRD
Die Adresse, in großen schwarzen Lettern auf der Frontseite eingebrannt, ist nicht zu übersehen: "Durchgangslager Friedland - BRD." Damit die Ausreise aus dem oberschlesischen Dorf Kozuby (früher Dammrode) klappt, fährt Mainkas Sohn Jan, 42, noch einmal zum Passport-Büro nach Opole (Oppeln). "Das Frachtgewicht in den Papieren muss ganz genau stimmen, damit wir auch wirklich rüberkommen", sagt Jan. Danach will er als Weihnachtmitbringsel für die Verwandtschaft fünf Gänse schlachten, die noch lauthals auf dem Hof herumschnattern. Land (12 Hektar) und Gebäude sind schon dem polnischen Staat übereignet.
HART ARBEITEN - ZUKUNFT UNGEWISS
Mauer Mainka muss sich noch von seinen Arbeitskollegen verabschieden, mit denen er 20 Jahre im Akkord Häuser baute. Wohl ist ihm dabei nicht. Immerhin brachte er jeden Monat 5.000 Zloty (416 Mark) nach Hause, und die kleine Landwirtschaft, die seine Frau besorgte, warf 2.000 Zloty ab. Jan Mainka frohgemut: "Bei euch soll es sehr schön sein. Aber wie die Verhältnisse tatsächlich sind, wie soll ich das wissen, Wer sagt mir, ob ich einen Arbeitsplatz finde?" Opa Mainka fährt dazwischen: "Wer hart arbeitet, der bringt es auch zu was. Und im ersten Jahr kannst du doch stempeln gehen."
FÜR DEN KAISER VOR VERDUN
Der Alte ist verbittert. Im Ersten Weltkrieg lag er für den Kaiser vor Verdun, in der Nazi-Zeit war er städtischer Angestellter in Breslau (jetzt: Wroclaw). Aber eine Rente bekommt er bis heute nicht, obwohl die Familie 1951 die polnische Nationalität annehmen musste. 1958 hatte Mainka zum ersten Mal die Ausreise beantragt, wollte dann aber doch lieber in der Heimat bleiben. Er glaubte an die von Konrad Adenauer (Bundeskanzler 1949-1963) versprochene Wiedervereinigung Deutschlands in den Grenzen von 1937 und wollte mit dabeisein, wenn die "deutschen Kolonnen" in Schlesien einziehen.
WO OPA SEINE RENTE KRIEGT ... ...
Erst als die SPD/FDP-Koalition vor fünf Jahren den Vertrag mit Warschau (1970) schloss, erkannte Mainka , dass dieses Deutschland ein Traum war. Seitdem will er in die Bundesrepublik, weil "die Mainkas Deutsche bleiben sollen". Deshalb stellte die Familie (Schwiegertochter Monika: "Wir können Opa doch nicht allein fahren lassen") seit 1970 jedes Jahr einen Ausreiseantrag, dann die Genehmigung. Josef Mainka: "Jetzt fahren wir endlich heim ins Reich" - dorthin, wo Opa eine Rente kriegt.
OST-WEST-EXPRESS
Fahrkarten für den Ost-West-Express von Warschau nach Hoek van Holland haben auch der Elektro-Schweißer Werner Frewer,37, seine Frau Maria, 36, und seine Schwiegermutter Maria Wiora aus Czarnowasy (Klosterbrück). "Mir brauchen Sie nichts zu erzählen", sagt die 64jährige. "Wenn wir im Zug sitzen, sind wir keine Pollaken mehr. Dann denke ich nur noch an Deutschland." - "Gucken Sie sich doch mal den Dreck hier an", fährt Maria Wiora fort. "Bloß raus hier. In der Bundesrepublik liegen bestimmt keine Zigarettenkippen auf der Straße, da krakeelen nachts auch die Besoffenen nicht so rum."
HOCHQUALIFIZIERTER ARBEITER
In Czarnowasy bei Opole gehörten die Frewers zu denen, die es zu etwas gebracht hatten. Als hochqualifizierter Industriearbeiter verdiente Werner Frewer einen Spitzenlohn: 6.000 Zloty im Monat. Die Großmutter bekam 1.500 Zloty Rente, und die Drei-Zimmer-Wohnung kostete nur 460 Zloty Miete. Frewer: "Eigentlich kann ich mich nicht beklagen."
POSTKARTEN-IDYLLE VOM "BLAUEN RHEIN"
Doch seit andere ausreisen durften, ist es den Frewers hier zu eng. Die Schwester hat ein Eigenheim bei Düsseldorf, "einen funkelnagelneuen Wagen mit zwei Garagen" (Schwiegermutter Maria). In Czarnowasy aber schauen sie immer noch in die Röhre des Uralt-Fernsehers (Baujahr: 1963). Über der durchgesessenen Couch hängt eine Postkarte der Verwandten aus der Bundeshauptstadt Bonn: ein blauer Rhein, das Poppelsdorfer Schloss im Frühling, Im verschrammten Wohnzimmerschrank steht neben Sammeltassen und bunten Ostereiern ein kleiner Nikolaus.
WEIHNACHTEN IM WESTEN
"Weihnachten", freut sich Frau Maria, "feiern wir schon im Westen." Sie hoffen, bald eine neue Wohnung beziehen und möglichst bald ein Auto kaufen zu können. Werner Frewer fragt uns, welcher Typ am preisgünstigsten ist. - Aber erst kommt das Ausnahmelager Friedland. Die Aufschritt auf der Frachtkiste, die schon im Wohnzimmer steht, erinnert daran. "Doch nur für vier Tage", beschwichtigt die Schwiegermutter. Und die eine Million Arbeitslose? Schweißer Frewer hat keine Angst: "Ihr habt zwei Millionen Gastarbeiter. Die müsst ihr nach Hause schicken."
FLÜCHTLINGSTRECKS AUS MASUREN
Ob im schlesischen Industrie-Revier oder in den weiten Ebenen von Masuren - für alle Deutschen, die 1945 die Flüchtlingstrecks verpassten, für jene, die erst Polen werden und dann doch Deutsche bleiben wollten, und für die, denen über Jahre die Ausreise verweigert wurde, ist Bundesdeutschland eine paradiesische Fata Morgana.
MEHR APFELSINEN ALS KARTOFFELN
So für die 77jährige Bäuerin Johanna Krankowski aus Kopanki, die letztes Jahr zu Besuch "im Reich" war, sie es nennt. Stolz zeigt sie die Fotos ihrer Kinder, die in der Bundesrepublik leben: Farbfernseher, Kühltruhe, Teppichboden. Und sagt: "Die haben mehr Apfelsinen als wir Kartoffeln." - Wenn es nach ihr ginge, würde Johanna Krankowski lieber heute als morgen das Ermland verlassen. Aber ihre Tochter ("Heimat ist Heimat") will auf dem neun Hektar kleinen Hof bleiben. Weil die Altbäuerin ihrer Tochter nicht zutraut, allein den Haushalt zu führen ("Als sie heiratete, konnte sie noch nicht einmal Brot backen") , entschied sie sich dafür, ihren Lebensabend doch in Kopanki zu verbringen.
UNTER HEILIGENBILDERN VON KOPANKI
Aber abends, wenn sie unter den Heiligenbildern auf dem Plüschsofa sitzt und für den vierjährigen Enkel Jaschek Strümpfe strickt, dann erzählt sie dem Besuch aus der Nachbarschaft immer, wie schön es im Westen ist. Die Folge: Von den 20 Familien in Kopanki möchten jetzt fünfzehn ihre Koffer packen. Im 20 Kilometer entfernten Purda, früher Groß Purden, wollen von den 1.600 Einwohnern sogar 1.400 in die Bundesrepublik auswandern. Seit bekannt wurde, dass - dank der Einigung von KP-Chef Edward Gierek mit Bundeskanzler Helmut Schmidt in Helsinki - Polen in den nächsten vier Jahren 125.000 Deutsche ausreisen lassen will, ist "im Dorf eine Epidemie ausgebrochen" (Pfarrer Theodor Zuroi).
SCHLANGE STEHEN: EINMAL - FÜNFZEHN MAL
Wenn eine Familie einen Antrag stellt, fahren auch gleich die Nachbarn mit dem 7-Uhr-Bus zum Passport-Büro in Olsztyn (früher Allenstein) und stehen dann Schlange vor dem Verwaltungsgebäude, um - manche zum 15. Male - ihren Antrag loszuwerden. Chancen rauszukommen, haben nicht so viele. Pfarrer Zuroi deutet bitter an, warum: "Nur die reicheren Bauern haben es bisher geschafft." Gerhard P. aus Olsztyn sagt es deutlicher. Er glaubt, die Praktiken der Passport-Beamten durchschaut zu haben: "Bestechungen ziehen am besten. Deshalb musste die Partei in diesem Jahr schon mehrere Male die Beamten auswechseln." Der Abteilungsleiter eines Industrie-Unternehmens versucht es mit einem anderen Trick. Seinem Stellvertreter, dem Verwandten eines einflussreichen Bezirksfunktionärs, machte er klar, dass er mit einer Beförderung zu rechnen habe, wenn er ihm über seinen direkten Draht nach 17 Ablehnungen endlich die Ausreise verschafft.
PFARRER WILL ALS LETZTER GEHEN
Eine solche Möglichkeit gibt es freilich nicht für Pfarrer Zuroi, der schon einmal vorgefühlt hatte, ob es für ihn eine Pfarrei im Westen gebe, wenn er "als letzter" das Dorf verlasse. Doch so weit ist es noch lange nicht, und der katholische Priester versucht weiter, sich und seine Gemeinde zu trösten, mit Sprüchen wie: "Weil ihr gute Bauern seid, kommt ihr nicht raus." - "Wer das Vaterland liebt, wird auch hier seine Pflicht erfüllen."
DEUTSCHLANDFUNK HÖREN
Das hilft Anton Skrzypski ,46, und seiner Frau Hildegard, 43, wenig, die jeden Abend vor dem Transistorradio sitzen - elektrisches Licht und fließendes Wasser gibt es auf ihrem kleinen Hof nicht -, um im Deutschland-Funk die steigenden Aussiedler-Zahlen zu verfolgen (Oktober: 2500, November: 2800). Immerhin konnten seit dem Jahr 1950 465.000 Deutsche aus Polen in die Bundesrepublik ausreisen. Obwohl Hildegard Skrzypski gar nicht zu den Polen-Deutschen gehört, sondern aus der thüringischen Kreisstadt Rudolfstadt stammt, wird der Familie seit 1958 Jahr für Jahr die Ausreise verweigert. Die letzte Absage erhielt sie am 25. Oktober 1975. Bauer Skrzypski resigniert: "Ich glaube nicht mehr an eine Wende." Er weiß den Grund: Seine Söhne, Tischler Gerhard, 22, und Maurer Clemens, 19, werden als Facharbeiter in Polen dringend gebracht.
WENN POLEN ZAHLEN MUSS ... ...
Großzügiger sind die Behörden, wenn sie selbst zur Kasse gebeten werden können. Zweimal hatte sich Waldarbeiter Bruno Czeczka vergebens um die Ausreise bemüht, Kurz nachdem der 42jährige Anfang des Jahres an einem Herzinfarkt gestorben war, bekam die Witwe Ursula, 39, die Auswanderungspapiere für sich und ihre Kinder Anton, 20, Christel, 19, Leo, 17, Rita, 15, Andreas, 13, Brigitte, 12, und Waldemar, eineinhalb. Der Staat hatte der Witwe und den jüngsten Kindern Rente zahlen müssen. Weil Ursula Checzka mit 1.750 Zloty Rente nicht auskam, übereignete sie ihre neun Hektare Land dem Staat, verkaufte die beiden Kühe und reist nun in eine ungewisse Zukunft in die Bundesrepublik Deutschland. Ursula Czeczka kann nur gebrochenes Deutsch, ihre sieben Kinder sprechen fast kein Wort.
WALGHALSIGE SCHRITTE - NICHT MEHR
Für Frau Hildegard Brosch, 54, die den staatlichen Lebensmittelladen im Dorfe Braswald (Braunswalde) bei Olsztyn führt, kommt dieser "waghalsige Schritt" nicht mehr in Frage. Vor einigen Jahren war sie bei einem Besuch in der Bundesrepublik noch wie geblendet. Sie zog von Geschäft zu Geschäft, bestaunte das Warenangebot ("Warum habe ich bei mir im Laden nur keine grüne Götterspeise?"), kaufte für die 20 deutschen Familien in Braunswalde dutzendweise Groschenromane ein. Ihrer Tochter Irene, heute 21, wollte Hildegard Brosch ein Paar Stiefel mitbringen. Im Kaufhaus fragte sie nach Schuhgröße 37. Es waren jedoch nur wenige Paare eine halbe Nummer kleiner zu haben. Die Verkäuferin riet ihr, die kleineren Lederstiefel zu kaufen und notfalls wieder umzutauschen. Hildegard Brosch: "Das geht aber nicht, denn ich komme aus Polen." Darauf die Verkäuferin: "Für die Polacken ist das doch gut genug. Die Schuhe werden Sie dort immer wieder los."
OSTPREUSSEN KLINGT BESSER
Hildegard Brosch war völlig durcheinander. Beim Schwager, der mit ihrer Schwester erst ein paar Jahre zuvor von Braunswalde nach Hamburg übersiedelt war, suchte sie Beistand. Doch der Schwager verstärkte ihre Unsicherheit noch: "Wenn du hier einkaufen gehst, sag' am besten nicht, dass du aus Polen kommst. Das hören die Leute nicht so gern. Ostpreußen klingt viel besser." - Hildegard Brosch kam nun mal aus Polen. Dort hatte sie sich 30 Jahre als Deutsche gefühlt und verhalten. Sollte sie nun in der Bundesrepublik wieder als Außenseiterin angestempelt werden? "Nein", sagt die 54jährige Kriegerwitwe, "dann bleibe ich lieber dort, in meinem kleinen Laden in der Dorfmitte von Braswald und bei meinen Kühen und zwei Schweinen auf dem Hof."
ISOLIERT UND ÜBERFLÜSSIG
Nein sagte auch die 60jährige Krankenpflegerin Helene Zappa - aber erst nach 12 Jahren Aufenthalt in der von ihr früher so ersehnten Bundesrepublik: "Ich fühlte mich dort isoliert und überflüssig." Als sie 1974 zur polnischen Botschaft nach Köln fuhr, um wieder in die "Heimat zurückzukehren", ahnte sie nicht, dass sie sich damit als Rückwanderer zwischen die deutsch-polnischen Stühle setzen wird. 1951 hatte die Reichsdeutsche die polnische Nationalität annehmen müssen, 1962 durfte sie in den Westen ausreisen, wurde von Polen ausgebürgert und war vorübergehend staatenlos. Dann bekam sie den bundesdeutschen Personalausweis. Um in die Heimat zurückzukehren, musste Helene Zappa 1974 auf die deutsche Nationalität verzichten und wiederum die polnische beantragen. Bis die anerkannt ist, muss Frau Zappa fünf Jahre warten.
STAATENLOS - "EIN HALBER MENSCH"
Solange ist sie staatenlos und deshalb nur ein halber Mensch. Sie darf in keine Organisation eintreten, sie darf nicht wählen, sie darf nicht einmal ein Sparkonto bei der Staatsbank "PKO" einrichten. Immerhin bekommt sie 1.000 Zloty Sozialrente. In Jellow (Illnau) bei Opole, dem Heimatdorf, in das Helene Zappa zurückgekehrt ist, meidet sie die deutschstämmige Bevölkerung die künftige Polin, "Vaterlandsverräterin", riefen ihr die Bauern über die Straße zu, die 1962 ihren Weggang erlebt hatten, aber bis heute vergebens auf die eigene Fahrkarte warten.
EIN JAHR IM SAUERLAND - NACH POLEN ZURÜCK
Nur ein knappes blieb der katholische Pfarrer Edmund Kwapis, 44, im Hochsauerland. In seiner 1.000-Einwohner-Gemeinde wollte niemand etwas mit dem fremden Priester zu tun haben. Bei den Einheimischen hieß Kwapis "der Pole im Talar", die Kollegen sprachen von dem "Schlesier mit dem harten Akzent". Ältere Gemeindemitglieder ließen gegenüber dem Herrn Pfarrer durchblicken, er sei ja ganz nett, aber es wäre ihnen doch lieber, wenn ein Deutscher käme.
VOM DEUTSCHTUM GEHEILT
Zwischen Kirche und Schule riefen ihm Kinder nach: "Der kommt aus Polen, und Polen stinken", erzählt und Kwapis nachdenklich. "Ich hielt mich Jahrzehnte für einen richtigen Deutschen, habe hart für meine Ausreise gekämpfen müssen und wollte mir in der Bundesrepublik eine neue Gemeinde aufbauen. Erst die Deutschen haben mich vom Deutschtum geheilt." In drei Monaten ist Pfarrer Edmund Kwapis mit Sondergenehmigung wieder polnischer Staatsbürger.

Donnerstag, 4. Dezember 1975

Aufruhr in Polen - Genossen gegen Gierek: Preise, Warenknappheit, Freiheit - Meinungsfreiheit






















Polen kommt nicht zur Ruhe. Erosionen - Momente etwa eines Bürgerkriegs in dem zwischen Ost und West zerriebenen Land. Rasante Preissteigerungen, Warenknappheit, geplünderte Sparbücher, jäher Absturz des Lebensstandards. Mittendrin blockt eine moskauhörige Beton-Fraktion noch so zaghafter Reformpolitik des polnischen KP-Chefs Edward Gierek ( 1970-1980; *1913+2001) ab. Er scheiterte mit der Modernisierung der Wirtschaft, konnte die horrende Auslands-Verschuldung nicht annähernd tilgen. Der Arbeiter Edward Gierek wurde nach Gründung der Solidarnosc-Gewerkschaft (1980) gestürzt und nach Verhängung des Kriegsrechts durch General Wojciech Jaruzelski im Jahre 1981 - noch im selben Jahr Ministerpräsident - kurzzeitig inhaftiert.


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stern, Hamburg
4. Dezember 1975
von Reimar Oltmanns

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Der Machtkampf in der polnischen Parteispitze wurde von Flammenzeichen begleitet. Am 21. September 1975 brannte die Warschauer Wislostrada (Weichselautostraße) lichterloh. Die Asphaltstraße war mit flüssigem Napalm überschüttet . Wenig später schlugen Flammen aus den Fenstern des Warenhauses "Cedet" in der Warschauer Innenstadt. Das beliebte Einkaufszentrum brannte völlig aus. Im Königsschloss glomm das Gebälk. In Wroclaw, früher Breslau, loderten mehrere Brandherde in der größten Kirche der Stadt.

WARSCHAU WIRD BRENNEN

Zwei Wochen vor dem VII. Parteitag der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, der am 8. Dezember 1975 in Warschau beginnt, drohten die bislang unbekannten Brandstifter sogar: Wenn jetzt die Preise erhöht werden, dann werde bald die ganze Hauptstadt brennen. Preise und Warenknappheit beunruhigen viele Polen. Vor den Sparkassen stehen Schlangen. Ein Warschauer Bank-Angestellter: "Jahrelang haben uns die Leute ihr Geld gebracht. Jetzt heben sie auf einmal alles von den Konten ab." - Und kaufbesessen drängen die nervös gewordenen Menschen sich in die teuersten Textilläden der Nowy-Swiat-Straße. Sowjetische Pelzmäntel, die zwischen 12.000 und 20.000 Zloty kosten (durchschnittliches Monatseinkommen: 3.200 Zloty), werden bar bezahlt.

GRÖSSTE KRISE IM NACHKRIEGS-POLEN

Trotz der bisher erfolgreichen Wirtschaftspolitik des Parteichefs Eward Gierek - Polen verdrängte die DDR vom zweiten Platz der Industrienationen in der Ostblock-Gemeinschaft COMECON (gegründet 1949 als Gegengewicht zum Marschall-Plan des Westens), und den meisten Polen geht es heute besser denn je - steht die größte Krise in der 30jährigen Nachkriegsgeschichte Polens bevor. Um den Staatshaushalt vor dem Bankrott zu bewahren, muss Gierek im nächsten Jahr stufenweise die Preise heraufsetzen:

o Lebensmittel (Preise seit 1970 nicht erhöht) zwischen 40 und 50 Prozent;

o Textilien bis zu 40 Prozent;

o Elektrogeräte 35 Prozent;

o Baumaterial 20 bis 30 Prozent;

o Bahntarife bis zu 40 Prozent.

TV-LIVE-ÜBERTRAGUNGEN ABGEBROCHEN

Aber für solche Preissteigerungen braucht Edward Gierek, 62, die Zustimmung des Zentralkomitees, das auf dem Parteitag neu gewählt wird; und vor allem benötigt er Ruhe im Lande. Deshalb wirbt der Parteichef seit vielen Wochen auf Veranstaltungen in allen Provinzen - Motto: "Arbeiter fragen den Genossen 1. Sekretär" - um Verständnis für die wirtschaftliche Lage. Das Fernsehen, das ursprünglich einige Auftritte live übertragen sollte, durfte erst hinterher kurze Ausschnitte senden. Der Grund: Applaus gab es nur am Anfang und am Schluss, sonst schrille Proteste und Pfiffe.

ARBEITER-AUFSTÄNDE UNVERGESSEN

Die blutig niedergeschlagenen Arbeiteraufstände in Posen 1956 und in Stettin und Danzig 1970 - nach denen Edward Gierek an die Macht kam - sind im Lande unvergessen. Die zunehmende Unruhe unter den Arbeitern hat schon wieder alte Gierek-Gegner auf den Plan gerufen. Angeführt von Ministerpräsident Piotr Jaroszewicz,66 (Ministerpräsident 1970-1980, *1909+1992; wurde unter nicht geklärten Umständen ermordet), der einst als Polit-Offizier dere I. Polnischen Armee auf Seiten der Sowjets Polen befreien half, wollen die moskautreuen Falken die Wirtschaftsreformer und Technokraten um Gierek zu einer einschneidenden Kursänderung zwingen.

NACH WESTEN GEÖFFNET

Ihr Argument: Polen habe sich auf Kosten der "internationalen Solidarität" zu weit nach Westen geöffnet. Statt der versprochenen 10 Milliarden Mark als Entschädigung für KZ-Häftlinge und Rentner habe Gierek nur 2,3 Milliarden Mark von der Bundesrepublik Deutschland bekommen. Die Staatsbesuche des französischen und des amerikanischen Präsidenten in Warschau hätten im Moskauer Zentralkomitee schon die Befürchtung aufkommen lassen, ob Polen noch ein verlässlicher Bündnispartner sei. Vor allem bringe die hohe Verschuldung im kapitalistischen Ausland - 5 Milliarden Dollar - Polen in eine langfristige Abhängigkeit gegenüber dem Westen, denn das Land könne erst jetzt mit der Rückzahlung eines amerikanischen Kredits von 1938 beginnen. Und der Import arabischen Erdöls habe nicht nur die Sowjetunion verärgert, sondern vor allem die Inflation (9 bis 15 Prozent) angeheizt.

KONSPIRATIVE TREFFEN

Unterstützt wird die Moskau-Fraktion im ZK von siebzehn Regierungspräsidenten, die durch die Gebietsreform im Juni dieses Jahres an Einfluss verloren, als die bisher 17 Bezirke in 49 aufgeteilt wurden. Zu ihnen gehören zwei Provinzchefs, die damals, im Dezember 1970 , für den Panzereinsatz gegen die Arbeiter verantwortlich waren. Auch die alten Partisanen, die schon 1971 in Olsztyn (früher Allenstein) ein konspiratives Treffen gegen den Reformpolitiker Edward Gierek organisierten, wollen auf dem Parteitag die KPdSU-Fraktion unterstützen.

ÜBERLEBENS-KAMPF

Der einstige Arbeiter in nordfranzösischen Fabriken, Edward Gierek, will sich in seinem politischen Überlebenskampf auf dem Parteitag vor allem auf jüngere Kandidaten stützen. Er sorgte dafür, dass von den 218 ZK-Mitgliedern 63 nicht wieder als Kandidaten aufgestellt wurden. Von den neuen aber hören mindestens 40 auf die moskautreuen Gierek-Gegner. - Ein Vabanque-Spiel auf Messers Schneide um die Macht in Polen in diesen Jahren. Ein hoher Parteifunktionär, der natürlich nicht genannt sein will, verdeutlicht hinter vorgehaltener Hand: "Auf dem Parteitag wird sich Giereks Zukunft entscheiden. Wenn er keine breite Mehrheit im ZK bekommt, kann er die Preiserhöhungen und ideologischen Flügelkämpfe nicht durchstehen."



Donnerstag, 20. November 1975

Nazi-Vergangenheit ist Gegenwart: Graue Eminenz mit Schmissen an den Hebeln der Macht









































Das obere Bild zeigt Dr. Schmidt-Rux alias Schmidt-Römer zwischen Adolf Hitler und dem Parteisekretär Martin Bormann - den mächtigsten Mann neben Hitler

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Diese Artikel sind der lückenlose Beleg, wie ein NS-Reichsleiter nach dem Krieg seinen Namen wechselte und dann als Berater eines Zeitungskonzern Karriere machte
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Der Frankfurter Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich (*1908+1982) charakterisierte in seinem Buch "Die Unfähigkeit zu trauern", das 1963 erschien, den bundesdeutschen Verdrängungs-Zustand und die Spurenverwischung alter Nazis im Deutschland des "Neubeginns" am markantesten: "Statt einer politischen Durcharbeitung der Vergangenheit als dem geringsten Versuch der Wiedergutmachung, vollzog sich eine explosive Entwicklung der deutschen Industrie. Wertigkeit und Erfolg verdeckten bald die Wunden, die aus der Vergangenheit geblieben waren. Wo aufgebaut und ausgebaut wurde, geschah es fast buchstäblich auf den Fundamenten. . . .".

Rechtsanwalt Josef Augstein (*1909+1984) drohte massiv. Am 11. April 1975 schrieb er dem stern: "Ich habe erfahren, dass Sie sich mit Herrn Rechtsanwalt Dr. Schmidt-Rux, den ich vertrete, in einem Artikel befassen wollen. Das ist Ihr gutes Recht, soweit Sie sich dabei an die Wahrheit halten. Sollten Sie aber Unwahres veröffentlichen, werde ich für meinen Mandanten alles möglichen Schritte in die Wege leiten."Der Hannoversche Anwalt und Bruder des 'Spiegel'-Herausgebers unterstellte dem stern sogar, dass er eine kriminelle Handlung begehen könne: "Nehmen Sie bitte heute schon zur Kenntnis: Mein Mandat kann nicht erpresst werden."Der stern auch nicht.
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stern, Hamburg
30. April 1975 /
20. November 1975
von Reimar Oltmanns
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EIN NAZI BLEIBT SELTEN ALLEIN - (TEIL 1)
Der SPD-Schatzmeister Alfred Nau (*1906+1983) ließ Champagner Marke Dom Pérignon (Flasche 120 Mark) auffahren. Mit der konservativen Verlegerin Luise Madsack (*1910+2001) und ihrem Rechtsanwalt Karl Schmidt-Rux,70, feierte der Totengräber von 36 sozialdemokratischen Zeitungen den "historischen Augenblick". In letzter Minute war es den Sozialdemokraten gelungen, sich mit 23 Millionen Mark bei der notleidenden CDU-nahen "Hannoversche Allgemeine Zeitung (Auflage 180.000) einzukaufen.
GESCHÄFTE VOM "LIEBEN GOTT"
SPD-Präsidiumsmitglied Wilhelm Dröscher (*1920+1977) euphorisch: "Dass nicht Axel Springer oder der Heinrich Bauer Verlag, sondern wir das Geschäft mit Frau Madsack gemacht haben, kommt geradezu vom lieben Gott." - Was für Dröscher der liebe Gott, ist für Großverlegerin Luise Madsack ihr Intimus Karl Schmidt-Rux, der seit über 20 Jahren die Zeitungsdame berät. Allein im Jahre 1974 bei vier großen Transaktionen:
0 Als die "Hannoversche Allgemeine Zeitung" im vergangenen Jahr durch den 115-Millionen-Neubau eines Druck- und Verlagsgebäudes in Konkursgefahr geriet, verhandelte Karl Schmidt-Rux mit der Westdeutschen Landesbank sowie den Verlegern Springer, Holtzbrinck und Bauer über Finanzspritzen.
0 Als die "Stuttgarter Zeitung" (Auflage: 185.000) und die "Stuttgarter Nachrichten" (Auflage: 155.000) einen Kooperationsvertrag schlossen, vertrag Anwalt Karl Schmidt-Rux die Interessen der Pressezarin. Denn Luise Madsack ist mit 29.06 Prozent an der "Stuttgarter Zeitung" beteiligt.
0 Als in München die "Süddeutsche Zeitung" (Auflage: 314.300) und der "Münchner Merkur" (Auflage: 192.500) eine Vertriebsgemeinschaft eingingen, rückte Schmidt-Rux für die Anteilseignerin Luise Madsack in den Aufsichtsrat des "Münchner Merkur" ein.
0 Als das "Göttinger Tageblatt" (Auflage: 53.000) kurz vor dem Zusammenbruch stand, kaufte Schmidt-Rux die Provinzzeitung für seine Verlegerin.
0 Und als Alfred Nau (*1906+1983) die SPD-eigene "Neue Hannoversche Presse" als selbständiges Blatt eingehen ließ, verschaffte Schmidt-Rux den Sozialdemokraten 30 Prozent Anteile am Madsack-Konzern und damit maßgeblichen Einfluss in der viertgrößten Regionalzeitung der Bundesrepublik.
HOCHVERRÄTER MIT NSDAP-KNECHT
Seitdem sitzen für die SPD Dietrich Oppenberg (*1907+2000), Herausgeber der "Neuen Ruhr-Zeitung" in Essen (Auflage: 281.000), und für Frau Luise Madsack ihr Vertrauter Karl Schmidt-Rux (Branchen-Spitzname: "Die graue Eminenz mit Schmissen") an einem Verhandlungstisch zusammen. Vor rund 30 Jahren saßen sie in völlig getrennten Lagern: Sozialdemokrat Dietrich Oppenberg als Hochverräter und Staatsfeind der Nazis im Zuchthaus - und Karl Schmidt-Rux als Reichsamtsleiter in der Partei-Kanzler der allmächtigen NSDAP. Jurist Schmidt-R., der sich damals allerdings nach dem Mädchennamen seiner Frau Schmidt-Römer nannte, war bei Parteisekretär Martin Bormann (*1900+1945) "Berater für staatsrechtliche Fragen."
VERSIERTER MANN
Bormanns Adjutant Heinrich Heim erinnert sich: "Schmidt-Römer war ein wendiger und versierter Mann, der das Herz auf dem rechten Fleck hatte. Sonst wäre er nie Berater des Reichsleiters geworden." Bormanns Staatssekretär Gerhard Klopfer erklärt: "Zuletzt war Schmidt-Römer genauso wie ich fast täglich bei Bormann."
PERSONALIE
Als der 'Spiegel' kürzlich in einer Personalie zahm auf die braune Vergangenheit des einflussreichen Pressejuristen hinwies, dementierte dessen Anwalt Josef Augstein in einem Leserbrief: "Herr Dr. Schmidt-Rux blieb bis zum Kriegsende Oberregierungsrat der Finanzverwaltung und bekleidete nie ein Amt in der Parteihierachie. Er war einfacher PG." Schmidt-R. war tatsächlich Oberregierungsrat in der Finanzverwaltung seiner Heimatstadt Danzig, aber alles andere als ein einfacher PD. Anwalt Augstein verschweigt, was die erhaltenen Partei-Akten über die NS-Karriere seines Mandanten aussahen.
PARTEI-AKTEN
Karl Schmidt-R., Parteumitglied seit dem 1. April 1933 (Mitglieds-Nummer: 1821616) war bereits in Danzig Sachbearbeiter für Finanzangelegenheiten in der Gauamtsleitung der NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt und seit 21.2. 1942 als Reichsamtsleiter in die Parteikanzlei abkommandiert. In der braunen Parteiarmee, der SA, brachte er es bis zum Obersturmführer "zur besonderen Verfügung des OSAF" (Obersten SA-Führers).
BORMANNS NOTIZBUCH
Wie eng Reichsamtsleiter Schmidt-R. mit dem mächtigsten Mann im Hitler-Reich zusammenarbeitetem beweist das persönliche Notizbuch des Reichsleiters Martin Bormann, in dem allen auf den wenigen erhaltenen Seiten vom 18. Februar bis 12. April 1945 fünfmal verzeichnet ist: "Besprechung mit Schmidt-Römer ... ... Dr. Schmidt-Römer wegen Nachrichtenwesen ... ... Rücksprache mit Schmidt-R. ...".
TAUCHSTATION
Nach dem Zusammenbruch des NS-Reiches und dem Tod seines Chefs ging der "Oberregierungsrat" erst mal auf Tauchstation. Als Handlanger mit dem unauffälligen Namen Karl Schmidt arbeitete er in einem niedersächsischen Steinbruch. Im Jahre 1950 legte er such mit behördlicher Genehmigung (Namensänderungsurkunde des Regierungspräsidenten Hannover vom 29. 4. 1950) einen neuen Namen zu. Schmidt hatte sich inzwischen scheiden lassen, nannte sich jetzt nach dem Geburtsnamen seiner Großmutter Schmidt-Rux und begann eine neue Karriere als Helfer in Steuersachen.
CHEF-UNTERHÄNDLER
Einer seiner Kunden war die "Wunstorfer Zeitung", ein hannoversches Provinzblättchen. Dort lernte ihn die junge Verlegerin Luise Madsack kennen. Nach dem Tod ihres Mannes (1953) machte sie ihren Freund zum Chefjuristen und Unterhändler. So auch für die Verhandlungen mit den Sozialdemokraten, die erst durch die stern-Recherchen von der braunen Vergangenheit ihres Gesprächspartners erfahren haben wollen. SPD-Schatzmeister Wilhelm Dröscher: "Als ich dem Alfred Nau das alles erzählt habe, ist der fast um Stuhl gefallen." - Und nicht nur er.
EIN NAZIS BLEIBT SELTEN ALLEIN - (TEIL 2)
Karl Schmidt-Römer alias Schmidt-Rux und die Folgen. Sechs Monate danach. Wie niedersächsische Rechtsanwälte einem NS-Reichsamtsleiter bei der Bewältigung seiner Vergangenheit helfen
Ein Reichsamtsleiter aus Hitlers Parteikanzlei ist würdig, im demokratischen Rechtsstaat das Recht zu wahren. Das befand anno 1975 , dreißig Jahre nach Hitler, die Rechtsanwaltskammer im niedersächsischen Celle. Und wenn ein Anwaltskollege gar dagegen aufmuckt, droht ihm gleich ein Ehrengerichtsverfahren. So geschah es dem Kammermitglied Werner Holtfort (*1920+1992).
NAZI-POSITIONEN VERSCHWIEGEN
Ankläger ist Rechtsanwalt Dr. Karl Schmidt-Rux,70, der es in Hitlers Parteiarmee, der SA, auf "Persönliche Verfügung des OSAF" (Obersten SA-Führers) bis zum Obersturmführer gebracht hatte; der von 1940 bis zum Zusammenbruch 1945 in der obersten Parteiführung unter Martin Bormann gearbeitet hatte, dem mächtigsten Mann im Hitler-Reich, der nach dem Krieg seinen Namen Schmidt-Römer in Schmidt-Rux verwandelt und beim Antrag auf Zulassung als Rechtsanwalt diese Position im Nazi-Staat verschwiegen hatte.
VOR GERICHTEN VERLOREN
Im Frühjahr enthüllte der stern die braune Vergangenheit des einflussreichen hannoverschen Pressejuristen Karl Schmidt-Rux alias Schmidt-Römer. Nachdem Landgericht und Oberlandesgericht in Hamburg (Aktenzeichen: 3 W 74/75-74 0 230/75) dessen Anträge gegen den stern als "irreführende und unrichtige Tatsachenbehautungen abgelehnt hatten, wollte das Anwaltskammermitglied Holtfort durch die Standesorganisation klären lassen, ob sein Kollege Schmidt-Rux sich nicht unter "falschen Voraussetzungen" die Anwaltszulassung erschlichen habe.
ZULASSUNG ALS ANWALT ENTZIEHEN
Paragraph 14 der Bundesrechtsanwaltsordnung sieht vor, dass die Zulassung zurückgenommen werden muss, wenn zur Zeit ihrer Erteilung "nicht bekannt war, dass Umstände vorlagen, aus denen sie hätte versagt werden müssen." So wurde noch 1950 einem Juristen die Zulassung zum Rechtsanwalt entzogen Band II. der Ehrengerichtsentscheidungen, S. 67), weil er seinen Rang als SS-Untersturmführer verschwiegen hatte. Begründung: Im öffentlichen Leben sollten nicht wieder "diejenigen bestimmend werden, die zum Nachteil des deutschen Volkes der unheilvollen Innen- und Außenpolitik des Nationalsozialismus das Gepräge gegeben ... haben".
DEN SPIESS UMGEDREHT
Doch vor der ehrwürdigen Anwaltskammer am für Hannover zuständigen Oberlandesgericht Celle geriet nicht der Ex-Nazi Karl Schmitt-Rux in Schwierigkeiten, sondern dessen Kollege Werner Holtfort, 55, der in Hannover mehrfach erfolgreich junge Lehrer in Berufsverfahren vertreten hatte. Holtfort resümiert: "Von der Vergangenheit des Kollegen Schmidt-Rux wollte niemand etwas wissen. Statt dessen versuchten sie gleich eine Affäre Holtfort daraus zu machen." So wurde Holtfort vom Lüneburger Anwalt Hansdieter Steindel attackiert: "Das ist ein ungeheuerlicher Vorgang. Sie haben keine Achtung vor dem anderen." Anwalt Graf von Hardenberg: "Das ist doch Profilierungssuchtg." Und von seinem Kollegen Herbert Behrens. "Sie wollen doch nur Trouble hervorrufen."
EHREN-GERICHTSVERFAHREN
Immerhin gab es bei der Endabstimmung, ob gegen Schmidt-Rux ein Ehrengerichtsverfahren eingeleitet werden soll, mit acht zu acht Stimmen ein Patt. Das half Werner Holtfort wenig, weil bei Stimmengleichheit das Votum des Vorsitzenden entscheidet. Und der, Anwalt Herbert Behrens, stand auf der Seite von Schmidt-Rux. Zu Hitlers Zeiten war der Advokat Behrens NSDAP-Ortsgruppenleiter in Celle. - Unterdessen hatte sich der Angeklagte Schmidt-Rux schon selbst zum Kläger gemacht und seinerseits gegen Holtfort wegen dessen Fragen nach der politischen Vergangenheit ein Ehrengerichtsverfahren beantragt. Das Verfahren läuft. Mögliche Folgen: Verweis, hohe Geldstrafe oder Berufsverbot.
EINE HAND WÄSCHT DIE ANDERE
Der Sozialdemokrat Werner Holtfort, Vorstandsmitglied der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristen im Bezirk Hannover, findet keine Unterstützung bei seinen Genossen. Justizminister Hans Schäfer (*1913+1989), verantwortlich für die Rechtsaufsicht, kneift: "Ich will mich dazu nicht äußern." Die Zurückhaltung der niedersächsischen Sozialdemokraten ist verständlich. Sie können keinen Streit mit dem einflussreichen Justitiar des Hannoverschen Großverlages Madsack & Co. gebrauchen, in dem die "Hannoversche Allgemeine Zeitung" (Auflage: 180.000 Auflage erscheint. Denn erst im vorigen Jahr (1974) verschaffte Schmidt-Rux ihnen eine 23-Millionen-Beteiligung an dem Bürgerblatt - so wie er anderen Klienten bei der SPD-Landesregierung die Spielbank-Lizenz in Bad Pyrmont, Hannover und Hittfeld besorgte. - Eine Hand wäscht eben die andere. Da mag man sich bei derlei Millionengeschäften durch penetrante Winkeladvokaten aus der "Berufsverbots-Ecke" nicht stören lassen.
SCHWEIGEN - NUR IM AUSLAND BERICHTE
Die "Hannoversche Allgemeine", mit ihren Kopfblättern die fünftgrößte Tageszeitung der Bundesrepublik schweigt über Vergangenheit und Gegenwart des Karl-Schmidt-Rux alias Römer. Darüber ausführlich zu berichten überläßt sie ausländischen Blättern wie der Pariser "Le Monde" und der Londoner "Daily Mail". Das britische Blatt: "Der Skandal ist charakeristisch für einen Berufsstand, der in Westdeutschland noch immer mit alten Nazis durchsetzt ist." - Deutsche Verhältnisse.

Aus deutschen Landen der Armee - Schieß oder du kommst in den Knast






























stern, Hamburg
20. November 1975
von Reimar Oltmanns

Bis ins Jahr 1976 musste in der Bundes-republik jeder Kriegsdienstverweigerer entwürdigende Gewissensprüfungen in Kreis-wehr-Ersatzämtern der Bundeswehr durch-laufen. Damals kamen junge Männer aus der Kaserne in den Knast, weil sie es ablehnten, eine Waffe in die Hand zu nehmen - sich zum Töten ausbilden zu lassen. Andere Jugend-liche zerbrachen an erbarmungslosen Ver-hörmethoden - wie der damals erst 19jährige Dieter Feser. "Die über sein Gewissen zu Gericht saßen, haben ihn auf dem Gewissen." Alltag in Deutschland. Randnotizen. Zeit-geschichte

Als der 19jährige Selbstmörder Dieter Feser zu Grabe getragen wurde, drängten sich Einheimische und Zuge-reiste auf den Dorffriedhof von Oerlenbach bei Schwein-furt. Die einen waren im Trauerzug gemessenen Schrit-tes durch die 2.000-Seelen-Gemeinde gekommen: der Bäcker, der Gastwirt - die alten Leute. Allen voran der katholische Priester Rützel.

Die anderen kamen in gemieteten Kleinbussen, mit Mopeds und klapprigen Autos aus allen Teilen der Bundesrepublik: Studenten, Schüler, Lehrlinge, lang-haarig, in Jeans, Zigaretten rauchend. An ihrer Spitze der evangelische Pfarrer Ludwig Wild aus Schweinfurt.

Für die Oerlenbacher war Dieter Fesers Tod ein Schock. Ein Junge aus ihrem Dorf, der jahrelang Messdiener und als Kaufmannsgehilfe im Warenlager stets hilfs-bereit gewesen war - ausgerechnet der ein Kriegsdienst-verweigerer und Selbstmörder. Das hat es im bayer-ischen Oerlenbach seit Menschengedenken nicht gegeben.

HERR ÜBER GEWISSEN UND GEWEHR

"Trauer und Schande ist über uns", klagte der Seel-sorger Rützel und grübelte sechs Tage mit seinen Kirchenvorstehern, ob er Dieter Feser überhaupt beerdigen dürfe. Erst des Bischofs Segen aus Würzburg beendete das Dorfgemurmel. Auf dem Friedhof zwischen Bundesgrenzschutz-Kaserne und Autowerk-statt standen Einheimische und Zugereiste dicht an dicht. Pfarrer Rützel predigte für die einen, Pfarrer Wild für die anderen. Rützel mahnt: "Sehet, soweit kann es kommen, wenn man Gott nicht vertraut." Wild klagte an: "Dieser Feser ist das Opfer eines unmenschlichen Verfahrens; er ist innerlich zerbrochen worden. Die über sein Gewissen zu Gericht saßen, haben ihn selbst auf dem Gewissen."

Der Herr über Gewissen und Gewehr in der Region Unterfranken heißt Walter Bendrien, Regierungsrat und Vorsitzender des Prüfungsausschusses des Kreis-Wehrersatzamtes in Würzburg, einer der über 100 Prüfungsausschüsse in der Bundesrepublik.

VATERLANDSLOSE GESELLEN

Bendrien behandelt Jugendliche, die den Dienst im Krankenhaus oder Altenheim der Bundeswehr vorziehen so, als seien sie Drückberger, Feiglinge oder vaterlands-lose Gesellen. Nur Zeugen Jehovas haben bei ihm eine echte Chance, die Pazifisten die Inquisition von Moral und Glaubwürdigkeit zu übersehen. Walter Ben-drien: "Und wenn bei mir Tag und Nacht verhandelt wird. Ich gehe der Sache auf den Grund. Schließlich sind wir hier nicht in einem Mädchen-Pensionat."

TONART EINES FELDWEBELS

Mit der Tonart eines Feldwebels, den Anklagen eines Staatsanwalts, mit den Vernehmungstricks eines Kriminalkommissars knöpft sich Jurist Bendrien die Jugendlichen vor, die nichts anderes wollen, als das in Artikel 4, Absatz 3 Grundgesetz verbriefte Grund-recht: "Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegs-dienst mit der Waffen gezwungen werden." - An das Grundrecht glaubte auch der Arbeitersohn Dieter Feser. Doch seine Gewissensgründe interessieren den Vor-sitzenden Bendrien nicht. Fesers Verhandlung begann am 27. Februar 1975 morgens um 11 Uhr. Gegen 13 Uhr war er durchgefallen, Um 14 Uhr saß "der Versager" zu Hause an Mutters Küchentisch und schrieb aus dem Gedächtnis nieder, wie ihn Bendrien traktiert hatte. Hier die wichtigsten Auszüge aus dem Verhör:

DAS VERHÖR

Frage: Warum sind Sie in der Schule eigentlich sitzen geblieben?
Antwort: Keine
Frage: Können Sie denn dazu nichts sagen? Waren Sie denn immer ein schlechter Schüler?
Antwort: Keine
Frage: Hören Sie, Herr Feser, in Ihrem Beruf müssen Sie doch auch Intelligenz mitbringen und reden können.
Antwort: Ja, das stimmt. - Ich habe einmal dieselbe Klasse wiederholt. Und das mit 13/14 Jahren. Aber das ist doch schon lange her. Was hat das mit heute zu tun?
(... ...)

Frage: Aus Ihren Unterlagen geht davor, dass Sie der Kirche gegenüber negativ eingestellt sind. Hängt Ihre, sagen wir mal, kritische Haltung zur Kirche nicht damit zusammen, dass Sie in Wirklichkeit unsere Staatsform ablehnen?
Antwort: Nein, ich wollte damit ja nur sagen, dass ... ...
Frage: ... ... Herr Feser , ist Ihnen denn nicht bekannt, dass zum Beispiel Willy Brandt gesagt hat: "Wer für den Frieden ist, muss auch Verteidigung haben"?
Antwort: Ja, aber ich wollte doch nur sagen, dass ich in Oerlenbach als Messdiener gesehen habe, wie die Geistlichen sich in der Sakristei benahmen, und dann, wie sie sich im Gottesdienst verhielten. Da zog ich so meine immer meine Vergleiche. Es waren meine ersten Denkanstöße über den Glauben. Uns hat man doch immer gesagt, wir sollen den Nächsten lieben. Dann frage ich meine Eltern über Glaubensfragen aus. Sie antworteten, wie ich so etwas überhaupt fragen könne in einer Dorfgemeinschaft, wo viele am Sonntag in die Kirche gehen, frägt man nicht nach Dingen, die die festen Grundsätze überschreiten.
(... ...)

Frage: Sie redeten von einer Schlägerei, die Sie in einem Tanzlokal aus nächster Nähe miterlebt haben. Ist Ihnen denn nicht spätestens dort klar geworden, dass man sich verteidigen muss?
Antwort: Ja, ich bin es doch gewesen, der Hilfe holte. Wir legten dann den zu-sammengeschlagenen auf eine Decke und riefen die Polizei und Krankenwagen. Selbst hier noch schimpften die Leute. Wir sollten ihn einfach liegen lassen. Und, wieso wir einfach dazu kämen, die Polizei anzurufen. Ich wollte dann mit den Leuten reden, wie man nur so brutal sein kann. Aber da drohte sie mir auch Prügel an.
(... ...)
Frage: Und wenn Sie nun tatsächlich angegriffen worden wären? Hätten Sie sich dann nicht gewehrt? Es wäre doch Notwehr gewesen.
Antwort: Ich habe doch niemanden etwas getan ... Für mich sind Schlägereien undenkbar. Ich könnte nie auf Menschen schießen oder auch nur auf einen Papp-kameraden zielen. Das kann ich nicht ... Das Gewissen sagt, das ist nicht gut, es ist Unrecht.
(... ...)
Frage: Die Mehrheit der Bevölkerung hat sich eindeutig für die Bundeswehr ausgesprochen. Das haben doch die Bundestagswahlen klar gezeigt.
Antwort: Ich verstehe nicht, was Sie damit meinen.
Frage: Wir wollen Ihnen damit nur sagen, dass Sie sich gegen die Mehrheit der Bevölkerung in der Bundesrepublik stellen.
Antwort: Ja, aber, das ist doch meine persönliche Entscheidung. Mein Vater war im Krieg Unteroffizier und in russischer Kriegsgefangenschaft. Er kam verwundet zurück. Als ich ihn mal fragte, Vati, warum bist du eigentlich in den Krieg gezogen und hast fremde Menschen getötet? Da hat er mir gesagt, das haben doch alle gemacht. Vor einiger Zeit habe ich bei uns in Oerlenbach mit Leuten vom Bundesgrenzschutz ge-sprochen, warum sie da eigentlich hingegangen sind. Die sagten mir, sie wollten ihren Dienst abreißen, Mäuse kassieren und 'nen feinen Lenz machen. Übers Schießen haben die überhaupt nicht nachgedacht. Ich kann das jedenfalls nicht (... ...).

KEINE ECHTEN GEWISSENSGRÜNDE

Beschluss der Prüfungskommission: "Der Ausschuss vertritt die Auffassung, dass beim Antragssteller keine echten Gewissensgründe vorliegen. Der Wehrpflichtige Feser ist deshalb nicht berechtigt, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern." So der Schriftsatz. Mündlich begründete Regierungsrat Walter Bendrien die Ent-scheidung damit, dass Fesers Abneigung, den Wehr-dienst abzuleisten, in seinem anti-kapitalistischen Denken zu sehen sei.

Als letzten Absatz schrieb Dieter Feser am Küchentisch in Oerlenbach in das alte Schulheft: "Ich habe Angst davor, dass auch in mir Aggressionen geweckt werden können. Ich weiß, dass sie ausgenutzt werden können. Ich bin gegen Gewalt, es gibt nur Gott, keine Gewalt, nur Angst."

ERHÄNGT MIT EINEM ABSCHLEPPSEIL

Kurz nach 16 Uhr benachrichtigte ein Bauer das Mord-dezernat in Schweinfurt. - Er hatte den 19jährigen am Wandrand von Oerlenbach tot aufgefunden, erhängt mit einem Abschleppseil. Der Tod Dieter Fesers alar-mierte Pädagogen, Pastoren, Rechtsanwälte und Politiker, die Bendriens Rücktritt forderten. Der Würz-burger Professor Franz Rauhut (*1898+1988), seit fünfzehn Jahren gerichtlich ermächtigter Berater der Kriegsdienstverweigerer: "Ich kenne den Vorsitzenden Bendrien nur zu gut. Der hat den jungen Mann fertig-gemacht. Daran besteht kein Zweifel." Die Rechtsan-wältin Roswitha Wolff : "Solche Behandlung ist grund-gesetzwidrig." Und der frühere SPD-Bundestags-abgeordnete Uwe Lambinus : "Bendrien muss zurück-treten, er hat in unverantwortlicher Weise sein Amt missbraucht."

INQUISITOR BLEIBT AUF SEINEM POSTEN

Doch Bendrien blieb einstweilen in Amt und Würden, obwohl dem Verteidigungs-ministerium bereits acht Beschwerden wegen dessen umstrittener Verhandlungs-führung vorlagen. - Alltag in Deutschland. Die Bonner Ministerialen von der Hardthöhe standen vor der pein-lichen Situation, kein einziges Verhör rekonstruieren zu können. Sitzungsprotokolle existieren nicht.

KEINE PROTOKOLLE - DIENSTGEHEIMNIS

Dessen ungeachtet machte Bendrien weiter so wie bisher. "Was in meinen Sitzungen passiert, geht niemanden etwas an. Das ist ein Dienstgeheimnis." Genauso wie die Selbstmordquoten der nichtaner-kannten Kriegsdienstverweigerer, die vom Verteidi-gungsministerium unter Verschluss gehalten werden. Sie liegen nach Angaben des Beauftragten für den Zivildienst, Hans Iven (*1928+1997; Bundesbeauftrager 1970-1983), "erheblich über dem Durchschnitt der Gleichaltrigen". An der Ge-wissensprüfung Gescheiterte sträuben sich in der Kaserne, die Waffe in die Hand zu nehmen. Viele kommen in den Arrestbunker, etliche ergreifen die Dienstpistole nur, um sich zu erschießen. Andere hauen ab. Im Petitions- und Verteidigungsaus-schuss des Parlaments stapeln sich die Beschwerde-briefe. amnesty international kümmert sich um Kriegsdienstverweigerer, die im Knast gelandet sind.

25-ZELLEN-KNAST FÜR VERWEIGERER

So in der baden-württembergischen Jugendstrafanstalt Oberndorf zwischen Freudenstadt und Rottweil, die Voll-zugsdirektor Rasenack als "zukunftsweisendes Modell" lobt; aber oft ist in dem 25-Zellen-Knast die Hölle los. In einer Nacht, es war die "Oktoberrevolution in Oberndorf" (Rasenack), zertrümmerten seine "Knak-kis" alles, was nicht niet- und nagelfest war. Vier Monate glich die Jugendvollzugsanstalt einer Baustelle - high noon im Schwarzwald und kaum jemand nahm Notiz davon.

AGGRESSIONS-AUSBRÜCHE

Für Rasenack sind solche Aggressionsausbrüche ganz normal: "Wir haben hier ja alles. Vom Mord über Raub, schweren Diebstahl, Vergewaltigungen, Rauschgift-Dealern bis hin zu den Kriegsdienstverweigerern." Einer von den Verweigerern ist Peter Stärk in der Zelle 7, seit über fünf Monaten in Haft. 20 Jahre alt, Arbeiter, katholisch. Vorstrafen: keine

KEIN SPRECHKONTAKT - ABER EINE BIBEL

Kaum eingezogen, verweigerte er im Ausbildungs-bataillon 3/2/95 in Immendingen dem Gehorsam. Stärk wollte nicht schießen, nicht mit einer "Gasmaske aufgesetzt" singen, nicht durch Pfützen robben. - Im Arrestbunker fand er sich wieder. Vier kahle weiß-getünchte Wände, ein Guckloch, keine Toilette, kein Wasser, ohne Schnür- senkel, keine Zigaretten, kein Sprechkontakt. Aber eine Bibel.

Zermürbt kehrt Peter Stärk zur Truppe zurück. Jetzt geht er in den Schießstand und reißt auch die Nacht-märsche runter. Doch wenige Tage später ist der Wehr-pflichtige spurlos verschwunden. Tagelang versteckt er sich in den nahegelegenen Wäldern, Erst der Hunger treibt ihn den Feldjägern in die Arme. Kompaniechef Thoma schiebt ihn ab in den Knast nach Oberndorf. Auf dem Hofgang trifft er auf Claus Grieshaber, der sechs Monate Bau hinter sich hat, und die Kameraden Bernd Lizareck und Uwe Mösinger. Beide inhaftiert wegen Befehlsverweigerung und Fahnenflucht.

HOHN UND VERACHTUNG

Im "modernen Vollzug" von Oberndorf begegnen Stärk nur Hohn und Verachtung. Der Grund: Auch in der Haft bekommt er weiter seinen Wehrsold. Das ärgert Gefäng-nis-Boss Rasenack: "Die hauen von der Truppe ab, hören hier den ganzen Tag Musik und kassieren dazu noch Mäuse." Manchmal lässt Jurist Rasenack seine "Knackis", wie er sie nennt, aus der Zelle raus-treten. Geht hinein und reißt die Pornos von der Wand. Automatenknacker Sepp und der drahtige Egon, er hat seine Oma umgebracht, weil sie ihm nicht den Hunder-ter "rüberschieben wollte", haben einen "todsicheren Riecher" dafür, "dass der Chef mit Kriegsdienstver-weigerern nichts im Sinn hat". Sepp: "Die sind doch bescheuert; beim Bund lernen sie doch wenigstens ordentlich schießen." Egon: " Wie kann man nur so dumm sein und wegen solcher Kleinigkeiten einsitzen. Wenn ich in den Bau gehe, muss es sich schon lohnen."

IM KNAST ISOLIERT

Die Kriegsdienstverweigerer sind von der Anstaltsleitung und den anderen Häftlingen isoliert. Wenn "Resozia-lisierungs"-Veranstaltungen auf dem Programm stehen (Vortrag: "Überlebenschance in der Wüste"), sind sie nicht dabei. Höchstens dann, wenn es Krach gibt, wenn mit heißer Brühe um sich geworfen wird und Schläger-eien provoziert werden. Peter Stärk stellt aus der Zelle den Antrag auf Kriegsdienstverweigerung. Als die Prüfungskommission per Bundeswehr-Bus in Oberndorf vorfährt, um Stärks Gewissen auszu-leuchten, ist der Zwanzigjährige schon rechtskräftig wegen Befehls-verweigerung und Fahnenflucht zu sechs Monaten Haft mit Bewährung verurteilt.

ZEUGE DES VERHÖRS

Der katholische Seelsorger Egon Spiegel war Zeuge des Verhörs:

Stärk: Was man beim Militär lernt, verstößt gegen alles, was ich gelernt und geliebt habe ... Lieber würde ich sterben, als auf einen anderen Menschen zu schießen .. Eher verreck' ich hier im Knast, als noch einmal zur Bundeswehr zu gehen.

Vorsitender Gauger: Herr Stärk, wenn Sie aus religiösen Gründen verweigern wollen, dann kennen Sie doch sicherlich die Zehn Gebotes. Sagen Sie sie doch einmal auf.

Stärk: Das erste Gebot heißt: Du sollst nicht töten. Das zweite heißt: Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Menschen will ich helfen ...

Gauger: Falsch, Herr Stärk, "Du sollst nicht töten", ist das sechste Gebot. So können wir Sie nicht anerkennen.

Seelsorger Spiegel: Herr Vorsitzender, Sie kennen die Zehn Gebote ja selbst nicht. Es ist das fünfte Gebot, was Sie meinen ...

WO PSYCHIATER GEBRAUCHT WERDEN

Gauger: Wer will denn hier verweigern. Wir doch nicht. Stärk rasselte durch die Gewissensprüfung, wurde aus der Haft entlassen und zurück zur Truppe geschickt. Er verweigerte erneut. Nach einem Tag hatten ihn die Oberndorfer Knackis wieder. Jetzt muss er mit einer Haftstrafe von über einem Jahr rechnen. Diesmal ohne Bewährung. Peter Stärk resigniert: "Mir kann jetzt nur noch ein Psychiater helfen. Hoffentlich werde ich bald zur Untersuchung geschickt."

HILFE AUF STERBESTATIONEN

Dann ist er Patient. Dabei hätte Peter Stärk in München-Haar, der zweitgrößten psychiatrischen Anstalt der Bundesrepublik mit 2.900 Patienten, "gern als Pfleger gearbeitet". In dem Krankenhaus sind 30 Zivildienst-leistende eingesetzt. Im Haus 3, der Sterbestation, sind es der Diplomkaufmann Willy Kistler, 26, der Schreiner-geselle Hermann Lux, 21.

Anfangs hatten Hermann und Willy eine "wahnsinnige Abneigung", die alten Leute anzufassen. Hermann Lux: "Als ich das erste Mal hier hinschaute, dachte ich, das packst du nie."

Morgens um sieben Uhr beginnt der Dienst; Frühstück zubereiten, die Patienten waschen, umbetten oder an-ziehen. Bettenmachen. Spucknäpfe und Nachttöpfe reinigen. Medikamentenausgabe. Räume sauber-machen, Mittagsessen. Am Abend das gleiche.

TÄGLICHE ZWISCHENFÄLLE

Dazu die täglichen Zwischenfälle: Einer der Alten bricht plötzlich zusammen, ein anderer stirbt. Im Bett 5 macht ein Opa ins Bett. Im Bett 8 weint ein 78jähriger vor sich hin, weil keiner seine Lebensgeschichte mehr hören will.

Für Willy und Hermann Tag für Tag dasselbe. Sech-zehn Monate lang, für 450 Mark im Monat. Noch einmal vor die Entscheidung gestellt, Bundeswehr oder Pflege psychisch kranker Greise, würden Willy Kister und Hermann Lux jedoch keine Sekunde zögern. "Wir würden's noch mal machen."

Chefarzt Christof Schulz ist mit den Zivildienst-leistenden "außerordentlich zufrieden". Wenn es nach dem CSU-Mitglied ginge, könnten noch weitere 100 Kriegsdienstverweigerer in der Anstalt arbeiten: "Für solche schweren Fälle ist doch heute sonst kaum jemand zu bekommen." Der CSU-Bezirkstagsabgeordnete Günther Schuppler fordert deshalb: "Das Prüfungs-verfahren sollte man abschaffen."

"DU WARST DOCH AUCH IN RUSSLAND"

Doch in Bonn pfeift die CDU/CSU auf die Ratschläge ihrer Lokalpolitiker. Wenn jetzt endlich die sozial-liberale Koalition die entwürdigende Gewissens-Inquisition abschaffen oder auch nur auf Zeit aussetzen sollte, will die Christlich Soziale Union das Bundes-verfassungsgericht dagegen mobilisieren.

Der Bundesbeauftragte für den Zivildienst hält die Prüfungskommission ohnehin für total überfordert. Hans Iven: "Die Parteien schicken doch meistens nur solche Leute in diese Gremien, die in der Kommunal-politik nichts geworden sind, als Trostpflaster. In den Parteiversammlungen heißt es immer: Mensch, mach du das doch mal, du warst im Krieg doch auch in Russ-land."

Diese Leute haben dafür gesorgt, dass die Aner-kennungsquote der Kriegsdienstverweigerer (1974: 35.000) von früher 80 auf 66 Prozent gesunken ist. Dabei sind von den 20.000 Zivildienstplätzen in Krankenhäusern und Altenheimen 8.000 unbesetzt.

IGNORANZ AUF ALLEN EBENEN

Trotzdem sträubt sich die CDU/CSU-Opposition gegen den Plan der SPD/FDP-Regierungskoalition, die Zivildienstplätze um 16.000 auf insgesamt 40.000 zu erhöhen, damit sich die Wehrpflichtigen künftig schon bei der Musterung ent-scheiden können, ob sie mit der Waffe oder in der Sozialpflege dienen wollen. CDU-Politiker Konrad Kraske (Bundestagsabgeordneter 1965-1980): "Der zivile Ersatzdienst in Ehren, aber ein potenzieller Angreifer wird sich nicht abschrecken lassen, wenn unser soziale Engagement groß, unsere Verteidigungsbereitschaft aber gleich null ist."

ANSTURM WEHRWILLIGER JUGENDLICHER

Dabei ist das Gegenteil der Fall: Der Verteidigungs-minister kann sich schon heute vor dem Ansturm wehrwilliger Jugendlicher kaum retten. Die Zahl der verfügbaren Wehrpflichtigen steigt bald auf 475.000, während die Armee höchstens 250.000 Jugendliche einziehen kann. Paradoxien dieser Zeit. Georg Leber (Minister der Verteidigung 1972-1978): "Bis in die Mitte der achtziger Jahre rollen die geburtenstarken Jahr-gänge auf uns zu. Das geht weit über das hinaus, was die Bundeswehr verkraften kann."










Donnerstag, 18. September 1975

Sittengemälde: Professoren bitten zur Kasse - was sich nebenbei noch alles so verdienen lässt



















Aus deutschen Landen der Zeitgeschichte - die öffentlichen Haushalte bluten aus, verschulden sich Jahr für Jahr. Nur Institutsdirektoren und Klinikchefs in der Bundesrepublik verdienen mal so ganz nebenbei Unsummen dazu - und das mit Hilfe ihrer Mitarbeiter und mit Hilfe des Staates
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stern, Hamburg
20. September 1975
von Reimar Oltmanns
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Die Sparkommissare von Bund und Ländern kratzen Geld in den letzten Ecken zusammen, damit die Kasse stimmt. Aber eine Ecke lassen sie dabei aus: die Direktoren der Universitätsinstitute. Sie beziehen als Beamte mit Pensionsanspruch Monatsgehälter bis zu 7.400 Mark und scheffeln gleichzeitig mit Hilfe des Staates oft ein Vielfaches davon als "Nebeneinkünfte".
GELDSEGEN AUF STAATSKOSTEN
Beispiel eins: Professor Friedhelm Wilhelm Brauss , Chef des Heidelberger Hygiene-Instituts, kassierte 1974 mit privaten Rechnungen 581.000 Mark. Die offiziellen Einnahmen des Instituts hingegen beliefen sich im ganzen Jahr nur auf 663.000 Mark.
Beispiel zwei: Professor Richard Haas, Direktor des Hygiene-Instituts an der Freiburger Universität, das letzte Jahr (1973) 1.988.000 Mark einnahm, konnte auf seinem Konto Privatvermögen 645.000 Mark als "Nebeneinkünfte" verbuchen.
Beispiel drei: Professor Adalbert Bohle, Direktor des Pathologischen Instituts der Tübinger Universität, liquidierte 1974 privat 804.000 Mark, fast das Fünffache der Institutseinkünfte (168.000 Mark).
MILLIONÄRE AN DEN UNIS
Bauss, Haas und Bohle sind - so der baden-württembergische SPD-Landtagsabgeordnete Kurt Bantle, der im Stuttgarter Untersuchungsausschuss den "Geldsegen auf Staatskosten" aufdeckte - keine Einzelfälle. Bantle konstatiert: "Keine Frage, ob Bildungsnotstand, Zulassungsbeschränkungen oder nicht, Einkommens-Millionäre gibt es an jeder Universität in der Bundesrepublik." Diese Zustände bestätigte auch der Stuttgarter Kultusstaatssekretär Gerhard Weng (*1916+1988). Der Christdemokrat sagte vor dem Untersuchungsausschuss aus, die Einnahmen deutscher Klinikdirektoren hätten sich "zwischen 600.000 Mark und 1,2 Millionen Mark bewegt. Es sei auch möglich, dass im Ausnahmefall auch einmal 1,8 Millionen Mark erreicht worden sei".
STAATLICHE AUSSTATTUNG:FÜR PRIVAT
Die Professoren haben es verstanden, "die vom Staat gestellte und finanzierte personelle und apparative Ausstattung der Institute zu einem erheblichen, vereinzelt sogar weit überwiegenden Teil zur Erzielung privater Nebeneinnahmen der Institutsleiter einzusetzen", so der vertrauliche Abschlussbericht. - Der Spitzenverdiener Brauss beschäftigte von seinen 60 Institutsmitarbeiter rund 15 ständig mit Privataufträgen. Nach der geltenden Regelung muss er von seinen "Nebeneinnahmen" (581.000 Mark) nur 18 Prozent abführen. Aber damit kann der Staat gerade die Jahresgehälter von vier Angestellten bezahlen, von denen noch dazu einer, István Stefko, während der Dienstzeit dem Professor beim Bau seines Reitstalls helfen und dessen Reitpferde versorgen musste.
IN ABWESENHEIT KASSIERT
Millionär Haas kassierte sogar in Abwesenheit. Er hatte sich beispielsweise vom 1. Oktober 1973 bis zum 30. September 1974 offiziell "ohne Bezüge" beurlauben lassen. Trotzdem nahm er in der gleichen Zeit für "Privatliquidationen 521.000 Mark ein. Die Arbeit machten seine Mitarbeiter im Institut.
LEHRE - FORSCHUNG VERNACHLÄSSIGT
Viele Professoren (es gibt in der Bundesrepublik über 500 Institutsdirektoren), die Staatseinrichtungen für Privatgewinn nutzen, vernachlässigen dabei auch ihren eigentlichen Auftrag in Lehre und Forschung. Der Untersuchungsbericht: "Die Nebentätigkeit der Klinikdirektoren kann einen negativen Einfluss auf die Erfüllung der eigentlichen Funktion der Kliniken nehmen." Der Ausschussbericht nennt Beispiele:
0 In einer Heidelberger Universitätsklinik wurden im Jahr 1972 Patienten der 1. Klasse durchschnittlich 23,5 Tage, die der zweiten 22,3 und die der dritten nur 16,7 Tage stationär behandelt.
0 Krankenzimmer der allgemeinen Pflegeklasse wurden mit Privatpatienten der Chefärzte belegt. Die Folge: Kassenpatienten mussten "unerträglich lange" auf freie Betten warten.
0 Für Medizinstudenten ist die so erweiterte gewinnträchtige Privatstation des "Chefs" in den meisten Fällen tabu. Die Folge: In den Krankenhäusern werden weniger Studenten ausgebildet, als möglich wäre.
KRANKENHÄUSER IMMER TEURER
Das Gewinnstreben der Institutsdirektoren trug auch dazu bei, dass die Krankenhäuser immer teurer, die Kassenbeiträge immer höher und die Ausbildungsplätze nicht entsprechend mehr wurden. An den Universitätskliniken Erlangen-Nürnberg, so ermittelte der bayerische Rechnungshof, stiegen in den letzten acht Jahren die Sachausgaben um 140 Prozent, und das Personal - vor allem die Wissenschaftler - nahm um 32 Prozent zu, doch die Zahl der Studienplätze ging um 50 Prozent zurück. Im Universitäts-Krankenhaus Hamburg-Eppendorf erhöhte sich die Zahl der Ärzte seit 1970 von 510 auf 800, aber nach den Feststellungen des hanseatischen Rechnungshofes wurden 1974 zwanzig Prozent weniger Studenten ausgebildet als möglich.
"UNRECHT" MIT GROSS-VERDIENERN
Die Einrichtung eines medizinischen Instituts kostet den Steuerzahler zwischen 10 und 20 Millionen Mark. Und die Angestellten-Gehälter plus Sachausgaben verschlingen jährlich durchschnittlich weitere zwei Millionen Mark. - Dennoch empfinden es die meisten Direktoren als ungerecht, dass sie für ihre Privateinkünfte in den Kliniken ein "bescheidenes Nutzungsentgelt" zahlen müssen. Je Betten-Tag (Brutto-Gesamteinnahme für den Chefarzt 160 bis 180 Mark pro Patient) sollen sie in
0 Nordrhein-Westfalen: 18.46 Mark
0 Baden-Württemberg: 11 bis 12 Mark,
0 Bayern: 5 bis 9 Mark,
0 Hessen: 4 Mark
0 Berlin 2,2o bis 2,75 Mark
abführen. Aber auch diese Betten-Pauschale , vor zehn Jahren von den Professoren selbst vorgeschlagen, um die Offenlegung der tatsächlichen Einkünfte zu umgehen, wird dem Fiskus größtenteils entzogen. Die Hamburger Kliniken haben 1974 immerhin rund 15 Millionen Mark abgeliefert. Aber in Berlin mahnt der Rechnungshof die Abgaben seit 1963 an. Und in Baden-Württemberg weigern sich 60 Chefärzte, die fälligen 6,5 Millionen Mark "Bettengeld" zu bezahlen. Der Tübinger Internist Professor Kurt Kochsiek gibt als Begründung an: "Wir arbeiten 70 bis 80 Stunden in der Woche und haben jahrelang nicht mehr als zweitausend Mark verdient. Dann steht uns das Geld jetzt wohl auch zu."
FÜR NEBEN-GELDER KLAGE ERHOBEN
Um die Millionen zu behalten, sind die Professoren sogar vor den baden-württembergischen Staatsgerichtshof gegangen. Dort wollen sie sich in einem Normenkontrollverfahren bescheinigen lassen, das die Bettenpauschale zu hoch ist. Für den Fall einer Niederlage droht der Tübinger Chirurg-Professor Leo Koslowski (Jahres-Nebenverdienst: 600.000 Mark) mit seinen Kollegen das CDU-Musterländle zu verlassen. Koslowski drohend: "In anderen Bundesländern müssen unsere Kollegen weniger abführen. Dann kann man nur die Konsequenzen ziehen und gehen."
BETRÜGEREIEN UM MILLIONEN
Die Chefärzte rechnen aber mit einem günstigen Vergleich, weil sie schon heute wissen, dass der zuständige CDU-Kultusminister Professor Wilhelm Hahn (1964-1978; *1908+1996) harte Schritte scheut. (Hahns Ministerium zahlte noch 54.000 Mark "Unterrichtsgeldabfindung" an den Heidelberger Physiker Heinz Filthuth, als der Professor schon wegen Millionenbetrügereien im Gefängnis saß). Theologie-Professor Hahn glaubt: "Professoren sind doch heute beinahe das, was früher die Juden und in den sechziger Jahren die Studenten waren."
"VERFOLGTE" BEI SCHWARZ-ARBEIT
Der Stuttgarter Untersuchungsausschuss hat für die "verfolgten Professoren" kein Mitleid. Die Politiker von CDU, SPD und FDP kritisierten nämlich nicht nur die Privatgeschäfte der Professoren. Sie deckten auch auf, dass in den Instituten ihres Landes "Schwarzarbeit" bereits selbstverständlich und zur Gewohnheit geworden ist". Diebstähle sich häuften und Finanz-Manipulationen zur Tagesordnung gehörten. Der stellvertretende Ausschussvorsitzende Kurt Bäntle (SPD) vermutet: "Der Kultusminister ist doch nur deshalb nicht eingeschritten, weil er selber bei einem Klinikchef Privatpatient ist." - Klassen-Gesellschaften.
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POSTSCRIPTUM. - Es brauchte 27 Jahre, ehe das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in seiner Rechtssprechung höchstrichterlich urteilte: Der Gesetzgeber - Bundestag und Landtage - darf Nebeneinkünften von Beamten Grenzen setzen. Geklagt hatte ein Professor für Steuerrecht an der Fachhochschule Worms. Er hatte von 1997 an mit Referaten bis zu 45.000 Mark im Jahr dazu verdient. Nun muss er dem Land Rheinland-Pfalz im Jahre 2007 umgerechnet 17.000 Euro erstatten. Denn nach Landesrecht - und das ist hier jeweils für die Bundesländer entscheidend - darf er bei seiner Tätigkeit für öffentlich-rechtliche Stellen höchsten s6.000 Euro im Jahr behalten. Entscheidend für die Richter war das so genannte "Anrechnungsprinzip" im Beamtenrecht. Eine Doppelbesoldung aus öffentlichen Mitteln widerspreche dem Gedanken der "Einheit des öffentlichen Dienstes". Auch das etwaige Argument, das Honorar werde aus der Privatwirtschaft beglichen, wiesen die Verfassungsrichter zurück.
GEWINNSTEIGERUNGEN
Eine parlamentarische Anfrage der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus aus dem Jahre 2007 förderte zu Tage, was gemeinhin nicht mehr für möglich gehalten wurde : allein in Berlin kommen elf Medizin-Professoren auf jährliche Nebeneinkünfte von mehr als einer Millionen Euro. Spitzenverdiener war ein Radiologe mit 2,5 Millionen Euro. Durchschnittlich beträgt das Honorar erwähnter Wissenschaftler pro Tag um die 2.000 Euro. Trotz aller stillschwiegend eingesteckter"Gewinnsteigerungen" - ein Erfahrungswert ist gleich geblieben: Im Schnitt delegieren Professoren laut einer Studie zwei Drittel ihrer Lehrverpflichtung und vier Fünftel ihrer Forschung an ihre aus öffentlichen Mitteln entlohnten Mitarbeiter. "Dabei werden sie vom Staat, also von uns allen dafür bezahlt, dass sie mit ganzer Kraft forschen und lehren." (manager magazin Ausgabe 3/2007).