Donnerstag, 7. Juni 1973

Aus deutschen Landen der Zeitgeschichte - Geheim-Mission in Ostberlin



Im Jahre 1973: SPD-Fraktionschef Herbert Wehner, Stieftochter Greta Burmester, Erich Honecker und FDP-Fraktionsvorsitzender Wolfgang Mischnick im Landhaus des SED-Chefs . - "Ich habe mit einem gestandenen Mann gesprochen" (Herbert Wehner)

---------------------------
stern, Hamburg
07. Juni 1973
von Reimar Oltmanns
---------------------------

Von geheimer Mission aus Ost-Berlin zurückgekehrt, wurde Herbert Wehner (*1906+1990) redselig. Der SPD-Chefstratege (Fraktionsvorsitzender im Bundestag, 1969-1983) bat die Genossen im Parteivorstand um "Verzeihung", weil er ihnen seine Stippvisite bei SED-Chef Erich Honecker (*1912+1994) verschwiegen hatte. Dann verlas er eine dreiseitige Erklärung über die politischen Gespräche mit dem mächtigsten Mann der DDR. Die Lesestunde stelle die Genossen im Westen zufrieden. Sie gingen zur Tagesordnung über.
GEHEIMNIS-KRÄMEREI
Noch wenige Tage zuvor hatten sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete ihren Unmut über die Geheimniskrämerei des SPD-Fraktiosvorsitzenden gezeigt. Am späten Dienstagabend des 22. Mai 1973 war Herbert Wehner mit dem Auto nach Ost-Berlin aufgebrochen. Bei Tagesanbruch hatte er am Mittwochmorgen mit seiner Stieftochter Greta Burmester (seit 1983 verheiratete Wehner) den Kontrollpunkt Herleshausen an der DDR-Grenze passiert. In seinen Reiseplan waren nur Bundeskanzler Willy Brandt (1969-1984; *1913+1992) und die Minister Egon Bahr, Walter Scheel und Helmut Schmidt eingeweiht. - Deutsch-deutsche Geheimdiplomatie. Herbert Wehner hatte sich nicht einmal seinem Memoiren-Autor Reinhard Appel (Chefredakteur des ZDF, 1976-1988 ) anvertraut, der ihn noch am Dienstagabend in seinem Reihenhaus in Bad-Godesberg besucht hatte. Der SPD-Spitzenpolitiker hatte sich zu einer strengen Geheimhaltung entschlossen, um die Konsultationen mit SED-Chef Erich Honecker (1971-1989) durch spektakuläre Presseberichte stören zu lassen.
GRUND-VERTRAG "MIT LEBEN ZU FÜLLEN"
Der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion und sein liberaler Amtskollege Wolfgang Mischnick (*1921+2002) waren kurz vor dem Staats-Besuch in Bonn des sowjetischen KP-Chefs Leonid Breschnew (*1906+1982: Parteichef der KPdSU von 1964 bis 1982) von der SED-Spitze und der Liberal-Demokratischen Partei (LDPD) zum politischen Meinungsaustausch in die DDR-Metropole eingeladen worden. Die Koalitionsbrüder verabredeten eine konzertierte Aktion, "um den Grundlagen-Verlag mit Leben zu füllen" (Mischnick). Zur Erinnerung: Als Grundlagenvertrag wurde das Abkommen zwischen der BRD und DDR bezeichnet, das die Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten völkerrechtlich regelt. Er wurde am 21. Dezember 1972 geschlossen , am 11. Mai 1973 ratifiziert und trat am 21. Juni 1973 in Kraft.
BRD-DDR
In Artikel 1 bis 3 vereinbarten beide Regierungen gutnachbarschaftliche Beziehungen. Sie verpflichteten sich zudem, "bei der Beilegung von Streitigkeiten auf Gewalt zu verzichten und die gegenseitigen Grenzen zu achten". Vor der Unterzeichnung der Verträge übergab der Unterhändler von Bundeskanzler Willy Brandt (1969-1974), der Bundesminister für besondere Aufgaben Egon Bahr (1972-1974 ) der Ost-Berliner Staatsführung den "Brief zur deutschen Einheit, in dem festgestellt wird, dass das Abkommen "nicht im Widerspruch zu dem politischen Ziel der Bundesrepublik Deutschland steht, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt."- Wandel durch Annäherung.
BESUCH DER ALTEN DAME
Als Termin notierten die Bonner Fraktionschefs die letzte Mai-Woche, in der Wolfgang Mischnick ohnehin in die DDR fahren wollte, um seine schwerkranke Mutter in Dresden zu besuchen. Bestärkt wurden die beiden sozialliberalen Spitzenpolitiker in ihrer Absicht, mit Erich Honecker über die Verbesserung der innerdeutschen Beziehungen zu reden, durch die Verfassungsklage des Landes Bayern gegen den BRD-DDR-Grundvertrag.
VERFASSUNGS-KLAGE
Am 23. Mai 1973 legte die Bayerische Staatsregierung Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht mit dem Ziel ein, das Abkommen als mit dem Grundgesetz nicht vereinbar zu erklären. In der Begründung bemängelte das Land Bayern, dass der Vertrag das grundgesetzliche Wiedervereinigungsgebot verletze und für Berlin nur eingeschränkt Geltung habe. Außerdem würde die Fürsorgepflicht gegenüber Deutschen der Demokratischen Republik verletzt, da keine Intervention zu ihrem Schutz mehr stattfinden könnten. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe wies am 31. Juli 1973 die CSU-Klage als nicht begründet ab. Zugleich betonten die Bundesrichter, dass das Wiedervereinigungsgebot nach wie vor alle Verfassungsorgane (u.a. Bundesregierung, Bundestag, Bundesrat) binde. Nur der Weg zur Wiedervereinigung bleibe den politischen Akteuren überlassen.
POLITISCH OPPORTUN
Um sich politisch abzusichern, fragte Herbert Wehner 48 Stunden vor der Abfahrt den Bundeskanzler Willy Brandt, ob unter diesen Umständen der Trip nach Ost-Berlin "opportun" sein. Brandt war einverstanden, denn er hielt es für zweckmäßig, Erich Honecker in einem persönlichen Gespräch über die neue Situation in der Bundesrepublik zu informieren.
ALTE KAMPFGEFÄHRTEN
Auf der Terrasse seines Landhauses in der Schorfheide bei Berlin philosophierten dann am Himmelfahrtstag der SED-Chef und seine bundesdeutschen Gäste über die Bayern-Klage und den UNO-Beitritt der beiden deutschen Staaten (18. September 1973). Dann wurde das Gespräch persönlich, sehr persönlich. Erich Honecker und Herbert Wehner, die sich noch aus den dreißiger Jahren kennen, tauschten bittere Erfahrungen aus: Beide hatten als Polit-Häftlinge im Zuchthaus gesessen.
HÄFTLINGE VON EINST
Erich Honecker wurde im Jahre 1935 von der Gestapo verhaftet und zunächst bis 1937 im Berliner Gefängnis Moabit in Untersuchungshaft gehalten; sodann zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Er saß bis zum 6. März 1945 in der Anstalt Brandenburg-Görden ein. KPD-Funktionär,der Herbert Wehner seit 1927 war, der im Jahre 1935 vor Verfolgung nach Moskau emigrieren musste, wurde im Jahre 1942 in Stockholm verhaftet und wegen Spionage zunächst zu einem Jahr Gefängnis, dann im Berufungsverfahren zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt. Während seiner Internierung vollzog Herbert Wehner seinen Bruch mit dem Kommunismus. Herbert Wehner über den mächtigsten Mann der DDR: "Hätten die Nazis damals gewusst, welches Kaliber der hat, hätte er das Zuchthaus nicht überlebt."
ERLEICHTERUNGEN NUR, WENN ... ...
Als die Herren auf den Juristen-Streit um den Grundlagen-Vertrag zu sprechen kamen, zeigte sich Erich Honecker zunächst verständnisvoll. Der SED-Chef: "Das ist eine innere Angelegenheit der BRD." Dann ließ er einen Wermutstropfen ins Verständigungsglas fallen: Ohne Inkrafttreten des Grundlagen-Vertrages werde es keine menschlichen Erleichterungen geben. Der von den SED-Genossen bis vor kurzem befehdete Ex-Kommunist Herbert Wehner ist nach seiner DDR-Reise überzeugt, dass mit dem Grundlagen-Vertrag eine neue Ära zwischen den beiden Deutschlands beginnt. Wehner zu Parteifreunden: "Ich habe mit einem gestandenen Mann gesprochen, auf den man sich verlassen kann."
SACHLICHE BERICHTE
Und Erich Honecker gar sah sich veranlasst, während der Gespräche die "sachliche Berichterstattung" des ARD-Korrespondenten Ernst Dieter Lueg (*1930+2000) zu loben. Der Fernseh-Journalist hatte einen Beitrag über Land und Leute aus Dresden übermittelt. Wehner reagierte sofort und schlug dem Gastgeber vor: "Da kann für Ihren Karl-Eduard von Schnitzler (*1918+2001) ja künftig der Lueg im DDR-Fernsehen die Kommentare sprechen."