Freitag, 17. September 2010

Fremd im eigenen Land - Frankreich









































































Betreuerin Muriel Merc
ier aus Lyon kümmert sich um "Immigrés" in Abschiebehaft. Nach 24 Stunden werden 80 Prozent aller Asylanträge abschlägig beschieden. Ihre Aufgabe ist es, diese "vogelfreien Existenzen" in angelegten Handschellen ins Flugzeug zu verfrachten. Frankreich ist für die CIMADE-Helferin "inneres Ausland" geworden.


Wochenzeitung FREITAG, Berlin
vom 9. Juli 1993 / 17. September 2010
von Reimar Oltmanns

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Das Gesicht des Fremden


Was uns an den Zügen des
Fremden in Bann zieht, spricht
uns an stößt uns zurück,
beides zugleich: "Ich bin
zumindest genauso einzigartig
und daher liebe ich ihn", sagt der
Beobachter. "Aber ich
ziehe meine Einzigartigkeit vor
und daher töte ich ihn", kann er
weiter folgen. Vom Herzschlag
zum Faustschlag - das Gesicht
des Fremden zwingt uns, die
verborgene Art, wie wir die Welt
betrachten, ... offenzulegen."

Julia Kristeva in
"Fremde sind wir uns selbst",
Edition Suhrkamp, 1990

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Schon die äußeren Merkmale des Arbeitsplatzes von Muriel Mercier sagen mehr über die innere Gereiztheit des Einwanderungslandes Frankreich mit seinen ausländischen Neuankömmlingen aus, als es so manche wohlfeile Formulierung aus dem Pariser Politik-Milieu erahnen lässt. Das massive Eingangsportal in der rue Diderot in Lyon ist auch tagsüber fest verschlossen. Klingelanlage und Namensschilder wurden schon vor einem Jahr abgebaut - aus Sicherheitsgründen. Nichts deutet darauf hin, dass in diesem beschaulich anmutenden Altbau-Viertel die französische Flüchtlingsorganisation CIMADE ihren Sitz hat - ein versteckter Umschlagplatz für Akten und Abschiebungen.

VOGELFREI FÜR DIE CRS

Seit vier Jahren betreut die Sozialpädagogin Muriel Mercier die Ausgestoßenen der Republik. Und es werden immer mehr. Allein im Jahre 1992 wurden nach offiziellen Angaben 42.859 Ausländer des Landes verwiesen. Oft begleitet sie ihre Zöglinge in angelegten Handschellen bis hin zur Abflughalle, an der die Flieger für ferne Kontinente auf ihre Passagiere ungeduldig lauern. Sie tut das, weil Muriel "diese quasi vogelfreien Existenzen" auf ihrer letzten Fahrt nicht ganz dem Gutdünken der berüchtigten Sonderpolizei "Compagnie Républicaine de Sécurité" (CRS) ausgeliefert sehen will. Muriel sagt: "Jahr für Jahr wird es kälter, fühle ich mich schon als Fremde im eigenen Land."

Frau Mercier hat im Grunde zwei Arbeitsplätze. Denn die Hälfte des Tages verbringt sie hinter Mauern, Stacheldraht und Gitter - im Abschiebelager der Sonderpolizei-Einheit CRS von Saint-Foyes-Les-Lyon. Dieses Camp, von dem es zwei Dutzend in Frankreich gibt, ist die Endstation aller Sehnsüchte. Tag für Tag kurven Polizeieskorten in Windeseile vor, als gelte es, in Sachen Ausländer eine "Staatskrise" zu bewältigen. Uniformierte liefern verängstigte Menschen für den Rausschmiss aus Frankreich ab - in Handschellen versteht sich.

IN BARS GESCHNAPPT

Meist sind es Leute aus Nordafrika und neuerdings auch aus den früheren Ostblockstaaten. Irgendwo auf der Straße oder an den Bars geschnappt in den angrenzenden Départements Ain, Rhône, Loire. Immer wieder dieselben Vergehen: keine Arbeitspapier. Und ab geht die Post. Knappe 24 Stunden Polizeigewahrsam, Zivilrichter im Schnellverfahren, maximal sieben Tage im Abschiebelager - Frankreich ade. Sich übers Asylverfahren einen Platz "im Land der Sonne" zu ergattern, ist praktisch aussichtslos. In durchschnittlich 50 Tagen liegt ein richterliches Urteil vor. Im Jahr 1992 wurden insgesamt 47.400 Asylanträge gestellt und 80 Prozent abschlägig beschieden.

AMOUR VÉRITABLE - INTIMKONTROLLEN

Sich gar eine Französin oder einen Franzosen als letzten Ausweg für eine Scheinehe zu angeln - auch dieser weitaus kostspieligere Weg ist mittlerweile nahezu chancenlos: Frankreichs Ausländer-Polizei sitzt nämlich ungefragt mit auf der Bettkante. Nachforschungen über "un amour véritable" (wahrhaftige Liebe) laufen vielerorts - bei Verwandten, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft. Deshalb glaubt der Bürgermeister von Toulouse, Dominique Baudis, zu wissen, dass die Hälfte der in seiner Region geschlossenen Partnerschaften "regelrechte Scheinehen" sind. Wenn im Standesamt zu Toulouse "Leute mit ausländisch klingenden Namen" (Baudis) auftauchen, gar ein Aufgebot bestellen wollen, unterrichtet der Bürgermeister unbesehen sogleich den Staatsanwalt, der seinerseits die Ausländerpolizei zu Vorortkontrollen einsetzt.Eine langjährige Aufenthaltsgenehmigung gibt es sowieso für den ausländischen Partner der sogenannten Mischehe (1991: 33.000) erst ein halbes Jahr nach der Trauung. "Und nur dann", bekundet der Stadtvorsteher selbstgewiss, "wenn mir abgesicherte Berichte vorliegen, dass die amour véritable voll und ganz funktioniert." - Intimkontrollen auf französisch.

"Irgendwie, auf welche Weise auch immer", befindet Muriel, "sehen sie sich alle auf Dauer in solch einem Abschiebelager wieder. Frankreich kennt schon lange kein Pardon, kein Augenzwinkern mehr, erst recht mit der neuen Regierung." Das Abschiebecamp Sainte-Foyes-Les-Lyon wurde im Jahre 1984 angesichts der steigenden Bedarfszahlen in Betrieb genommen, hat 24 Betten. Fluchtmöglichkeiten gibt es so gut wie keine. Nachts leuchten gleißende Scheinwerfer das Gelände aus. Ein Areal, das durch Mauern, Gitter und Stacheldraht schnörkellos gesichert wird. Alle dreißig Tage lösen sich Sondereinheiten der CRS-Polizei ab.

KEINE KONTAKTE ZUR AUSSENWELT

Kontakte zur Außenwelt bestehen während der meist siebentägigen Verweildauer so gut wie keine. Befindlichkeiten der Ausgestoßenen, ihren seelischen Ausnahmezustand schlechthin - all jene Unwägbarkeiten haben die Pariser Politik-Männer vorsorglich Frauen wie Muriel von der CIMADE übertragen - zur Gewissensberuhigung sozusagen. Schließlich bürgt schon dieser Name der Flüchtlingsorganisation für Seriosität samt französischer Tradition. Waren es doch

ehrenamtliche CIMADE-Helfer, die zu Beginn des Zweiten Weltkrieges Franzosen aus Elsass-Lothringen evakuierten, in den Konzentrationslagern den Schmerz vor dem Tode zu lindern suchten. Hingebungsvolle Frauen, die sich auch um die Tausende und aber Tausende von Franzosen-Flüchtlingen kümmerten, die sich Anfang der sechziger Jahre nach dem ruinösen Algerien-Krieg mittellos nach Frankreich retteten.

ABGESCHOBEN UND ZURÜCKGEKOMMEN

Und in dieser Kontinuität sieht Muriel den Flüchtlingsexodus dieser Jahre. Unbehagen befällt sie, wenn Muriel laut die Frauen-Rolle in der von Männern veranstalteten Welt hinterfragt. Sie murmelt: "Wir Frauen sind noch immer für die Drecksarbeit zuständig und haben zu alledem noch lieb, weich wie auch offenherzig sein." Muriel hatte sich gerade um eine Marokkanerin gekümmert, die im Lager ihren Kopf wie eine Wahnsinnige unentwegt an die Wand knallte. Empfindliche Brustschmerzen hatte diese Frau. Und immer wieder schrie die junge Marokkanerin: "Lasst mich raus aus dieser Hölle." Ihr zweimonatiges Baby , das sie derzeit stillen musste, was ihr beim Abtransport kurzerhand genommen worden. Immerhin konnte Muriel erreichen, dass Mutter und Kind wieder zusammen kamen - natürlich gemeinsam ausgewiesen werden.

FRANKREICH MIT FRANZOSEN BEVÖLKERN

Verständlich, dass vom Lager-Leben kaum etwas nach draußen dringt. Sonst würde das humane Bild vom "Frankreich der Franzosen und der Menschen-rechte" (Gaullisten-Führer Jacques Chirac) einen Knacks bekommen. Selbstmordversuche, Hungerstreiks und auch Schlägereien sind an der Tagesordnung im Lager, dort wo die Nerven blank liegen wie vielleicht nirgendwo sonst. Kaum einer weiß genau, mit welcher Drangsal er im Heimatland zu rechnen hat. Wandert er ins Gefängnis, wird er gar gefoltert - in der Türkei, in Marokko, Burundi oder anderswo? "Ja, ja", bemerkt Jean-Claude Barreau, Berater in Ausländer-Fragen des neuen Innenministers, "das wissen wir sehr genau, dass dies ein großes Problem ist. Lösen aber lässt es sich nur, indem wir Frankreich durch die Geburtenpolitik wieder mit Franzosen bevölkern. Dann steht einer neuerlichen Integration ausländischer Kinder nichts im Wege."

Fernab von der großen Bevölkerungspolitik widerfuhr Madame Muriel dieser Tage eine ganz andere Genugtuung. Eines Nachmittags wollte sie in einem Café auf dem Place Bellecour in Lyon eine Torte naschen. An einem Nachbartisch erblickte sie auf einmal Mohammed, den sie aus dem Lager kannte und der schon nach zwei Tagen nach Marokko abgeschoben worden war. Nun war er flugs wieder da. Mohammed strahlte über beide Wangen und wedelte mit seinem gültigen Visum, das er sich in Rabat für gute 3.000 Euro von einem Botschaftsangestellten besorgt hatte. - Beide freuten sich spitzbübisch.

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Postscriptum . - Im August des Jahres 2010 hat Frankreich auf Weisung ihres Präsidenten Nicolas Sarkozy (2007-2012) entgegen europäischer Grundrechte auf freie Wohnsitzwahl mehr als achttausend Rumänen und Bulgaren in ihre EU-Heimatländer ausgewiesen. Die meisten werden zur Minderheit der Roma gerechnet. Flächendeckend in der gesamten französischen Republik gehen Polizeikräfte der Sonderstaffel CRS speziell gegen diese Bevölkerungsgruppe vor, obwohl sie strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten sind . Ob in Harmes, 200 Kilometer nördlich von Paris, ob im Département Pas-de-Calais, in Bordeaux oder in Tremblay-en-France - 40 Lager wurden in wenigen Tagen geschlossen. Für Innenminister Brice Hortefeux sind jene Nacht-und-Nebel-Aktionen im einstigen Land der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit ein "glatter Erfolg". Er will weiter "hart durchgreifen" gegen Sinti und Roma, die er politisch korrekt stets als "Landfahrer" tituliert. Die Abschiebung von 8000 Roma war illegal, völkerrechtswidrig, mit den Europäischen Grundrechten der Niederlassungs-Freiheit unvereinbar; weil "Rassismus und Fremdenfeindlichkeit keinen Platz in Europa haben". Und die EU-Vizepräsidentin Viviane Reding warf Frankreich vor, die Abschiebung nur aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit zu forcieren. Viviane Redding sprach sich für die Einleitung eines EU-Vertragsverletzungsverfahrens gegen Frankreich aus. Und das gilt insbesondere für eine Republik , wenn derlei Menschenrechtsverletzungen von einem Land vollzogen werden, das regierungsamtlich in Sachen Menschenrechte darauf verweist ,eine "Grande Nation" zu sein.