Donnerstag, 11. Oktober 1973

Machtkämpfe, Flügelkämpfe, Diadochenkämpfe - SPD high noon in Bonn


























































Partei-Verdruss - Partei-Profil - Partei-Zerrissenheit . SPD-Macht-Kämpfe in der deutschen Nachkriegs-Geschichte der siebziger Jahre. Warum die SPD-Rechte Willy Brandt (*1913+1992) mit Austrittsdrohungen zum Kampf gegen die linken Genossen treiben. Währenddessen das Duell zwischen Willy Brandt und Herbert Wehner (*1906+1990) eskaliert, gnadenlos ausgekämpft wird. Reminiszenzen markanter SPD-Vorgänge der Zeitgeschichte
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stern, Hamburg
13. September und 11. Oktober 1973
von Horst Knape und Reimar Oltmanns

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Der Kanzler war beleidigt. Wütend verließ Willy Brandt (Regierungschef 1969-1974)am vergangenen Wochenende vorzeitig die Sitzung seines Parteivorstandes: "Das ist mir noch nicht passiert. Jetzt reicht's mir aber."
MOSKAU-REISE
Die Linken im SPD-Führungsgremium hatten das Zerwürfnis zwischen Willy Brandt und dem SPD-Fraktionschef Herbert Wehner (1969-1983) benutzt, um ihren bisher unangreifbaren Parteiführer seine erste Niederlage beizubringen. Auf Antrag des rheinland-pfälzischen Landesvorsitzenden Wilhelm Dröscher (*1920+1977) sollte der Moskau-Reisende Herbert Wehner für seinen Ost-Einsatz ausdrücklich vom Parteivorstand gelobt werden. Brandt hingegen versuchte dieses Pro-Wehner-Votum zu verhindern: "Darüber lasse ich nicht abstimmen!" Doch der linke Flügel kuschte nicht. Mit einer Stimme Mehrheit - zwölf gegen elf - setzte er sich gegen die Brandt-Anhänger durch. Zufrieden kommentierte der von Berlin angereiste Senatsdirektor Harry Ristock (*1928+1992) das Ergebnis: "Genossen, jetzt merkt man doch, dass die Parteibasis im Vorstand vertreten ist."
LAU UND FÜHRUNGSSCHWACH
In interner Runde wollten die Spitzengenossen dem Regierungschef klarmachen, dass sei die Kritik teilten, die der Fraktionsvorsitzende in der Sowjetunion an Brandts Führungsschwäche und der lauen Politik der sozialliberalen Koalition geübt hatten. Wilhelm Dröscher: "Der Wehner ist ein Mann mit strategischem Weitblick. Was er da in Moskau getan hat, sind doch wichtige Impulse für uns." Nach außen demonstrierten die Vorstandsmitglieder allerdings noch Einigkeit. Im offiziellen Kommuniqué verschwiegen sie die Kontroverse mit dem Vorsitzenden, weil sie nach den Konflikten mit Jungsozialisten und anderen Partei-Linken befürchten, den Selbstzerstörungsprozess der Sozialdemokratie" (Wohungsbauminister Hans-Jochen Vogel 1972-1974) zu verstärken.
HERBERT WEHNER ADE
Doch Willy Brandt ist jetzt nach der Abfuhr im Parteivorstand zur totalen Konfrontation mit dem Machtstrategen der Bundestagsfraktion entschlossen. Der Bundeskanzler hat sich nach langem Zaudern wie Zögern dazu aufgerafft, seinem alten Weggefährten Herbert Wehner die Zusammenarbeit endgültig aufzukündigen.
FÄKAL- UND SEXUALBEREICH
Die ihm zugetragenen Zitate Wehners aus der Sowjetunion ließen Brandt keine andere Wahl. Im Hotel "Kiew" in Kiew hatte Herbert Wehner den Kanzler zum Teil unflätig beschimpft, bis hin zum Fäkal- und Sexualbereich. Die mildesten politischen Abwandlungen: Brandt sei ein "schlaffer Kanzler", der zwar im Ausland gut ankomme, aber nicht merke, "wie unten alles zusammenbricht". Und auch Brandts Politik der guten Nachbarschaft zum FDP-Vorsitzenden Walter Scheel (1968-1974) mochte Herbert Wehner nicht mitmachen: "Nr 1 und 2, so läuft das nicht."
POLITIK DER STÄRKE
Willy Brandt indes will die von Herbert Wehner geforderte Politik der Stärke gegenüber dem liberalen Partner erst kurz vor der Bundestagswahl 1976 beginnen. Der Kanzler: "Es ist ganz klar, dass wir uns eines Tages deutlich werden abgrenzen müssen, Aber jetzt ist das viel zu früh. Das macht die Koalition schon im nächsten Jahr kaputt." Nach Brandts Ansicht wäre Wehners Konzept für Leute wie den FDP-Taktiker Hans-Dietrich Genscher (Innenminister 1969-1974) nur ein willkommender Anlass, ihrerseits einen Kurs der Entfremdung von den Sozialdemokraten zu steuern. Dies könnte die FDP wieder zur CDU/CSU treiben. - Machtgeplänkel.
OHNE BRANDT - WAHL VERLOREN
Beim Duell mit Herbert Wehner rechnet Willy Brandt auf das Opportunitätsdenken der SPD-Abgeordneten. Vor die Wahl zwischen ihm und dem ruppigen Fraktionschef gestellt, würden sie sich auf die Seite des Mannes stellen, der ihnen ihr politisches Überleben garantiere. Kanzleramts-Staatssekretär Horst Grabert (1972-1974): "Ohne Willy verliert die SPD doch die nächste Wahl."
KLASSENKAMPF
Doch auch Herbert Wehner hat fürs letzte Gefecht vorgesorgt. Klassenkämpferisch kritisierte er den Koalitionskanzler, Brandt betreibe mit den Liberalen eine Politik der gebremsten Reformen auf dem Rücken der Genossen. Die Außenpolitik stagniere, weil sich Walter Scheel (Außenminister 1969-1974) zum Autogrammsammler unter Verträge" entwickelt habe. Auf diese Weise verstand es der Polit-Profi "Onkel Herbert" seine 242-Mann-Fraktion weitgehend für sich zu solidarisieren. Noch unschlüssige Genossen brachte er auf seine Seite, indem er eine fingierte Rücktrittsdrohung in Umlauf setzte. Selbst jene Parlamentarier, die sich ständig über den autoritären Führungsstil Wehners geärgert hatten, entschieden sich daraufhin für ihn. Der Göttinger Jung-Abgeordnete Günter Wichert, 38, (SPD-MdB 1969-1974): "Politisch, vor allem in der Ostpolitik, stehe ich voll hinter Onkel Herbert." Und sein linker Kollege Karl-Heinz Hansen (SPD-MdB 1969-1981, Parteiausschluss) assistiert: "Nach Wehner kommt nichts mehr außer der zweiten Garnitur."
FINALE IN SICHT
Seit jener wohl folgenschweren Vorstandssitzung weiß Willy Brandt , dass es zwischen ihm und dem Fraktionsführer keine Übereinkunft mehr geben wird. Der Machtverfall hat begonnen. Deshalb ist er zum Kampf, zum Überlebenskampf entschlossen. "Unter den Teppich wird das nicht gekehrt."
WILLY, DU MUSST JETZT WAS TUN
Wie sich derlei Szenarien in dieser Verwirr-Spiel-Zeit der Sozialdemokraten ähneln, wie ausnahmslos und atemlos aus Parteifreunden unverblümt Feinde wurden. Und fast immer gingen sie schon direkten Schrittes auf den vermeintlichen Gegner los. Die Getränke - ob in Kaschemmen zu Bonn-Kessenich oder dem erlauchten Kanzlerbungalow waren noch nicht einmal akkurat auf den Tisch gestellt. Da polterten, gifteten wutentbrannt - fernab jeder Contenance - Hans-Jochen Vogel und Helmut Schmidt gegen eine junge SPD-Generation, die sich Jungsozialisten nennt. Eindringlich beschworen die beiden Minister den SPD-Chef Willy Brandt (1964-1987), den radikalen Linken in den eigenen Reihen endlich mundtot zu machen. Ihr Hauptvorwurf: Jusos-Thesen, die "noch links von der DKP angesiedelt sind" (Vogel), würden die SPD-Wähler vergraulen.
SCHEISS WELTPOLITIK
Willy Brandt zauderte und empfahl den Partei-Rechten Geduld und Beharrlichkeit: "Als Regierungschef und Parteivorsitzender sehe ich die Verantwortung fürs Ganze." Brandts Beschwichtigungsversuch brachte die hohen Gäste erst recht in Harnisch. Helmut Schmidt polterte: "Du kümmerst dich nur noch um die Scheiß-Weltpolitik, und ich muss hier schuften. Du musst jetzt endlich was tun, Willy." Und Hans-Jochen Vogel drohte: Wenn "die es so weitertreiben können wie in der Sommerpause, müsse er sein Ministeramt (Wohnungsbauminister 1972-1974) zur Verfügung und seine Parteimitgliedschaft in Frage stellen.
LINKSDRIFT
Der Ex-Oberbürgermeister von München (1960-1972) und Bonner Wohnungsbauminister kämpft seit Wochen gemeinsam mit Gesinnungsfreunden gegen den Vormarsch der bayerischen Jusos und der Linken im Münchner Unterbezirk. Vogel-Freund und Amtsnachfolger Georg Kronawitter (1972-1978 und 1984-1993): "Die benutzen die SPD nur noch als Vehikel für ihre kommunistische Konfliktstrategie." Juso-Feind Vogel ist sicher: "Wenn wir nicht unmissverständlich klarmachen, dass die SPD auf dem Boden des Godesberger Programms (1959-1989) steht, sind wir nicht mehr glaubwürdig." Eine Niederlage der SPD bei den bayerischen Landtagswahlen 1974 sei dann die Quittung für den Linksdrift.
AKTIVER JUSO-KREIS
Für Hans-Jochen Vogel steht fast, dass ein "kleiner, aber aktiver Kreis von Jungsozialisten das Godesberger Programm von 1959 aus den Angeln hebeln will. Er wirft den Partei-Linken vor, sie wolle
o im Widerspruch zum Godesberger Programm a l l e Produktionsmittel vergesellschaften;
o den Staat als "Agentur des Kapitalismus" abqualifizieren und seine Ordnungsfunktionen negieren;
o die freie Willensentscheidung der Abgeordneten abschaffen und sie zu reinen Vollzugsorganen der Parteimitglieder umfunktionieren (imperatives Mandat);
o mit der Strategie ständiger Konflikte (zum Beispiel Unterstützung wilder Streiks) jede Reformpolitik innerhalb der demokratisch-parlamentarischen Spielregeln unmöglich machen.
SCHARFMACHER
Der bayerische Scharfmacher will im Streit mit den Jusos auf keinen Fall einlenken. Vogel zu Brandt: "Wer solche Thesen vertritt, muss aus der Partei rausgeschmissen werden. Die schrecken sonst vor nichts zurück." Um Zeit zu gewinnen, lenkte der Kanzler vom brisanten Thema ab und erzählte - Campari mit Orangensaft schlürfend - von seinem jüngsten Ausflug ins Volk, der Reise nach Norddeutschland. Willy Brandt: "Ich bin in Salzgitter vor rund 10.000 Walzwerker hingetreten, und ich hatte gemischte Gefühle, weil ich nicht wusste, was mich erwarten würde. Aber dann spürte ich bald die Solidartät. Von Juso-Theorien redete niemand."
SÜNDENREGISTER
Mit dieser Bemerkung wollte Brandt sein Misstrauen andeuten, Vogel mache nur deshalb gegen die Jusos Front, um rechtzeitig ein Alibi für eine etwaige Wahlniederlage in Bayern zu haben. Doch damit hatte der SPD-Rechtsaußen gerechnet. Um seine Attacken gegen die Linken zu belegen, überreichte Hans-Jochen Vogel dem Parteichef eine Dokumentation, in der das Sündenregister der Jusos aktenkundig gemacht wird. Vor allem eine Kampfrede des Juso-Ideologen Johano Strasser (1970-1975 stellvertretender Juso-Chef) hatte Vogels Ärger provoziert. Denn der 34jährige Didaktik-Professor an der Berliner Pädagogischen Hochschule hatte seinen Anhängern praktische Anweisungen für die "Problematisierung des kapitalistischen Systems" und die "Umwandlung der Partei" gegeben.
GEWALTLOSIGKEIT
Strassers Vorschlag: Die Jusos sollten nicht "fortwährend Eide auf die Gewaltlosigkeit leisten", sondern lieber dafür sorgen, dass in Bundeswehr, Bundesgrenzschutz und Polizei Leute ausgebildet werden, "die möglicherweise Skrupel haben, auf Arbeiter einzuschlagen und zu schießen". Vogel über die ketzerischen Töne: "Dafür sollte in unserer Partei kein Platz sein." Forsch verlangte der Anführer der Rechts-Riege ein Parteiausschlussverfahren für die "Anhänger solcher marxistisch-leninistischer Theorien".
VOLKSFRONT
Ins Schussfeld des bayerischen SPD-Landeschef ist auch der Juso-Vorsitzende Wolfgang Roth (1972-1974) geraten. Ihm kreidete Vogel an, Roth habe in seiner Rede bei den Ostberliner Weltjugendfestspielen (1973) gegen den Parteiratsbeschluss zur Abgrenzung von Kommunisten verstoßen, für eine Zusammenarbeit mit kommunistischen Parteien plädiert und damit die Volksfront-Theorie der DKP propagiert. Vogel zu Brandt: "Ich bin nicht bereit, dieser Entwicklung tatenlos zuzusehen." Falls der Parteichef nicht eingreife, werde er notfalls mit Helmut Schmidt die Partei-Rechten mobilisieren: "Was dann geschieht, kann noch niemand voraussagen." Der SPD-Chef war beeindruckt: "Schreckliche Sache." Was auf dem Parteitag in Hannover (1973) so gut begonnen habe, läuft nicht mehr" (Brandt).
AUFGEWIEGELT
Aufgewiegelt hatten den Kanzler auch schon seine eigenen Berater. Staatssekretär
Günter Gaus (*1929+2004) und Brandts Ghostwriter Klaus Harpprecht (Redenschreiber 1972-1974) rieten ihm bereits seit Wochen, er solle gegenüber der Partei-Linken Farbe bekennen. Deshalb hatten sie in das Rede-Manuskript für das Weser-Ems-Treffen der SPD Anfang September 1973 einen Absatz eingefügt, der einen "energischen Willy" (Gaus) zeigte: "Unsere Wähler haben uns nicht beauftragt, einen großen Diskutierklub zu schaffen, sondern sie haben uns beauftragt, dieses Land zu regieren. An dieser Aufgabe wird man sich bewähren oder man wird scheitern."
HEISS-SPORNE
Eine Möglichkeit, sich vor der Öffentlichkeit zu bewähren und zugleich die Heißsporne Schmidt und Vogel zufriedenzustellen, sah der Kanzler, als ihn das SPD-Präsidium aufforderte, scharf gegen eine Juso-Presseerklärung zu den spontanen Arbeitsniederlegungen an Rhein und Ruhr Stellung zu nehmen. Die Jungsozialisten hatten die wilden Streiks als "legitime Maßnahmen der Arbeiter" begrüßt und die SPD-Führung aufgefordert, sich auch in den Fällen, in denen die Gewerkschaften nicht mitwirken, "mit aller Deutlichkeit auf die Seite der Arbeiter zu stellen". Der Kanzler nahm die Herausforderung an. Er betrachtete diese Erklärung "als abträglich für die SPD und belastend für die gebotene Solidarität mit den Gewerkschaften".
WARNSCHUSS
Der Warnschuss blieb nicht ohne Wirkung. Die Jusos zuckten zusammen. Sie hatten mit einer so scharfen Reaktion des Kanzlers nicht gerechnet. Zwar versuchte der Juso-Chef nach außen Fassung zu bewahren (Wolfgang Roth: "Wir gehen der Auseinandersetzung gelassen entgegen"), doch zugleich mobilisierte er per Telefon aus einem exquisiten Feinschmecker-Lokal im französischen Colmar seine Gesinnungsfreunde in Partei und Fraktion. Roths Devise: Unter allen Umständen den Sturm von rechts in der Partei zu überstehen, einfach auszusitzen.
JUSO-VERTEIDIGUNG
Auch die Linke in der SPD-Bundestagsfraktion und in den Gewerkschaften reagierten sofort. Angestachelt von den Jung-MdBs Norbert Gansel (1972-1997 ) und Dietrich Sperling (1969-1998) unterschrieben 30 Parlamentarier und zehn Gewerkschaftsfunktionäre eine Resolution zur Verteidigung der Juso-Politik. Der SPD-Linksaußen Jochen Steffen (*1922+1987) dagegen sah bis zuletzt weder die Gefahr für eine Spaltung der Partei noch für eine Ächtung der Linken: "Der Willy hat sicher die Juso-Texte nicht richtig gelesen oder falsch interpretiert bekommen. Das werden wir bald haben." Und die "Kassandra"-Rufe der beiden Minister Schmidt und Vogel wischte Jochen Steffen beiseite: "Die Rechten haben Gottvater Juck-Pulver in den Nacken gestreut, damit er sich mit uns beschäftigen muss. Wir, mein Freund Peter von Oertzen (*1924+2008) und ich, wir werden das zu beseitigen wissen."