Donnerstag, 27. Januar 1972

In Hannover an der Leine: Jüngste OB aller Zeiten, der alle Rekorde schlägt und das ein Leben lang - Herbert Schmalstieg






















Mit 28 Jahren wurde er zum jüngsten Stadt-oberhaupt einer bundes-deutschen Metropole gewählt. 34 Jahre sind kein Tag. Solange be-hauptete er es an der Spitze des Rates, sieben Mal wieder gewählt, keine Ratssitzung ver-passt, mit immer neuen "Marketing-Ideen" am Image seiner Stadt poliert - und das über drei Jahrzehnte. Ein deutscher Mann aus Bieder-sinn, Fleiß und Verlässlichkeit. Eine SPD-Parteikarriere mit viel Orden, Schützenfesten, Stallgeruch und Aufmerksamkeit für kleine Leute - aber ohne die sonst übliche Ernstfall-Rhetorik. Skizzen



Frankfurter Rundschau
vom 27. Januar 1972
von Reimar Oltmanns

Als der hannoversche Parteifreund Gerhard Schröder (Bundeskanzler 1998-2005) noch im Jura-Examen steckte und seine zweite Ehefrau, damals Anne Schröder II., des Abends zum "Pizza holen" schickte - genau in dieser Zeit begann die politische Laufbahn des Herbert Schmalstieg (1972-2006 ) Als Gerhard Schröders vierte Ehefrau Doris Schröder-Köpf IV. nach der Abwahl ihrer Mannes den Wohnungsumzug ins großbürgerliche Villenmilieu vorbereitete - da war Herbert Schmalstieg immer noch im Amt.

ZUM SPRACHTHERAPEUTEN

Wir lernten uns im Jahre 1972 in der Sparkasse kennen, genauer gesagt in der Werbeabteilung, wo er Farban-zeigen in ihrer Druckerschärfe zu begutachten hatte. Er stellte sich nuschelnd als "Herbie" vor und kramte gleich - atemlos wie er war - in der untersten Schreib-tischschublade nach SPD-Beitragsmarken und Partei-wimpeln. Damals galt seine Wahl zum jüngsten Ober-bürgermeister aller bundesdeutschen Großstädte auch noch wenige Wochen vor der Abstimmung als nicht gesichert. Und manche Genossen stimmten abends nach ihren Parteiversammlungen auf dem Nachhauseweg verulkend und Bier beseelt in Sachen Herbert Schmal-stieg ein Lied aus den zwanziger Jahren an: "In Han-nover an der Leine, Rote Reihe Nummer 8, wohnt der Massenmörder Fritz Harmann, der die Mädchen hat umgebracht"; eine süffige Hannover-Hymne aus dem 19. Jahrhundert, ein Ohrwurm sozusagen. Aufbruchstimmung.

Als ich den 28jährigen Schmalstieg so reden hörte, Zukunftsskizzen, über Partei, Posten und Politik, dachte ich, dieser junge Jusos gehört nicht an die Spitze des Rathauses einer 520.000-Einwohner-Stadt, dieser Mann gehört zu allererst einmal zum Sprachthera-peuten und vielleicht ein bisschen mehr.

Das sagte auch sein Gegenspieler, der 56jährige IG-Metall-Bevollmächtige Albert Kallweit, jedem unaufge-fordert, der es nur hören wollte. Zwar hatte sich die SPD-Delegiertenkonferenz des 12.000 Mitglieder starken Ortsvereins in Hannover in einer Kampfabstimmung bereits vor einem halben Jahre eindeutig für den 28-jährigen Sparkassen-Werbepromotor Schmalstieg ausgesprochen, doch Albert Kallweit konnte und wollte sich als hochkarätiger Genossen aus dem Kadergefüge mit seiner erlittenen Wahlniederlage nicht abfinden. Wusste er doch auch den scheidenden Oberbürger-meister August Holweg (*1905+1989; OB 1956-1972) ) beherzt an seiner Seite.

MACHTKÄMPFE - ÄMTER-KRIEG

Der Wahl des jüngsten Oberbürgermeister der Bundes-republik waren erbittere Diadochenkämpfe inklusive Parteiintrigen vorausgegangen, als ginge es um Sein oder Nichtsein. Polarisierungen eben, wie sie SPD-Provinzen bislang noch nicht erlebt hatten; wilde Gerüchte wurden durch Gassen und Säle gejagt. Um-bruchzeiten, Ungewissheiten. Man gab sich nicht mal mehr zur Begrüßung die Hände, beim tête-à-tête der Genossen aus dem anderen Lager wurde eilfertig weggeschaut; jede Gesinnung bevölkerte zum Bier-trinken ihre höchst eigene Kneipe; Parteifreunde in jenen Jahren, die allenfalls auf Konventen "Brüder zur Sonne, zur Freizeit" einträchtig sangen - vor laufenden Fernsehkameras versteht sich. In den internen Abläufen herrschte Krieg - Ämterkrieg.

Bundesminister Egon Franke (*1913+1995 ) der stramme rechte Kanalarbeiter, war gerade in seiner Hochburg des Bezirks Hannover vom unnahbar wirkenden Linkstheoretiker, dem niedersächsischen Kultusminister Peter von Oertzen (*1924+2008 ), Knall auf Fall entmachtet worden. So stand auch der Name Schmalstieg als Angst einflößendes Synonym für den linksorientierten, menschlich erkalteten Generationen-wechsel, Wertewandel in diesem Land.

VERSUCHSBALLON - EINTAGSFLIEGE

Der bieder wirkende Kontrahent Albert Kallweit, durch Missbehagen seiner Rathauskollegen bestärkt, witterte plötzlich Morgenluft, gab gemeinsam mit seinem Frak-tionschef Walter Heinemann zu verstehen, falls der links-lastige "Juso Herbie" im ersten Wahlkampf nicht gewählt werde, müsse erneut in die "Personaldiskus-sion" eingestiegen werden. Mit anderen Worten: Schmal-stieg muss weg. CDU-Oberbürgermeister-Kandidat Hans Günther Metzger frohlockte gar über das ausge-rechnet explizit in der Öffentlichkeit ausgetragene Macht-Gezerre: Er, CDU-Metzger, werde notfalls aus Gründen der "Staatsräson" für seinen Konkurrenten, den Sozial-demokraten Albert Kallweit, votierten. Der Sozialismus im Rathaus müsse verhindert werden. Ein Jusos sei aber wohl mehr oder weniger ein Versuchs-ballon. Schmalstieg - eine Eintagsfliege in Hannover an der Leine.

Zwar hatte sich die SPD-Delegierten-Konferenz mit einem klaren Votum für den Jungsozialisten Schmal-stieg entschieden, doch was besagte das schon, wenn sich die SPD-Ratsfraktion nur murrend und knapp diesem Votum fügte. Von den 32 Ratsmitgliedern stimmten nur 14 für Herbert Schmalstieg. Zur Mehrheit reichte das nur, weil sieben Ratsmitglieder erst gar nicht erschienen waren. - Zitterpartie.

VERDRIESSLICHE TAGE

Es gab Momente, Tage, vielleicht auch Wochen - wollte Herbert Schmalstieg "alles sausen lassen". Krisen. In einer gemeinsamen Sitzung mit dem SPD-Ortsverein und der Rathaus-Fraktion sollte dem Ämter-Gescha-chere ein Ende bereit werden. Ausgerechnet in einer Epoche, in der Bundeskanzler Willy Brandt (1969-1974; *1913+1992) "mehr Demokratie wagen" wollte, ver-schanzte sich Willy-Jünger "Herbie" in seinem Spar-Kassen-Office. Er hatte sich eingeigelt, haderte mit sich und der Welt, ging nicht einmal ans Telefon. Partei-Sekretärin Inge Kollmar: "Herbie redete mit nieman-den, nippte an der Tee-Tasse, kaute Fingernägel." - Depressionen. Verzagtheiten. Bonn, genauer gesagt, die SPD-Zentrale sah Handlungsbedarf. Der parlamen-arische Staatssekretär im Arbeitsministerium Helmut Rohde reiste eigens als Vermittler an. Fehlanzeige. Erst dem damaligen SPD-Fraktionschef Helmut Kasimier im Niedersächsischen Landtag (1967-1974) sollte es gelingen, seinen Freund Herbert zum Schützenfest - dem größten der Welt - zu locken. Dort hockten beide im Zelt, kippten wie eh und je die "Lüttje Lage", in sich hinein ("Prost, Prost, meine Herren, und lasst uns einen verlöten, vielleicht sind wir morgen schon flöten"); eben ein Gemisch aus Weizenbier und Korn. "Herbie" indes war wieder da. - Hannovers Schützen-Aufmärsche als Therapie-Ersatz. Schmalstieg sprach mit den Genossen, seinen "Pareifreunden" wieder; zwar maulend, aber er redete, immerhin. Er sei doch ein "Mann der Partei", ein Mann mit SPD-Stallgeruch. Mit ihm trete kein Besser-wisser an, sondern ein Parteisoldat, der Mehrheitsbe-schlüsse zu beachten wisse. - Ergebenheitsreferenzen. Aufatmen.

RICHTLINIEN DER POLITIK

Seither hat Herbert Schmalstieg kein Schützenfest ausgelassen, allesamt sie als Oberbürgermeister bis ins Jahr 2006 eröffnet. Nach zähem Kampf hat es der 28jährige Parteisoldat geschafft, jüngster Oberbürger-meister einer Großstadt der Bundesrepublik nennen zu dürfen. Als er 1972 gewählt wurde, war die städtische Amtsführung noch zweigeteilt. Ein Oberstadtdirektor lenkte die Verwaltung. Nach der Niedersächsichen Gemeindeordnung bestimmte nicht der Oberbürger-meister "die Richtlinien der Politik". Das machte letzt-endlich die Mehrheits-Fraktion. Für Schmalstieg bedeu-tete das: bisher offenen Auseinandersetzungen sollten hinter den Kulissen ihre Fortsetzung finden. Hecken-schützen. Erst durch die Änderung des Kommunalwahl-rechts im Jahre 1996 wurde der einst gescholtene Juso direkt, gleichsam als Chef der Verwaltung gewählt; mithin sieben Mal ohne Unterlass. - In Deutschland bisher beispiellos.

PHÄNOMEN SCHMALSTIEG

Dabei war seine Wahl bei aller Aufgeregtheit, aller Kulissenkämpfe in Hannover keine Sensation. Mit ihm stürmten weder Juso-Rebellen das Rathaus noch entfachte das "Herbert Votum" erneut ideologische Redeschlachten zwischen links und rechts. Vielmehr vermittelte Schmalstieg den Menschen da draußen im Großraum Hannover - aber auch seinen Sozialdemokra-ten nachhaltig ein Gefühl, dass er sie ernst nehme . Er konnte zuhören, stellte sich Problemen als seien es seine ur-eigensten Zerreißproben. Alltagsgeschichten, Vor-stadt-Geschichten, Problemfälle, die nicht mal im Lokal-teil der Zeitungen Erwähnung fanden und auch nicht sollten. Schmalstieg war da, er war die Rampen-sau, ein Umarmer, ein Händeschüttler. Bürgernähe, Basisarbeit. Kärrnerarbeit. Das will schon etwas heißen in Jahren des Parteienverdrusses, Vertrauensverlustes; inhaltlicher Entleerung bis hin zur Unkenntlichkeit oder auch der allseits TV-genormter Austauschbarkeiten.

BIEDERE ZUVERLÄSSIGKEIT

Da kam nämlich einer an die Spitze, der das besaß, was vielerorts in Zeiten hyper-moderner Bedeutungsträger abhanden gekommen ist: bieder wirkende Zuverlässig-keit. Schmalstieg, mit spärlichem Haarkranz und feuchten Fingern, besitzt ein soziales Kapital, das mit keiner Marketingstrategie zu kaufen ist. Viel Zeit für Menschen, Alltagspräsenz, Händeschütteln von Oma und Opa, in Kleingärtnervereinen, bei goldenen Hoch-zeiten - gelebte Menschlichkeit. Bescheidenheit statt Kalendersprüche à la Schröder und den Schröder-Festivals an der Leine mit viel Puder und Prominenz, Politik als Showeffekt in Theatern und sonstigen hell ausgeleuchteten Sälen in natürlich obligaten Brioni-Maßanzügen. Auf Bürgerversammlungen duzen Schmalstieg alle; ob jung oder alt, Grüne gar CDU-Mitglieder. Das war und ist ihr "Herbert". Verständlich, dass er bei seinem letzten Wahlkampfplakat auf den Zusatz "SPD" verzichtete - "Der Hannoveraner" trat da eben an. Sieben mal kandidiert, sieben Mal gewon-nen. Und das ausgerechnet in einer Metropole , die eher der "sauber feinen, wenn auch nüchternen Kleinstadt, voll bürgerlicher Tüchtigkeit" glich (Theodor Lessing, deutsch-jüdischer Philosoph, *1872 in Hannover geboren und 1933 in Marienbad ermordet).

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Postscriptum: Zu Zeiten Herbert Schmalstiegs als Oberbürgermeister bestand Hannover zu 50 Prozent aus Grün- und Erholungsflächen. In der Schmalstieg-Ära schaffte es Hannover, sein Nahverkehrssystem auszubauen, so dass nunmehr kaum noch Staus auf den Straßen zu verzeichnen sind. In der Schmalstieg-Ära war Hannover Weltausstellungs-Metropole, Austragungsort der Fußball-Weltmeisterschaft 2007 - ist eine bedeutende Messe-Stadt geblieben. Er schuf neue Freizeitheime und Betreuungseinrichtungen, etablierte kritische Bürgerbüros für Stadtentwick-lungen.

Zu Schmalstiegs gelebten Grundsätzen zählten Toleranz, Geschichtsbewusstsein und Solidarität. Schon im Jahre 1973, als in Chile sich das Militär an die Macht putschte, begrüßte er auf dem Flughafen Hannover-Langenhagen persönlich die ersten Flüchtlinge. Folgerichtig war es Schmalstieg, der sich für die in der Türkei verfolgten Kurden einsetzte, ihnen bei Not zeitweilig eine Heimstatt bot. Schmalstieg initiierte aus gutem Grund eine Partnerschaft mit Hiroshima. Der Oberbürgermeister war noch vor den Grünen gegen atomare Waffen und die Nutzung der Kernenergie. Er schuf eine "Woche der Brüderlichkeit", gründete die "Hanna-Arendt-Tage". Es war Schmalstieg, der in lutherischen Kirchen auf Kanzeln stieg. Dort sprach er gegen Rassismus, Diskriminierung von Minderheiten, gegen den Sozialabbau, gegen das dominante neoliberale Profit-Denken dieser Epoche aus.