Donnerstag, 22. November 1973

Streit der Witwen um ein linksliberales Qualitätsblatt in deutschen Landen der Zeitgeschichte







































Karl Gerold (*19. August 1906+28. Februar 1973) Herausgeber, Chefredakteur, Mehrheitsgesellschafter. Die "Frankfurter Rundschau" entwickelte sich in seiner Ära zu einer angesehenen überregionalen Zeitung mit nationaler Bedeutung.

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Conrad Ahlers (*8. November 1922+19. Dezember 1980) war ab 1959 bis 1962 innenpolitischer Redakteur. Ahlers schärfte das tagespolitische Profil der "Frankfurter Rundschau", bevor er nach Hamburg übesiedelte und die "Spiegel-Affäre" (1962) auslöste - inhaftiert wurde.
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Karl-Hermann Flach (*17. Oktober 1929 in Königsberg +25. August 1973 in Frankfurt am Main) war von 1962 bis 1971 ihr Redaktionsleiter. Er gab der FR zweifelsfrei ein prononciert linksliberales Profil. Der von ihm vertretene Kulturliberalismus grenzte sich schon in der Adenauer-Ära vom allseits verbreitete Wirtschaftsliberalismus "der freien Märkte " ab. Danach hatte für Flach Umweltschutz beispielsweise Vorrang vor Gewinnstreben. Er forderte eine dezidierte Reform des Kapitalismus gegen die immer größer werdende Ungleichheit. In der Frankfurter Rundschau wurde er zum Mentor einer nachfolgendem Journalisten-Generation.
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Verleger-Witwen und Zeitungs-Erbinnen Friedel Rudert und Elsy Gerold-Lang setzten Zwietracht, Animositäten ihrer Männer unerbittlich fort und gefährdeten die Existenz der FR.

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Werner Holzer, Chefredakteur (1973-1992) glättete das einst widerspenstige Rumoren seiner Redaktion, den liberalen Widerspruchsgeist an deutschen Zuständen . Der frühere Afrika-Spezialist Holzer entpuppte sich als "Herrenreiter" in den Rhein-Main-Vororten wohlsituierter Industrieller. Am Ende seiner Laufbahn erhielt er 2007 aus den Händen von Ingrid Gräfin zu Solms-Wildenfels den deutsch-amerkanischen Medienpreis der Steuben-Schurz-Gesellschaft zu Frankfurt am Main: machte sich als Präsident des Frankfurter Presseclubs einen Namen.

"Eine Zeitung muss frei von politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten sein."
Karl Gerold


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stern, Hamburg
22. November 1973
von Reimar Oltmanns
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Zwei betagte Witwen pokern um die "Frankfurter Rundschau" (FR). Die Schweizer Pianistin Elsy Gerold-Lang, 74, (*1899+1988) und die ehemalige Sekretärin der Frankfurter KPD, Friedel Rudert, 70, streiten sich um das Erbe ihrer Ehemänner. Zwar wollen beide die linksliberale Tageszeitung und das "Druck- und Verlagshaus Frankfurt am Main GmbH" (Jahresumsatz 120 Millionen Mark) in eine gemeinsame Stiftung umwandeln, doch über den Namen dieser Stiftung herrscht Zwietracht. Während die Witwe des 1973 verstorbenen FR-Herausgebers Karl Gerold auf einer "Karl-Gerold-Stiftung" besteht, beharrt die Witwe des schon 1954 verschiedenen FR-Gesellschafters Arno Rudert auf dem Gemeinschaftsnamen "Karl Gerold/Arno-Rudert-Stiftung." Schließlich war Arno Rudert aus der KPD ausgeschlossen worden, weil er die FR-Lizenz von den Amerikanern angenommen hatte.
NAMENSRANGELEIEN
Die im beschaulichen Astano in der Schweiz lebende Pianistin Elsy Gerold-Lang, die sich bisher nicht um die Zeitung gekümmert hatte, will aber in der kleinkarierten Namens-Rangelei nicht nachgeben. Der Grund: Die ehemaligen FR-Gesellschafter Karl Gerold und Arno Rudert haben sich nie gemocht. Als Kompagnon Rudert starb, übertrug Gerold seine Anteile auf dessen Witwe. Indes: Er verbot der neuen Anteilseignerin das Betreten des Rundschau-Hauses und überging sie bei allen Entscheidungen, die das Unternehmen betrafen.
ALLES IM PANZERSCHRANK
Mit dem Plan, seinen Zweidrittelanteil in eine eigene Stiftung einzubringen, wollte der schon schwerkranke Rundschau-Herausgeber Anfang 1973 die unbequeme Friedel Rudert endgültig ausbooten. Karl Gerold zu dem auf Harmonie bedachten neuen Chefredakteur Werner Holzer: "Es sind alle juristischen Schritte für die Gründung einer Stiftung eingeleitet. Es liegt alles im Panzerschrank."
DER GROSSE KRACH
Doch statt "eines für die Bundesrepublik beispielhaften Modells" (Holzer) kam der große Krach. Denn Gerolds fünf Testamente und die von ihm entworfene Satzung der geplanten Stiftung sind nach dem Gesellschaftervertrag nur zu realisieren, wenn die seit dem Tode ihres Mannes mit einem Drittel am Unternehmen beteiligte Friedel Rudert dem Plan zustimmt. 1951 hatten Karl Gerold und Arno Rudert nämlich vereinbart, dass keiner ohne die Zustimmung über Gesellschafteranteile verfügen darf.
GEGENSPIELERIN
Die Gerold-Witwe, die Testamentsvollstreckerin ist, muss jetzt sogar damit rechnen, dass ihre Gegenspielerin aus dem Gerold-Nachlass einen weiteren Drittelanteil für sich fordert. Denn nach dem "Rundschau"-Vertrag kann nach dem Tode eines Gesellschafters der überlebende Teil 66,66 Prozent für sich beanspruchen. Die Klausel sollte früher einmal verhindern, dass die FR durch den Verkauf von Anteilen in die Hände konserativer Verleger fällt. So gingen beim Tode des 50-Prozent-Gesellschafters Arno Rudert 16,66 Prozent auf Karl Gerold über.
"AM ENDE IST SPRINGER HIER"
Trotz dieser Rechtslage ist Rechtsanwalt Joachim Rieke entschlossen, für die Stiftungsidee seines Freundes Karl Gerold zu kämpfen. Der Anwalt will als "Diener seines verstorbenen Herrn das Vermächtnis wahren". Um sein ehrgeiziges Ziel zu erreichen, ist der 68jährige Advokat bereit, bis zum Bundesgerichtshof zu gehen. Denn Joachim Rieke befürchtet, dass die Gesellschafterin Friedel Rudert ihre Anteile verscherbeln könnte. Rieke: "Am Ende haben wir noch Geschäftsführer von Springer hier sitzen." Die Gegenseite weist diesen Vorwurf empört zurück. Rechtsanwalt Carl Hans Barz: "Das ist Brunnenvergiftung." Friedel Rudert aufgebracht: "Der Rieke sieht nur seine Pfründe gefährdet."
FR-ZUKUNFT: SEHR UNGEWISS
Wegen der wirtschaftlichen Entwicklung der FR möchte Friedel Rudert allerdings einen Zivilprozess vermeiden: "Anstatt vor Gericht zu gehen, sollten wir lieber einen Kompromiss schliessen und uns auf die Erhaltung der 'Frankfurter Rundschau' konzentrieren." Tatsächlich nimmt das Hickhack der Witwe der Redaktion ihren Atem. Existenzgefährdend knabberte der fortwährende Aderlass oder frühe Tod brillanter, markanter Federn am einst couragierten, mitunter frechen FR-Gemüt. Hießen sie nun Conrad Ahlers, Karl Hermann Flach, Karl-Heinz Krumm, Gerhard Ziegler, Horst Köpke, Michael Rathert, Ulrich Mackensen, Volkmar Hoffmann, Anton Andreas Guha (*1937+2010), Martina I. Kischke (*1935+2014), Eckart Spoo, Rolf-Dietrich Schwartz oder auch Horst Wolf . Zwangsläufig wollte es wie ein Naturgesetz scheinen, drückte die überaus harte FAZ-Bild-Zeitungs-Konkurrenz auf dem Frankfurter Rhein-Main-Markt die Zuversicht des Blattes ausweglos in den Keller ; rote Zahlen, immer wieder Kleinmut als nagender Wegbegleiter. Gruppentherapien. Gestaltungstherapien.
BÜRGERLICHE ANERKENNUNG
An der Spitze zeigte sich ein weitgereister Chefredakteur Werner Holzer, der sich intensivst um den Aufbau des örtlichen Frankfurter Presseclubs verausgabte. Ein weltgewandter Werner Holzer, der Stund' um Stund' bei Arbeitgeberverbänden samt seinen Rotarier-Clubs zubrachte - um bürgerlicher Anerkennung heimsuchte. Streicheleinheiten. Im Hessischen Fernsehen auf HR3 parlierte er als gern gesehener Gast mit braungebranntem Teint über Unrecht, Verzweiflung, Hunger auf dieser Erde - Woche für Woche. Nur vor kritischer Berichterstattung seiner Zeitung, vor den eigentlichen deutschen Zustandsbeschreibungen (Ihr da oben, wir da unten) flüchtete er vorsorglich. Wendezeiten. Berührungsängste. Kleider machen eben Leute . Da gab es keinen "Schreib mal auf Kisch", sondern "guck mal weg, Holzer". (Egon Erwin Kisch, genannt der "rasende Reporter" *1885+1948). - Sehnsucht nach Karl Gerold.
DROHUNG: ERBSCHAFTSTEUER
Aber auch keine Zeit für Holzer. Witwen-Zeit. Schon der Krieg der Witwen hätte dem FR-Verlag eine Erbschaftssteuer in Höhe von 12 bis 15 Millionen Mark abverlangt. Nur durch die Gründung einer Stiftung, die ihre Gewinne an gemeinnützige Verbände abgeführt, kann das allmähliche finanzielle Ausbluten verhindert werden. Dabei hat die FR ganz andere Sorgen. In Neu-Isenburg bei Frankfurt investierte die Zeitungsgesellschaft 20 Millionen Mark in einen Druckereineubau, in dem auch die BILD-Zeitung von der Rotation lief. Die Lohnerhöhungen und Papierpreissteigerungen veranschlagt das Management mit sieben Millionen Mark. Schließlich macht die überegionale Auflage von knapp 50.000 (Gesamtauflage 185.000) Exemplaren monatlich 700.000 Mark minus, weil die Zeitung kein lukratives bundesweites Anzeigenaufkommen hat. Verleger Karl Gerold scheint das alles vorausgeahnt zu haben. Titel der letzten Verse des Freizeit-Poeten Gerold: "Obskur. Obskur."
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POSTSCRIPTUM (I). - Elsy Gerold-Lang starb im Jahre 1988. Sie vermachte der "Karl-Gerold-Stiftung" ihr gesamtes Vermögen. In der Präambel Stiftungssatzung hatte Karl Gerold verfügt, dass die "Frankfurter Rundschau" eine unabhängige, links-liberale Tageszeitung ist, Menschenrechten und der sozialen Gerechtigkeit verpflichtend.
Die eigentliche Bewährungsprobe des wirtschaftlichen Überlebens (Zeitungssterben und -aufkäufe, Medienkrise, Anzeigenverluste, Privatfernsehen, Internet, Personalabbau) konnte die "Frankfurter Rundschau" nur mit Hilfe der engagierten SPD-Schatzmeisterin Inge Wettig-Danielmeyer (1991-2007 ) bestehen - überleben. Die von ihr kontrollierte SPD-eigene Medienholding (DDVG) übernahm 2003 insgesamt 90 Prozent der Anteile am Druck- und Verlagshaus als Herausgeberin der FR. Ohne den finanziellen Zugriff der SPD wäre die "Frankfurter Rundschau" in Konkurs gegangen. Insgesamt sank in diesem Zeitraum von drei Jahren die Zahl der FR-Beschäftigten von extakt 1.7oo auf 750 Stellen. Die FR war wirtschaftlich gerettet. Im Juli 2006 gaben die SPD-eigene DDVG und der Kölner Verlag M. DuMont Schauberg, in dem der "Kölner Stadt-Anzeiger" erscheint, bekannt, dass er 50 Prozent der "Frankfurter Rundschau" übernimmt - der SPD bleiben 40 und der Karl-Gerold-Stiftung zehn Prozent. Um diese Kapital-Konstellation zustande zu bringen, musste Chefredakteur Wolfgang Storz fristlos entlassen werden. Bauern-Opfer. Storz war es, der die FR "durch die schwierigste Zeit ihrer Existenz" geführt hatte. Der Gefeuerte bedankte sich in der Redaktion "für die harten und für mich wunderbaren Jahre der Zusammenarbeit". Die "Karl-Gerold-Stiftung" war gegen die Entlassung des Chefredakteurs. Keine Mehrheit mehr. Scherbenhaufen. Achselzucken.
POSTSCRIPTUM (II). - Fünf Jahre später - exakt am 2. April 2011 - ist das Schicksal der Frankfurter Rundschau besiegelt. Nach mehr als sechs Jahrzehnten als überregionale Tageszeitung ist die Geschichte dieses linksliberalen Blattes jäh zu Ende. Der Grund ist in der rasanten finanziellen Talfahrt zu suchen. Allein im Jahr 2010 verbuchte die ohnehin schon rationalisierte Frankfurter Rundschau einen weiteren Verlurst von 19 Millionen Euro. Seit langer Zeit verzichten die Mitarbeiter bereits auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Ohne Erfolg. So schrumpft die einst renomierte Zeitung in Frankfurt auf eine Lokalteil zusammen. Die überregionalen Mantel-Seiten werden künftig - gemeisam mit der Berliner Zeitung - in der Hauptstadt produziert. Amen.

Samstag, 17. November 1973

Bundes-Presseball auf Sparflamme. Abglanz der siebziger Jahre. Flugsand der Bonner Republik














































Bundespresseball anno 1973 in der Beethovenhalle zu Bonn. Das jüngste Mitglied der Bundespressekonferenz, der 24jährige stern-Korrespondent Reimar Oltmanns eröffnet mit Ruth Delius , der Enkelin von Bundespräsident Gustav Heinemann (*1899+1976) den Ball. Fernsehbutler Martin Jente (*1909+1996) (zweiter von links) serviert Bundeskanzler Willy Brandt (links) (*1913+1992) und Frau Rut (rechts) (*1920+2006) sowie Walter Scheel ein Schnäpschen.

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Frankfurter Allgemeine Zeitung
von Walter Henkels (*1906+1987)
Abendzeitung, München
von Heli Ihlefeld
vom 19. November 1973
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Es hätte fast Hochrufe gegeben, als man ihn im Tanzgewühl entdeckte. Vorbeitanzend an seinem ehemaligen Bundeskanzler und Parteivorsitzenden Willy Brandt, in den Armen eine junge Schöne in Grün - da kann Karl Schiller (*1911+1994) ein Wörtchen mitreden. Die Talsohle liegt offensichtlich hinter ihm, dieser Auftritt war konzertierte Aktion. In nahen Pfützen und Lachen im großen Konzertsaal der Beethovenhalle saßen noch so leidenschaftlich wie früher, vor allem die Kontertänze. Jeder drängte sich auf der Tanzfläche, einen guten Platz zu erwischen, um ihn zu sehen und womöglich zu grüßen oder zu berühren.

PLISCH + PLUM

Und der Plisch tanzte auch am Plum vorbei, der saß da am Rande der Tanzfläche, und sie grüßten sich, der Karl August Schiller (*1911+1994) und der Franz Josef Strauß (*1915+1988). Der Plisch, die schöne Grüne schwenkend, rief es zum Plum hinüber: Tugend will ermuntert sein, Bosheit kann man schon allein. Und der Plum signalisierte zum Plisch zurück: Aber hier, wie überhaupt, kommt es anders, als man glaubt, so steht es schon bei Wilhelm Busch ( *1832+1908) in "Plisch und Plum".

ZAHL DER TÄNZE

Karl Schillers frühere Auftritte auf den Pressebällen lieferten den Bonnern immer viel Farbe. Wenn sich auch vieles nicht zusammenreimen wollte, aber seine erneute Beliebtheit schien in geometrischer Progression mit der Zahl der Tänze, die er hinter sich brachte. Neun Orchester spielten für die 2.500 Gäste (Eintrittspreis 70 Mark) aus Politik, Kultur und Wirtschaft auf, und wie alle Jahre hatte jeder von ihnen die Chance, einen der Hauptgewinne der Tombola, mit nach Hause zu nehmen. An der Spitze stand diesmal ein Mercedes 280 und für Liebhaber der Oldtimer "Tin Lizzy", ein Ford aus dem Jahre 1923. Zehn Kapellen spielten dann in acht Sälen zum Tanz. An sieben Bars wurde genippt, geschlürft - geschluckt: Sekt, Whisky, Pils, Kölsch, Malteser, Wodka, Cognac - unaufhörlich.

HEINEMANNS LETZTER AUFTRITT

Dem Bundespresseball, das gesellschaftliche Ereignis in Bonn, pflegt Gustav Heinemann, der Bürgerpräsident, im Smoking seine Aufwartung zu machen. Sicherlich zum Argwohn jener, die den Frack wie ein Fossil aus steinigen Zeiten mit Klauen und Zähen als "Staatstracht" oder geradezu als "staatliche Ausgeh-Uniform" verteidigen. "Man soll eingegerbte Traditionen nicht gedankenverloren über Bord werfen", mahnen sie und fügen geflissentlich hinzu, dass "der Frack nun einmal dem internationalen Protokoll entspricht." Sicherlich, nur im Fall des Bundespresseballs dreht sich nichts um das Prestige der Nationen, sondern allenfalls um die erlesene Eitelkeit solcher Politik-Gesichter, für die nahezu alle Unzulänglichkeiten dieses Erdballs sich erübrigen; vorausgesetzt, dass das Karusell , der diplomatischen Emfänge, Cocktails, Dinnerpartys unaufhörlich in Gang gehalten wird.

RÜCKENLAGE AM RHEIN

Der Mond hing in Rückenlage über dem Siebengebirge, als die letzten der zweieinhalbtausend Gäste das Fest verließen. Bundespräsident Gustav Heinemann ("Ich liebe nicht den Staat, ich liebe meine Frau"; 1969-1974) und seine Frau Hilda (*1896+1979) hatten den Journalisten kurz die Ehre ihrer Anwesenheit gegeben, das letzte Mal. Der Generationswechsel ist vollkommen. Den Ball der Bälle eröffnete die 17jährige Heinemannsche Enkeltochter, Ruth Delius aus Bielefeld mit dem jüngsten Bonner Redakteur Reimar Oltmanns. Der 24jährige beat-gewohnte Bonner stern-Korrespondent übte in den Redaktionsräumen der Dahlmannstraße noch drei Stunden vor Ballbeginn Walzertanzen. Ein wenig schüchtern legten die beiden ihre Runden aufs Parkett, bis andere sich ihrem Beispiel angeschlossen und nach den Klängen der Big Band der Bundeswehr, Leitung Günter Norls, in großer Ballgarderobe über die Tanzfläche drehten. Aus einer gewissen Scheu, unbesonnen gegen die junge Generation zu sein, akzeptierte man das Geschrei und Gekreische des Hits der Humphrie Singers (*1940+2007) im Konzertsaal. Auf der großen Bühne wechselte sich das Tanzorchester des Saarländischen Rundfunks ab. Einer der eifrigsten Tänzer war auch diesmal wieder Ex-Minister Karl Schiller. Wie selbstverständlich blieb es dem ZDF-Sportchef Hanns-Joachim Friedrichs (*1927+1995 ) vorbehalten, Les Humphries hingebungsvoll anzusagen. Es musste schon etwas Hypermodernes sein.

WARTEN AUF DEN KANZLER

Lange sollten Ballbesucher auf Bundeskanzler Willy Brandt warten. Zusammen mit seiner Frau Rut, die ein schlichtes weißes Abendkleid trug, und dem Außenminister-Ehepaar Walter und Mildred Scheel (*1932+1985) ließ sich der Regierungschef von "Bundes-Butler" Martin Jente in die Halle führen. Genugtuung. Des Bundeskanzlers Augen ruhte auf seinen Kritikern; Frau Rut ist und bleibt ein rechter Augentrost. und wer sie beim Tanz in die Arme nehmen durfte. wird die Kriminalbeamten gerne übersehen. Der Bundesratspräsident Hans Filbinger (*1913+2007) machte dem Bundespräsidenten auf der Empore einen Besuch. Frau Ingeborg Filbinger (*1921+2008), Baden-Württembergs Landesmutter erging sich in landwirtschaftlichen Erwägungen. Der Außenminister und Frau Mildred Scheel widerfuhren von der Schauspielerin und Schlagersängerin Margot Hielscher Ermunterung, ob pro oder contra für ein Leben in der Bonner Regierungsvilla Hammerschmidt, erfuhr man nicht.

WILHELMINE LÜBKE (*1885+1981)

Die dicke Limousine, Untertürkheimer Machart, gewann Heinz Uhlich, für den fahrbereiten Ford-Oldtimer von 1924 fand sich kein Gewinner. Viele Male wurde Frau Wilhelmine Lübke, neunundachtzig Jahre alt, ehedem Gattin des einstigen Bundespräsidenten Heinrich Lübke (1959-1969) von Landwirtschaftsminister Josef Ertl (*1925+200o) über die Tanzfläche geschwenkt; es bleibt wirklich zu rühmen: diese
einstige Studienrätin. Sie beherrschte fünf Fremdsprachen perfekt. Einmalig und unvergessen ihre Klugheit, ihre Bescheidenheit.

PERSIFLAGE AUF POLIT-GESELLSCHAFT

Beim dissonanzreichen Klamauk von zehn Kapellen verkaufte Ernst Majonica (*1920+1997) , einstiger Bundestagsabgeordneter, wieder einen seiner lahmen Kennen-Sie-den-Witze. Der CDU-Parteitag falle aus. Warum? Wegen Energiemangels. Einer der Hauptpreise der Tombola war ein Fünfliterkanister mit Superbenzin. Der Presse-Almanach, jedes Jahr eine bibliophile Kostbarkeit, dieses Mal unter dem Schlagwort "Bonnewisten", war kein lyrisches, wohltemperiertes Gedicht, sondern eine handfeste Persiflage auf die Bonner Politgesellschaft, allen voran, noch vor Willy Brandt und Günter Gaus, auf Egon Bahr. In Bonn hat er bereits Unsterblichkeit. Er ist und bliebt mit den kleinen Schritten durch Annäherung das Symbol höchster Verlässlichkeit. - Bonner Regierungsjahre.

Donnerstag, 11. Oktober 1973

Machtkämpfe, Flügelkämpfe, Diadochenkämpfe - SPD high noon in Bonn


























































Partei-Verdruss - Partei-Profil - Partei-Zerrissenheit . SPD-Macht-Kämpfe in der deutschen Nachkriegs-Geschichte der siebziger Jahre. Warum die SPD-Rechte Willy Brandt (*1913+1992) mit Austrittsdrohungen zum Kampf gegen die linken Genossen treiben. Währenddessen das Duell zwischen Willy Brandt und Herbert Wehner (*1906+1990) eskaliert, gnadenlos ausgekämpft wird. Reminiszenzen markanter SPD-Vorgänge der Zeitgeschichte
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stern, Hamburg
13. September und 11. Oktober 1973
von Horst Knape und Reimar Oltmanns

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Der Kanzler war beleidigt. Wütend verließ Willy Brandt (Regierungschef 1969-1974)am vergangenen Wochenende vorzeitig die Sitzung seines Parteivorstandes: "Das ist mir noch nicht passiert. Jetzt reicht's mir aber."
MOSKAU-REISE
Die Linken im SPD-Führungsgremium hatten das Zerwürfnis zwischen Willy Brandt und dem SPD-Fraktionschef Herbert Wehner (1969-1983) benutzt, um ihren bisher unangreifbaren Parteiführer seine erste Niederlage beizubringen. Auf Antrag des rheinland-pfälzischen Landesvorsitzenden Wilhelm Dröscher (*1920+1977) sollte der Moskau-Reisende Herbert Wehner für seinen Ost-Einsatz ausdrücklich vom Parteivorstand gelobt werden. Brandt hingegen versuchte dieses Pro-Wehner-Votum zu verhindern: "Darüber lasse ich nicht abstimmen!" Doch der linke Flügel kuschte nicht. Mit einer Stimme Mehrheit - zwölf gegen elf - setzte er sich gegen die Brandt-Anhänger durch. Zufrieden kommentierte der von Berlin angereiste Senatsdirektor Harry Ristock (*1928+1992) das Ergebnis: "Genossen, jetzt merkt man doch, dass die Parteibasis im Vorstand vertreten ist."
LAU UND FÜHRUNGSSCHWACH
In interner Runde wollten die Spitzengenossen dem Regierungschef klarmachen, dass sei die Kritik teilten, die der Fraktionsvorsitzende in der Sowjetunion an Brandts Führungsschwäche und der lauen Politik der sozialliberalen Koalition geübt hatten. Wilhelm Dröscher: "Der Wehner ist ein Mann mit strategischem Weitblick. Was er da in Moskau getan hat, sind doch wichtige Impulse für uns." Nach außen demonstrierten die Vorstandsmitglieder allerdings noch Einigkeit. Im offiziellen Kommuniqué verschwiegen sie die Kontroverse mit dem Vorsitzenden, weil sie nach den Konflikten mit Jungsozialisten und anderen Partei-Linken befürchten, den Selbstzerstörungsprozess der Sozialdemokratie" (Wohungsbauminister Hans-Jochen Vogel 1972-1974) zu verstärken.
HERBERT WEHNER ADE
Doch Willy Brandt ist jetzt nach der Abfuhr im Parteivorstand zur totalen Konfrontation mit dem Machtstrategen der Bundestagsfraktion entschlossen. Der Bundeskanzler hat sich nach langem Zaudern wie Zögern dazu aufgerafft, seinem alten Weggefährten Herbert Wehner die Zusammenarbeit endgültig aufzukündigen.
FÄKAL- UND SEXUALBEREICH
Die ihm zugetragenen Zitate Wehners aus der Sowjetunion ließen Brandt keine andere Wahl. Im Hotel "Kiew" in Kiew hatte Herbert Wehner den Kanzler zum Teil unflätig beschimpft, bis hin zum Fäkal- und Sexualbereich. Die mildesten politischen Abwandlungen: Brandt sei ein "schlaffer Kanzler", der zwar im Ausland gut ankomme, aber nicht merke, "wie unten alles zusammenbricht". Und auch Brandts Politik der guten Nachbarschaft zum FDP-Vorsitzenden Walter Scheel (1968-1974) mochte Herbert Wehner nicht mitmachen: "Nr 1 und 2, so läuft das nicht."
POLITIK DER STÄRKE
Willy Brandt indes will die von Herbert Wehner geforderte Politik der Stärke gegenüber dem liberalen Partner erst kurz vor der Bundestagswahl 1976 beginnen. Der Kanzler: "Es ist ganz klar, dass wir uns eines Tages deutlich werden abgrenzen müssen, Aber jetzt ist das viel zu früh. Das macht die Koalition schon im nächsten Jahr kaputt." Nach Brandts Ansicht wäre Wehners Konzept für Leute wie den FDP-Taktiker Hans-Dietrich Genscher (Innenminister 1969-1974) nur ein willkommender Anlass, ihrerseits einen Kurs der Entfremdung von den Sozialdemokraten zu steuern. Dies könnte die FDP wieder zur CDU/CSU treiben. - Machtgeplänkel.
OHNE BRANDT - WAHL VERLOREN
Beim Duell mit Herbert Wehner rechnet Willy Brandt auf das Opportunitätsdenken der SPD-Abgeordneten. Vor die Wahl zwischen ihm und dem ruppigen Fraktionschef gestellt, würden sie sich auf die Seite des Mannes stellen, der ihnen ihr politisches Überleben garantiere. Kanzleramts-Staatssekretär Horst Grabert (1972-1974): "Ohne Willy verliert die SPD doch die nächste Wahl."
KLASSENKAMPF
Doch auch Herbert Wehner hat fürs letzte Gefecht vorgesorgt. Klassenkämpferisch kritisierte er den Koalitionskanzler, Brandt betreibe mit den Liberalen eine Politik der gebremsten Reformen auf dem Rücken der Genossen. Die Außenpolitik stagniere, weil sich Walter Scheel (Außenminister 1969-1974) zum Autogrammsammler unter Verträge" entwickelt habe. Auf diese Weise verstand es der Polit-Profi "Onkel Herbert" seine 242-Mann-Fraktion weitgehend für sich zu solidarisieren. Noch unschlüssige Genossen brachte er auf seine Seite, indem er eine fingierte Rücktrittsdrohung in Umlauf setzte. Selbst jene Parlamentarier, die sich ständig über den autoritären Führungsstil Wehners geärgert hatten, entschieden sich daraufhin für ihn. Der Göttinger Jung-Abgeordnete Günter Wichert, 38, (SPD-MdB 1969-1974): "Politisch, vor allem in der Ostpolitik, stehe ich voll hinter Onkel Herbert." Und sein linker Kollege Karl-Heinz Hansen (SPD-MdB 1969-1981, Parteiausschluss) assistiert: "Nach Wehner kommt nichts mehr außer der zweiten Garnitur."
FINALE IN SICHT
Seit jener wohl folgenschweren Vorstandssitzung weiß Willy Brandt , dass es zwischen ihm und dem Fraktionsführer keine Übereinkunft mehr geben wird. Der Machtverfall hat begonnen. Deshalb ist er zum Kampf, zum Überlebenskampf entschlossen. "Unter den Teppich wird das nicht gekehrt."
WILLY, DU MUSST JETZT WAS TUN
Wie sich derlei Szenarien in dieser Verwirr-Spiel-Zeit der Sozialdemokraten ähneln, wie ausnahmslos und atemlos aus Parteifreunden unverblümt Feinde wurden. Und fast immer gingen sie schon direkten Schrittes auf den vermeintlichen Gegner los. Die Getränke - ob in Kaschemmen zu Bonn-Kessenich oder dem erlauchten Kanzlerbungalow waren noch nicht einmal akkurat auf den Tisch gestellt. Da polterten, gifteten wutentbrannt - fernab jeder Contenance - Hans-Jochen Vogel und Helmut Schmidt gegen eine junge SPD-Generation, die sich Jungsozialisten nennt. Eindringlich beschworen die beiden Minister den SPD-Chef Willy Brandt (1964-1987), den radikalen Linken in den eigenen Reihen endlich mundtot zu machen. Ihr Hauptvorwurf: Jusos-Thesen, die "noch links von der DKP angesiedelt sind" (Vogel), würden die SPD-Wähler vergraulen.
SCHEISS WELTPOLITIK
Willy Brandt zauderte und empfahl den Partei-Rechten Geduld und Beharrlichkeit: "Als Regierungschef und Parteivorsitzender sehe ich die Verantwortung fürs Ganze." Brandts Beschwichtigungsversuch brachte die hohen Gäste erst recht in Harnisch. Helmut Schmidt polterte: "Du kümmerst dich nur noch um die Scheiß-Weltpolitik, und ich muss hier schuften. Du musst jetzt endlich was tun, Willy." Und Hans-Jochen Vogel drohte: Wenn "die es so weitertreiben können wie in der Sommerpause, müsse er sein Ministeramt (Wohnungsbauminister 1972-1974) zur Verfügung und seine Parteimitgliedschaft in Frage stellen.
LINKSDRIFT
Der Ex-Oberbürgermeister von München (1960-1972) und Bonner Wohnungsbauminister kämpft seit Wochen gemeinsam mit Gesinnungsfreunden gegen den Vormarsch der bayerischen Jusos und der Linken im Münchner Unterbezirk. Vogel-Freund und Amtsnachfolger Georg Kronawitter (1972-1978 und 1984-1993): "Die benutzen die SPD nur noch als Vehikel für ihre kommunistische Konfliktstrategie." Juso-Feind Vogel ist sicher: "Wenn wir nicht unmissverständlich klarmachen, dass die SPD auf dem Boden des Godesberger Programms (1959-1989) steht, sind wir nicht mehr glaubwürdig." Eine Niederlage der SPD bei den bayerischen Landtagswahlen 1974 sei dann die Quittung für den Linksdrift.
AKTIVER JUSO-KREIS
Für Hans-Jochen Vogel steht fast, dass ein "kleiner, aber aktiver Kreis von Jungsozialisten das Godesberger Programm von 1959 aus den Angeln hebeln will. Er wirft den Partei-Linken vor, sie wolle
o im Widerspruch zum Godesberger Programm a l l e Produktionsmittel vergesellschaften;
o den Staat als "Agentur des Kapitalismus" abqualifizieren und seine Ordnungsfunktionen negieren;
o die freie Willensentscheidung der Abgeordneten abschaffen und sie zu reinen Vollzugsorganen der Parteimitglieder umfunktionieren (imperatives Mandat);
o mit der Strategie ständiger Konflikte (zum Beispiel Unterstützung wilder Streiks) jede Reformpolitik innerhalb der demokratisch-parlamentarischen Spielregeln unmöglich machen.
SCHARFMACHER
Der bayerische Scharfmacher will im Streit mit den Jusos auf keinen Fall einlenken. Vogel zu Brandt: "Wer solche Thesen vertritt, muss aus der Partei rausgeschmissen werden. Die schrecken sonst vor nichts zurück." Um Zeit zu gewinnen, lenkte der Kanzler vom brisanten Thema ab und erzählte - Campari mit Orangensaft schlürfend - von seinem jüngsten Ausflug ins Volk, der Reise nach Norddeutschland. Willy Brandt: "Ich bin in Salzgitter vor rund 10.000 Walzwerker hingetreten, und ich hatte gemischte Gefühle, weil ich nicht wusste, was mich erwarten würde. Aber dann spürte ich bald die Solidartät. Von Juso-Theorien redete niemand."
SÜNDENREGISTER
Mit dieser Bemerkung wollte Brandt sein Misstrauen andeuten, Vogel mache nur deshalb gegen die Jusos Front, um rechtzeitig ein Alibi für eine etwaige Wahlniederlage in Bayern zu haben. Doch damit hatte der SPD-Rechtsaußen gerechnet. Um seine Attacken gegen die Linken zu belegen, überreichte Hans-Jochen Vogel dem Parteichef eine Dokumentation, in der das Sündenregister der Jusos aktenkundig gemacht wird. Vor allem eine Kampfrede des Juso-Ideologen Johano Strasser (1970-1975 stellvertretender Juso-Chef) hatte Vogels Ärger provoziert. Denn der 34jährige Didaktik-Professor an der Berliner Pädagogischen Hochschule hatte seinen Anhängern praktische Anweisungen für die "Problematisierung des kapitalistischen Systems" und die "Umwandlung der Partei" gegeben.
GEWALTLOSIGKEIT
Strassers Vorschlag: Die Jusos sollten nicht "fortwährend Eide auf die Gewaltlosigkeit leisten", sondern lieber dafür sorgen, dass in Bundeswehr, Bundesgrenzschutz und Polizei Leute ausgebildet werden, "die möglicherweise Skrupel haben, auf Arbeiter einzuschlagen und zu schießen". Vogel über die ketzerischen Töne: "Dafür sollte in unserer Partei kein Platz sein." Forsch verlangte der Anführer der Rechts-Riege ein Parteiausschlussverfahren für die "Anhänger solcher marxistisch-leninistischer Theorien".
VOLKSFRONT
Ins Schussfeld des bayerischen SPD-Landeschef ist auch der Juso-Vorsitzende Wolfgang Roth (1972-1974) geraten. Ihm kreidete Vogel an, Roth habe in seiner Rede bei den Ostberliner Weltjugendfestspielen (1973) gegen den Parteiratsbeschluss zur Abgrenzung von Kommunisten verstoßen, für eine Zusammenarbeit mit kommunistischen Parteien plädiert und damit die Volksfront-Theorie der DKP propagiert. Vogel zu Brandt: "Ich bin nicht bereit, dieser Entwicklung tatenlos zuzusehen." Falls der Parteichef nicht eingreife, werde er notfalls mit Helmut Schmidt die Partei-Rechten mobilisieren: "Was dann geschieht, kann noch niemand voraussagen." Der SPD-Chef war beeindruckt: "Schreckliche Sache." Was auf dem Parteitag in Hannover (1973) so gut begonnen habe, läuft nicht mehr" (Brandt).
AUFGEWIEGELT
Aufgewiegelt hatten den Kanzler auch schon seine eigenen Berater. Staatssekretär
Günter Gaus (*1929+2004) und Brandts Ghostwriter Klaus Harpprecht (Redenschreiber 1972-1974) rieten ihm bereits seit Wochen, er solle gegenüber der Partei-Linken Farbe bekennen. Deshalb hatten sie in das Rede-Manuskript für das Weser-Ems-Treffen der SPD Anfang September 1973 einen Absatz eingefügt, der einen "energischen Willy" (Gaus) zeigte: "Unsere Wähler haben uns nicht beauftragt, einen großen Diskutierklub zu schaffen, sondern sie haben uns beauftragt, dieses Land zu regieren. An dieser Aufgabe wird man sich bewähren oder man wird scheitern."
HEISS-SPORNE
Eine Möglichkeit, sich vor der Öffentlichkeit zu bewähren und zugleich die Heißsporne Schmidt und Vogel zufriedenzustellen, sah der Kanzler, als ihn das SPD-Präsidium aufforderte, scharf gegen eine Juso-Presseerklärung zu den spontanen Arbeitsniederlegungen an Rhein und Ruhr Stellung zu nehmen. Die Jungsozialisten hatten die wilden Streiks als "legitime Maßnahmen der Arbeiter" begrüßt und die SPD-Führung aufgefordert, sich auch in den Fällen, in denen die Gewerkschaften nicht mitwirken, "mit aller Deutlichkeit auf die Seite der Arbeiter zu stellen". Der Kanzler nahm die Herausforderung an. Er betrachtete diese Erklärung "als abträglich für die SPD und belastend für die gebotene Solidarität mit den Gewerkschaften".
WARNSCHUSS
Der Warnschuss blieb nicht ohne Wirkung. Die Jusos zuckten zusammen. Sie hatten mit einer so scharfen Reaktion des Kanzlers nicht gerechnet. Zwar versuchte der Juso-Chef nach außen Fassung zu bewahren (Wolfgang Roth: "Wir gehen der Auseinandersetzung gelassen entgegen"), doch zugleich mobilisierte er per Telefon aus einem exquisiten Feinschmecker-Lokal im französischen Colmar seine Gesinnungsfreunde in Partei und Fraktion. Roths Devise: Unter allen Umständen den Sturm von rechts in der Partei zu überstehen, einfach auszusitzen.
JUSO-VERTEIDIGUNG
Auch die Linke in der SPD-Bundestagsfraktion und in den Gewerkschaften reagierten sofort. Angestachelt von den Jung-MdBs Norbert Gansel (1972-1997 ) und Dietrich Sperling (1969-1998) unterschrieben 30 Parlamentarier und zehn Gewerkschaftsfunktionäre eine Resolution zur Verteidigung der Juso-Politik. Der SPD-Linksaußen Jochen Steffen (*1922+1987) dagegen sah bis zuletzt weder die Gefahr für eine Spaltung der Partei noch für eine Ächtung der Linken: "Der Willy hat sicher die Juso-Texte nicht richtig gelesen oder falsch interpretiert bekommen. Das werden wir bald haben." Und die "Kassandra"-Rufe der beiden Minister Schmidt und Vogel wischte Jochen Steffen beiseite: "Die Rechten haben Gottvater Juck-Pulver in den Nacken gestreut, damit er sich mit uns beschäftigen muss. Wir, mein Freund Peter von Oertzen (*1924+2008) und ich, wir werden das zu beseitigen wissen."

Donnerstag, 6. September 1973

Deutsche Männer in Afrika - Entwicklungshilfe und Sex-Triebe. Die teuren Hobby des Herrn Doktor - Alltag in Gabun




























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stern, Hamburg
6. September 1973 /23. März 2009
von Reimar Oltmanns
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Regierungsdirektor Hans Kirchhof vom Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) war zufrieden: "Diese Art von Entwicklungshilfe in armen Länder ist wichtiger als Fabriken zu bauen." Sein Lob galt einem Plan der sozialliberalen Bundesregierung (1969-1982), der die zahnmedizinische Versorgung im zentral-afrikanischen Staat Gabun sicherstellen sollte. Der Staat Gabun liegt an der westlichen Atlantikküste Zentralafrikas, hat 1.424.906 Millionen Einwohner. In einem Land, in dem immerhin 86 Prozent aller Geburten medizinisch betreut werden können, galt es nunmehr der brachliegenden Zahnmedizin zum Durchbruch zu verhelfen - den "Gabunesen in ihre Mäuler zu schauen" (Kirchhof).
ALBERT SCHWEITZER - EIN VORBILD
Dabei ließ sich Hans Kirchhof mit seinen Mannen am Reißbrett im Ministerium und Vorort im Busch von keinem anderen Vorbild leiten als von dem evangelischen Theologen, Philosophen und Arzt Albert Schweitzer (*1875+1965). Er hatte bereits im Jahre 1913 an einem Fluss der afrikanischen Westküste, beispielgebend das Urwaldhospital Lambaréne gegründet. Dieses Image aus früheren Jahren galt es aufzufrischen, nachzueifern, für sich politisch einzuspannen - mit dem "Markting-Produkt" Albert Schweitzer (Friedensnobelpreisträger (1952) im Hintergrund.
GRÖSSTE PLEITE
Doch inzwischen ist das ehrgeizige Prestige-Projekt zur bisher größten Pleite der Entwicklungshilfe von SPD-Minister Erhard Eppler (1968-1974) geworden. In vier Jahren "Aufbauarbeit" sind eine Millionen Mark und Spendengelder verpulvert worden. Statt der vorgesehenen 20 modernen Behandlungsstationen gibt es lediglich drei Zahnkliniken, die mit primitiven Mitteln arbeiten müssen. Die Schuld an dieser Misere trägt der Arzt und Afrika-Experte Dr. Hans-Günter Hilgers, dem das Ministerium zu lange vertraut hatte. Jahrelang gaben sich Epplers Beamte mit frisierten "Erfolgsberichten" aus Gabun zufrieden statt Hilgers Tätigkeit vor Ort zu überprüfen. Erst als Hilgers Kollegen in Gabun, Michael Heinze und Dr. Joachim Gantzer, auspackten, flog "der Schwindel" (Heinze) auf. Der Arzt wurde gefeuert.
EIN ZAHNARZT AUF 30.000 MENSCHEN
Projektleiter Hans-Günter Hilgers hatte sich nur wenig um Gabuns Bevölkerung gekümmert, wo auf 30.000 Menschen nur ein Zahnarzt kommt. In den drei Kliniken wurden durchschnittlich nur drei bis sieben Patienten am Tag verarztet. Und das nur notdürftig, weil es schon an den einfachsten zahnmedizinischen Handwerkszeugen fehlte. Entwicklungshelfer Michael Heinze: "Die Zähne mussten wir bei Taschenlampenlicht ziehen." In vier Jahren wurden auf den drei Stationen lediglich acht Wurzelfüllungen vorgenommen, jedoch 1.236 Zähne gezogen.
SÜSSE LEBEN DES DOKTORS
Dr. Hans-Günter Hilgers zog seinen ärztlichen Pflichten das süße, exotische Leben unter Palmen mit vielen Frauen-Brüsten vor. Für derlei Lebenswandel schwatzte der passionierte Sportflieger den Bonner Bürokraten das Geld für den Kauf einer zweimotorigen Sportmaschine vom Typ "Piper Aztec" ab. Joachim Gantzer: "Hilgers verschwendet die Steuer- und Spendegelder, um seine Begierden, seine Sucht nach Sex zu befriedigen. Das Flugzeug ist Luxus, denn unsere drei Stationen in Libreville (578.000 Einwohner), Lambaréne und Mouila sind mit Linienmaschinen gut zu erreichen." Inzwischen hat auch Erhard Epplers Ministerium eingesehen, dass diese Anschaffung sinnlos war. Seit Dezember 1972 steht das Flugzeug unbenutzt herum.
NEUE AUTOS VERROTTEN
Auch für den Erwerb von Fahrzeugen saß das Geld aus dem Entwicklungshilfe-Etat locker. "Drei Autos und ein Klinomobil stehen auf einen Bauplatz in Libreville und verrotten",spottet Entwicklungshelfer Heinze. Projektleiter Hilgers prahlte dagegen: "Wir werden am Unabhängigkeitstag (17. August 1960 von Frankreich) mit allen Wagen vor dem Präsidenten vorbeidefilieren." Männer-Stolz in Afrika.
VORLIEBE FÜR SCHWARZE FRAUEN
Doch mittlerweile - gerade über Nacht passiert - legt Gabuns Regierung auf deutsche Parade-Begleitung keinen Wert mehr. Sie ist auf den deutschen Entwicklungs-Experten nicht mehr gut zu sprechen. Hilger Vorliebe für schwarze Frauen, sie wie "Frischfleisch zu behandeln und zu vögeln" ( Michael Heintze), hat ihn in Verruf gebracht. Denn drei seiner Lehrmädchen hatten sich einem Protestschreiben an den deutschen Botschafter Otto Wallner beschwert, der Zahnarzt habe sie zur Liebe gezwungen. Beatrice Idela Tieko in einem Brief an Wallner: "Im Dschungel hat er mich mehrere Male vergewaltigt. Er sagte zu mir: Wenn du nicht willig bist, musst du von der Klinik weggehen. Hier machen alle Mädchen die Beine breit, wenn ich das will." Marie-Odette Mounanga: "Er behandelt mich wie eine seelenlose Sklavin. Er will immer nur, dass ich auf die Knie gehe, damit er mich von hinten stossen kann. Dabei zieht er nicht einmal seinen weißen Kittel aus." Dazu Zahnarzt Hans-Günter Hilgers abwehrend : "Alles Verleumdungen, um Geld zu kassieren, weiter nichts."
SEX-TRIPPS AUS DEM REGIERUNGS-CLAN
Gleichwohl schaltete sich mittlerweile Gabuns Regierug ein; ungewöhnlich für derlei Sexual-Vorkommnisse. Doch spätestens als sich Hilgers sich bei seinen manischen Sex-Tripps auch noch unbedacht an das Lehrmädchen Augustina Mboumba, eine Verwandte des Außenministers, heranmachen wollte, verlangte Außenminister Georges Rawiri (*1932+2006) verlangte vom deutschen Botschafter die sofortige Ablösung des Projektleiters. Aufgebracht, beleidigt, in seiner Ehre gekränkt, schleuderte er Botschafter entgegen: "Frauen kann er in Deutschland vergewaltigen, hier bei uns in Gabun niemals." Der Diplomat erwiderte: "Auch in Deutschland geht das nicht mehr ohne weiteres. Da sind bald die Feministinnen an der Macht. Und die schneiden ihm kurz mal den Schwanz ab." Deutsche Regierungs-Gespräche in den siebziger Jahren in Zentral-Afrika.
"WIR SIND DOCH ALLE MÄNNER"
In Wirklichkeit hatte der Diplomat versucht, durch sein vordergründiges Eingeständnis die Affäre herunterzuspielen. Entwicklungshelfer Michael Heinze weiß auch warum. Die siebziger Jahre waren nämlich weltweit noch keine autonome Frauen-Jahre auf dem Weg zu ihrer Würde, Gleichberechtigung, Frauen-Wahrnehmung, Männer-Anstand. "Der Botschafter sagte mir: 'ob in Europa oder in Afrika, nun wir sind doch alle Männer. Und ich möchte wissen, welcher Zahnarzt in Deutschland nicht mit seiner Helferin schläft.' " - Seit dem Jahre 1998 ist der Tatbestand der Vergewaltigung immerhin ein besonders schwerer Fall der sexuellen Nötigung. Hat der Täter (erniedrigende) sexuelle Handlungen an dem Opfer vorgenommen ... ... lautet der Urteilstenor auf Verurteilung wegen Vergewaltigung. Der Strafrahmen sieht (regelmäßig) Freiheitsstrafe von mindestens zwei und höchstens 15 Jahren vor. - Fortschritt.

Donnerstag, 14. Juni 1973

DDR: X. Weltspiele der Jugend - Seifenlauge für den Frieden
























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stern, Hamburg
14. Juni 1973
von Reimar Oltmanns
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Insgesamt 25.600 junge Menschen aus 140 Ländern sollen in der DDR zu den X. Weltfestspielen der Jugend und Studenten "den Ruhm des Vaterlandes im ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat mehren", so hieß die allseitige Losung im ersten deutschen sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat in Vorbereitung zu den X. Weltfestspielen der Jugend und Studenten. Wohl noch niemals in seiner Geschichte in Zeiten der Koexistenz der beiden großen Gesellschaftssysteme, Kapitalismus und Kommunismus zu Beginn der Entspannungs-Ära in den siebziger Jahren wurde den Begegnungen junger Menschen rund um den Erdball mit so viel Interesse, ja Spannung entgegensehen. Die Weltfestspiele der Jugend und Studenten sind regelmäßig veranstaltete internationale Jugendtreffen, die seit 1947 vom Weltbund der demokratischen Jugend (WBDJ) ins Leben gerufen wurden. Im Westen hatten diese Veranstaltungen bis dat nur eine geringe Bedeutung. So waren die teilnehmenden Jugend- und Studentenverbände überwiegend links, oft kommunistisch ausgerichtet. Ausgrenzung.
WOODSTOCK DES OSTENS
Für das "Woodstock des Ostens", werden Ostberliner Schulen und Turnhallen mit Schrubber und Seifenlauge getrimmt. Brigaden der Freien Deutschen Jugend (FDJ) bringen all verfügbaren Räume für Massenunterkünfte auf Hochglanz, getreu ihrem Slogan "Jedes Bett ist Politik und ein Stück für unseren Sieg". Studenten der Humboldt-Universität renovieren das Stadion an der Chausseestraße (früher: "Walter-Ulbricht-Stadion". Junge Pioniere klappern die Haushalte nach Spenden ab.
SOLIDARITÄT UND RUHM
Denn am 28. Juli 1973 beginnen in der DDR-Hauptstadt die "X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten". Weit über hunderttausend DDR-Bürger sollen eine Woche lang "für die anti-imperialistische Solidarität, Frieden und Freundschaft demonstrieren", so der Sekretär der Ständigen Vorbereitungskommission, der französische Kommunist Dominique Vidalle. Aufbruchstimmung. Folglich putzt und poliert, renoviert und aktiviert sich die Republik; Nachhaltigkeit ist gefragt. Schließlich stehe "ein weit in die Zukunft wirkendes Ereignis" (SED-Losung) bevor, eine "große Manifestation", ein "Festival des Glücks - Freundschaft uns vereint, Festival des Kampfes - schlagt den Klassenfeind" und das in der schönsten DDR, die es ja gab. Vorbeugend griff das Minsterium die Staatssicherheit schon vor den Aufmärschen der Chöre und Singegruppen zu. Exakt 23.532 kritische Geister und "kriminell gefährdete Personen" beorderte die Volkspolizei profilaktisch in ihre Verhörräume - zum "Gespräch zweck Verhinderung einer Einreise in die Hauptstadt der DDR, Berlin". Einige hundert nahmen sie sodann den Personalausweis weg; in der DDR gleichbedeutend mit Ortsarrest. Ihr "Vergehen": Auf dem Westfestpielen gedachten sie zu diskutieren, zu feiern,zu lieben, ihren "Woodstock-Songs" vom Aufbruch in eine neue Welt zum Durchbruch zu verhelfen. Hoffnungen.
SAUBERKEITSWAHN
In der Festspielwoche erreichte der Kontrollwahn seinen Höhepunkt. Wer die "ununterbroche Sauberkeit auf Straßen und Plätzen" (Erich Honecker) bedrohte, wurde kurzerhand verhaftet und im Schnellverfahren abgeurteilt. Unversehens fanden sich 604 Menschen aufgrund ihrer "Aktivitäten" in psychiatrischen Kliniken wieder. Linientreu vermeldete die Hauptabteilung Kriminalpolizei, dank ihrer "hohen und ständig steigenden Anstrengungen" sei es gelungen, allein in Berlin und dem märkischen Umland 2.072 "Asoziale" festzunehmen. Als asozial wurden schon jene DDR-Bürger eingestuft, die nicht regelmäßig im Arbeiter- und Bauernstaat arbeiten wollten.
MASSENSPEKTAKEL
Dabei sollte ein nach strengen Ritualen folgendes Massen-Spektakel inszeniert werden, das "den Ruhm des Vaterlandes mehrt" (Schwimm-Olympiasieger Roland Matthes, vier Goldmedallien, 21 Weltrekorde); immerhin laufen die systematischen Vorbereitungszeiten schon nahezu seit zwei Jahren. Im Ost-Berliner Rathaus gab SED-Chef Erich Honecker (*1912+1994) die Devise aus: "Die Jugend hat die Verpflichtung, den gesamten Reichtum der marxistischen-leninistischen Lehre in sich aufzunehmen und zu verarbeiten", da "die friedliche Koexistenz im stärkeren Maße zur Begegnung von Menschen aus verschiedenen Weltanschauungen führt".
NACHILFE-UNTERRICHT
Damit die DDR-Jugend für solche Begegnungen ideologisch gerüstet ist, hat Festival-Organisator Erich Rau politischen Nachhilfe-Unterricht angeordnet. Ziel der Schulungsarbeit ist, so das SED-Zentralorgan Neues Deutschland , "die Fähigkeit des Diskutierens und Argumentierens bei den Schülern zu festigen". Denn bei einer Umfrage unter Jugendlichen hatte die Partei mangelnde Linientreue und bürgerlich-westliche Gedanken festgestellt. Heinz Fischer, Mitarbeiter der Abteilung Volksbildung im Zentralkomitee der SED, forderte deshalb die Staatsbürgerkunde-Lehrer auf, "den Unterricht mit hoher Wissenschaftlichkeit und Parteilichkeit und in enger Verbindung mit dem Leben" zu gestalten. Die SED verteilte Argumentationshilfen für den politischen Schul-Unterricht. Themen: "Warum ist der Imperialismus gesetzmäßig zum Untergang verurteilt?" (10. Klasse), "Was heißt in unserer heutigen Zeit, konsequenter Materialist zu sein?" (11. Klasse), "Warum ist eine ständige offensive Auseinandersetzung auf ideologischen Gebiet mit dem Imperialismus notwendig?" (12. Klasse).
ÜBERALL WIE NIRGENDS - "SICHERHEIT"
Doch die DDR-Spitze fürchtet nicht nur politische Auseinandersetzungen. Kopfzerbrechen bereitet ihr auch das Problem der Sicherheit ihrer Gäste aus 140 Ländern. Nach dem Vier-Mächte-Abkommen über Berlin aus dem Jahre 1971 kann die DDR nicht verhindern, dass Extremisten von rechts und links - von Exilkroaten über Ustascha-Partisanen und palästinensische Kommando-Unternehmen bis hin zur westdeutschen KPD/ML - mit einer einfachen Tageserlaubnis über Westberlin in ihre Hauptstadt einreisen. Deshalb tüftelt das Ministerium für Staatssicherheit zur Zeit Pläne aus, wie militante Störaktionen während des Festivals verhindert werden können. Immerhin: 27.000 Stasi-Mitarbeiter und 24.100 Volkspolizisten patrouillieren auf den Straßen der DDR-Hauptstadt, um möglichst diskret Land wie Leute der Festival-Teilnehmer auszuspionieren. Man müsse, konstatierte der Minister für Staatssicherheit Erich Mielke (*1907+2000) "sich als Tschekist diesmal wie die drei Affen verhalten und trotzdem sehen, hören und richtig und konsequent handeln". Folgerichtig wird das Gebäude der Ständigen Kommission für Weltfestspiele in der Maurerstraße 38-40 nicht nur bewacht, sondern nachts werden sogar alle Räume mit Plomben versiegelt.
NVA-SPEZIAL-EINHEITEN
Spezialeinheiten der Nationalen Volksarmee (NVA) erhalten seit Monaten eine besondere Ausbildung. Sie sollen in Zivil die Delegationen aus aller Welt bewachen. Denn nichts wäre der DDR unangenehmer, als gewalttätige Auseinandersetzungen auf ihrem Territorium. Ein SED-Funktionär. "Wir wollen hier keine Neuauflage der Ereignisse von Fürstenfeldbruck." (am 6. September 1972 fanden bei einer gescheiterten Geiselbefreiung der Olympischen Sommerspiele auf dem dortigen Militärflughafen 15 Menschen den Tod ).
REISE-BESCHRÄNKUNG
Allein schon aus diesen politischen Gründen will Chef-Koordinator Erich Rau verhindern, dass die ausländischen Delegationen während des Festivals Westberlin besuchen. Erich Rau, der vom SED-Chef Erich Honecker gegenüber allen DDR-Behörden ausgestattet wurde: "Wir gehen davon aus, dass die Gruppen in die DDR einreisen und sich die ganze Zeit hier aufhalten." In Ostberlin wurde sogar die Zahl der Diskotheken von acht auf 23 erhöht. damit die Teilnehmer nicht auf die Idee kommen, das Nachtleben in Westberlin zu genießen. Die 125 Meter breite Karl-Marx-Allee soll zum Festplatz werden.
INTERNATIONALE AUFWERTUNG
Da es in der DDR bei diesem Festival in erster Linie um weitere internationale Aufwertung geht, betonen die Mitglieder des Organisationskomitess stets die politische Vielseitigkeit der Veranstaltungen. Dominique Vidalle: "Dies ist kein kommunistisches Festival. Alle Weltanschauungen kommen hier zu Wort." Dieter Lasse, Sekretär der bundesdeutschen Delegation, fühlt sich dennoch benachteiligt. Die Ostberline haben der Bundesrepublik nur 800 Plätze zugestanden. Allein das kleine Kuba schickt 500 Teilnehmer, freillich Kommunisten.
LASTWAGEN MIT PAPIER
Derlei Praktiken wollen die Jungsozialisten listig unterlaufen. Sie nehmen zwei Lastwagen Papier, eine eigens für die Festspiele geschriebene Broschüre und sogar Vervielfältigungsmaschinen für ihre politische Arbeit mit nach Ostberlin. Schließlich galt es auch auf Kurioses spontan reagieren zu können. So hatte etwa die DDR-Regieurng den Hauptveranstaltungsort, das Walter-Ulbricht-Stadion kurzerhand in Stadion der Weltjugend umbenannt. Walter Ulbricht ( *1893+1973; ehemals Staatsratsvorsitzender der DDR) starb während der X. Weltfestspiele im Gästehaus der Regierung der DDR am Döllnsee. Ulbrichts Urne erhielt später einen Ehrenplatz in der Gedenkstätte der Sozialisten im Zentralfriedhof Friedrichsfelde. Sein Name wurde schon kurz nach seinem Tode weitgehend aus der DDR-Geschichtsschreibung getilgt.


Donnerstag, 7. Juni 1973

Aus deutschen Landen der Zeitgeschichte - Geheim-Mission in Ostberlin



Im Jahre 1973: SPD-Fraktionschef Herbert Wehner, Stieftochter Greta Burmester, Erich Honecker und FDP-Fraktionsvorsitzender Wolfgang Mischnick im Landhaus des SED-Chefs . - "Ich habe mit einem gestandenen Mann gesprochen" (Herbert Wehner)

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stern, Hamburg
07. Juni 1973
von Reimar Oltmanns
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Von geheimer Mission aus Ost-Berlin zurückgekehrt, wurde Herbert Wehner (*1906+1990) redselig. Der SPD-Chefstratege (Fraktionsvorsitzender im Bundestag, 1969-1983) bat die Genossen im Parteivorstand um "Verzeihung", weil er ihnen seine Stippvisite bei SED-Chef Erich Honecker (*1912+1994) verschwiegen hatte. Dann verlas er eine dreiseitige Erklärung über die politischen Gespräche mit dem mächtigsten Mann der DDR. Die Lesestunde stelle die Genossen im Westen zufrieden. Sie gingen zur Tagesordnung über.
GEHEIMNIS-KRÄMEREI
Noch wenige Tage zuvor hatten sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete ihren Unmut über die Geheimniskrämerei des SPD-Fraktiosvorsitzenden gezeigt. Am späten Dienstagabend des 22. Mai 1973 war Herbert Wehner mit dem Auto nach Ost-Berlin aufgebrochen. Bei Tagesanbruch hatte er am Mittwochmorgen mit seiner Stieftochter Greta Burmester (seit 1983 verheiratete Wehner) den Kontrollpunkt Herleshausen an der DDR-Grenze passiert. In seinen Reiseplan waren nur Bundeskanzler Willy Brandt (1969-1984; *1913+1992) und die Minister Egon Bahr, Walter Scheel und Helmut Schmidt eingeweiht. - Deutsch-deutsche Geheimdiplomatie. Herbert Wehner hatte sich nicht einmal seinem Memoiren-Autor Reinhard Appel (Chefredakteur des ZDF, 1976-1988 ) anvertraut, der ihn noch am Dienstagabend in seinem Reihenhaus in Bad-Godesberg besucht hatte. Der SPD-Spitzenpolitiker hatte sich zu einer strengen Geheimhaltung entschlossen, um die Konsultationen mit SED-Chef Erich Honecker (1971-1989) durch spektakuläre Presseberichte stören zu lassen.
GRUND-VERTRAG "MIT LEBEN ZU FÜLLEN"
Der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion und sein liberaler Amtskollege Wolfgang Mischnick (*1921+2002) waren kurz vor dem Staats-Besuch in Bonn des sowjetischen KP-Chefs Leonid Breschnew (*1906+1982: Parteichef der KPdSU von 1964 bis 1982) von der SED-Spitze und der Liberal-Demokratischen Partei (LDPD) zum politischen Meinungsaustausch in die DDR-Metropole eingeladen worden. Die Koalitionsbrüder verabredeten eine konzertierte Aktion, "um den Grundlagen-Verlag mit Leben zu füllen" (Mischnick). Zur Erinnerung: Als Grundlagenvertrag wurde das Abkommen zwischen der BRD und DDR bezeichnet, das die Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten völkerrechtlich regelt. Er wurde am 21. Dezember 1972 geschlossen , am 11. Mai 1973 ratifiziert und trat am 21. Juni 1973 in Kraft.
BRD-DDR
In Artikel 1 bis 3 vereinbarten beide Regierungen gutnachbarschaftliche Beziehungen. Sie verpflichteten sich zudem, "bei der Beilegung von Streitigkeiten auf Gewalt zu verzichten und die gegenseitigen Grenzen zu achten". Vor der Unterzeichnung der Verträge übergab der Unterhändler von Bundeskanzler Willy Brandt (1969-1974), der Bundesminister für besondere Aufgaben Egon Bahr (1972-1974 ) der Ost-Berliner Staatsführung den "Brief zur deutschen Einheit, in dem festgestellt wird, dass das Abkommen "nicht im Widerspruch zu dem politischen Ziel der Bundesrepublik Deutschland steht, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt."- Wandel durch Annäherung.
BESUCH DER ALTEN DAME
Als Termin notierten die Bonner Fraktionschefs die letzte Mai-Woche, in der Wolfgang Mischnick ohnehin in die DDR fahren wollte, um seine schwerkranke Mutter in Dresden zu besuchen. Bestärkt wurden die beiden sozialliberalen Spitzenpolitiker in ihrer Absicht, mit Erich Honecker über die Verbesserung der innerdeutschen Beziehungen zu reden, durch die Verfassungsklage des Landes Bayern gegen den BRD-DDR-Grundvertrag.
VERFASSUNGS-KLAGE
Am 23. Mai 1973 legte die Bayerische Staatsregierung Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht mit dem Ziel ein, das Abkommen als mit dem Grundgesetz nicht vereinbar zu erklären. In der Begründung bemängelte das Land Bayern, dass der Vertrag das grundgesetzliche Wiedervereinigungsgebot verletze und für Berlin nur eingeschränkt Geltung habe. Außerdem würde die Fürsorgepflicht gegenüber Deutschen der Demokratischen Republik verletzt, da keine Intervention zu ihrem Schutz mehr stattfinden könnten. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe wies am 31. Juli 1973 die CSU-Klage als nicht begründet ab. Zugleich betonten die Bundesrichter, dass das Wiedervereinigungsgebot nach wie vor alle Verfassungsorgane (u.a. Bundesregierung, Bundestag, Bundesrat) binde. Nur der Weg zur Wiedervereinigung bleibe den politischen Akteuren überlassen.
POLITISCH OPPORTUN
Um sich politisch abzusichern, fragte Herbert Wehner 48 Stunden vor der Abfahrt den Bundeskanzler Willy Brandt, ob unter diesen Umständen der Trip nach Ost-Berlin "opportun" sein. Brandt war einverstanden, denn er hielt es für zweckmäßig, Erich Honecker in einem persönlichen Gespräch über die neue Situation in der Bundesrepublik zu informieren.
ALTE KAMPFGEFÄHRTEN
Auf der Terrasse seines Landhauses in der Schorfheide bei Berlin philosophierten dann am Himmelfahrtstag der SED-Chef und seine bundesdeutschen Gäste über die Bayern-Klage und den UNO-Beitritt der beiden deutschen Staaten (18. September 1973). Dann wurde das Gespräch persönlich, sehr persönlich. Erich Honecker und Herbert Wehner, die sich noch aus den dreißiger Jahren kennen, tauschten bittere Erfahrungen aus: Beide hatten als Polit-Häftlinge im Zuchthaus gesessen.
HÄFTLINGE VON EINST
Erich Honecker wurde im Jahre 1935 von der Gestapo verhaftet und zunächst bis 1937 im Berliner Gefängnis Moabit in Untersuchungshaft gehalten; sodann zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Er saß bis zum 6. März 1945 in der Anstalt Brandenburg-Görden ein. KPD-Funktionär,der Herbert Wehner seit 1927 war, der im Jahre 1935 vor Verfolgung nach Moskau emigrieren musste, wurde im Jahre 1942 in Stockholm verhaftet und wegen Spionage zunächst zu einem Jahr Gefängnis, dann im Berufungsverfahren zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt. Während seiner Internierung vollzog Herbert Wehner seinen Bruch mit dem Kommunismus. Herbert Wehner über den mächtigsten Mann der DDR: "Hätten die Nazis damals gewusst, welches Kaliber der hat, hätte er das Zuchthaus nicht überlebt."
ERLEICHTERUNGEN NUR, WENN ... ...
Als die Herren auf den Juristen-Streit um den Grundlagen-Vertrag zu sprechen kamen, zeigte sich Erich Honecker zunächst verständnisvoll. Der SED-Chef: "Das ist eine innere Angelegenheit der BRD." Dann ließ er einen Wermutstropfen ins Verständigungsglas fallen: Ohne Inkrafttreten des Grundlagen-Vertrages werde es keine menschlichen Erleichterungen geben. Der von den SED-Genossen bis vor kurzem befehdete Ex-Kommunist Herbert Wehner ist nach seiner DDR-Reise überzeugt, dass mit dem Grundlagen-Vertrag eine neue Ära zwischen den beiden Deutschlands beginnt. Wehner zu Parteifreunden: "Ich habe mit einem gestandenen Mann gesprochen, auf den man sich verlassen kann."
SACHLICHE BERICHTE
Und Erich Honecker gar sah sich veranlasst, während der Gespräche die "sachliche Berichterstattung" des ARD-Korrespondenten Ernst Dieter Lueg (*1930+2000) zu loben. Der Fernseh-Journalist hatte einen Beitrag über Land und Leute aus Dresden übermittelt. Wehner reagierte sofort und schlug dem Gastgeber vor: "Da kann für Ihren Karl-Eduard von Schnitzler (*1918+2001) ja künftig der Lueg im DDR-Fernsehen die Kommentare sprechen."