Donnerstag, 24. Mai 1973

Uni-Luftbrücke zum Auswandern







Wie der Christdemokrat und spätere Bundesminister Christian Schwarz-Schilling (1982-1992) den Massenansturm auf die deutschen Hochschulen abwehren will - Luftbrücken in die USA, abhauen, studieren, auswandern ... ...
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stern, Hamburg
24. Mai 1973/ 20. März 2009
von Reimar Oltmanns
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Für den hessischen CDU-Generalsekretär Christian Schwarz-Schilling (1967-1980) liegt die Lösung der deutschen Universitäts-Misere in Übersee. Als er nach einem 14tägigen USA-Besuch auf dem Frankfurter Rhein-Main-Flughafen landete, verkündete er stolz: "Wir könnten schon in einem halben Jahr die verschärften Zulassungsbedingungen für Studienanfänger restlos beseitigt haben. Wenn der Staat für 40.000 deutsche Studenten eine Luftbrücke zu den Hochschulen im Mittelwesten der USA einrichtet, braucht kein Abiturient mehr im einen Studienplatz zu bangen."
IN DEUTSCHLAND UNERTRÄGLICH
Ein Auslandsstudium charakterisiert den Studienaufenthalt von etwa ein oder zwei Semester in einem anderen Land als Deutschland, in dem das Studium aufgenommen und normalerweise auch abgeschlossen werden sollte. Denn trotz verstärkter Bildungsausgaben wird die Situation an den deutschen Universitäten Jahr für Jahr unerträglicher. Zwar investierten Bund und Länder im Jahr 1972 insgesamt neun Milliarden Mark in den Hochschulbau (von 1949 bis 1958 nur 1,5 Milliarden) doch für die 587.400 Bewerber gibt es nur 445.560 Studienplätze. In der Medizin, Psychologie und Biologie ist ein totaler Numerus clausus eingeführt worden; für die meisten anderen Fächer wird er erwogen.
TROPFEN AUF HEISSEN STEIN
Seit der rot-grünen Regierungsübernahme 1998 gibt der Bund nach einer Rechnung des Wissenschafts-Ministeriums 17,9 Prozent mehr für Bildung und Forschung aus. Allerdings waren zwischen 1994 und 1998 unter CDU-Regie diese Zukunfts-Investitionen um 800 Millionen Mark gekürzt worden. Und das zu einer Zeit, in der der Ansturm auf die Hochschulen noch immer ständig zunahm. Bestanden im Jahr 1960 nur 7,7 Prozent eines Geburtenjahrganges das Abitur, so waren es 1972 bereits 17,8 Prozent. 1977 soll es s 23 Prozent, im Jahr 2007 waren es 38,1 Prozent. - Fortschritt. Alfred Heim vom Wissenschaftsrat: "Dieselben Bildungsplaner, die die Abiturquote an den internationalen Maßstab heranführen wollen (Frankreich: im Jahr 2008: 70 Prozent) wissen nicht, woher sie das Geld für 800.000 Studienplätze nehmen sollen."
IN USA LERNEN, STUDIEREN
In dieser Notlage empfahl Christian Schwarz-Schilling sein Patentrezept: "Deutsche Studenten könnten ruhig ein bis zwei Jahre in den Staaten etwas lernen." Platz ist dort tatsächlich vorhanden. Die Colleges und Universitäten in den Vereinigten Staaten haben 680.000 Studenten zu wenig. Sie kämpfen um ihre Existenz, weil sie sich zum größten Teil von den Studiengebühren der Jugendlichen finanzieren. Die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung zeigte sich von dem Plan des CDU-Politikers angetan: "Das Rezept verblüfft mit seiner scheinbaren Schlichtheit."
VERSPÄTETER APRIL-SCHERZ
Nur die Bildungs-Experten hingegen sind anderer Meinung. Peter Braun, Pressesprecher im Bundewissenschaftsministerium: "Das ist ein verspäteter April-Scherz. Dieser Vorschlag schafft mehr Probleme, als wir ohnehin schon haben." Und Wolfgang Kalischer von der Westdeutschen Rektorenkonferenz (WRK): "Die Colleges haben nicht nur ein extrem unterschiedliches Niveau. Ihr Abschluss (Bachelor of arts) ist kaum besser als unser Abitur." So sind weder die deutschen und die amerikanischen Studienpläne aufeinander abgestimmt, noch werde die Examen gegenseitig anerkannt. Wolfgang Kalischer: "Wenn der Student in die Bundesrepublik zurückkehrt, müsste er mit seinem Studium praktisch von vorn beginnen. Dadurch hätten wir keine Studienplätze gewonnen."
MICH-MÄDCHEN-RECHNUNGEN
Auch Christian Schwarz-Schillings Rechenexempel werden von den Sachverständigen angezweifelt. Danach soll in den USA ein Studienplatz jährlich 7.000 Mark kosten, in der Bundesrepublik hingegen zwischen 18.000 und 22.ooo Mark. Alfred Heim: "Das ist eine unseriöse Mich-Mädchen-Rechnung. Ein Studienplatz kostet in Deutschland 5.500 Mark. Man kann doch nicht sämtliche Investitionskosten und Forschungsausgaben der Universität durch einen einzigen Studentenjahrgang teilen."
HAUSHALTS-KASSE KALKULIERT
Sogar die Lebenshaltung hat der CDU-Generalsekretär falsch berechnet. Er glaubt nämlich, dass ein Student in Amerika monatlich nur 400 Mark benötigt. Rolf Ulner vom Deutschen Akademischen Austauschdienst: "Das ist wohl Kinderland-Verschickung. Wir müssen unseren Stipendiaten allein 1.450 Mark für ihren Lebensunterhalt in den USA geben." So bleibt einstweilen von den angeblichen Vorteilen nur noch der Wunsch nach Ruhe und Ordnung übrig. Der besorgte Christian Schwarz-Schilling hat vor Ort in Erfahrung bringen können: "Krawalle sind in den Hochschulen der USA seit zwei Jahren unbekannt. Da wird nämlich wieder gearbeitet. Das würde manchem von uns ganz guttun."
SEINER ZEIT WEIT VORAUS
Dessen ungeachtet, trotz aller Polemik und Schelte war Christian Schwarz-Schilling (Bundesminister für Post und Telekommunikation 1982-1992) seiner Zeit schon damals weit voraus. Mittlerweile lernen von den insgesamt 1.982.000 Studierenden in Deutschland (2005) über 23 Prozent an ausländischen Hochschulen. Etwa zwei Drittel der Studenten und Studentinnen blieben in Westeuropa, vor allem in Großbritannien und Frankreich; etwa 13 Prozent zog es in die USA und gar zehn Prozent nach Polen und Russland. Dieser neuerliche Trend entspricht gleichfalls einer anderen Sehnsucht, einem bislang verkannten Lebensgefühl: Allein im Jahre 2006 kehrten insgesamt nahezu 145.000 Deutsche ihrem Land den Rücken - wanderten aus.