Donnerstag, 28. April 1977

Die Ärztin, die von Deutschland vergessen wurde



































































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Unvergessliche Notizen aus den siebziger Jahren: Ein Jahr war die deutschstämmige Ärztin Dr. Gladys Sannemann (Bild oben links) im Konzentrationslager Emboscada in Paraguay. Sie wusste nichts vom Schicksal ihres verhafteten Mannes und ihrer Kinder. Die deutsche Botschaft kümmerte sich nicht um sie. Nach vielen Irrwegen kam die Familie schließlich in die Bundesrepublik. Hier wurde den mittellosen Sannemanns als erstes die Rechnung für die Flugtickets präsentiert: 7.609,53 Mark. Angst zeichnet ihr Leben - Dr. Sannemann im Jahre 2009 (Bild rechts).


stern, Hamburg,
28. April 1977
von Peter Koch, Reimar Oltmanns
und Perry Kretz (Fotos)

Die Fachärztin für klinische Medizin und Allergien, Dr. Gladys Sannemann (*1929), ist schon ein paarmal in ihrem Leben Opfer ihres Berufes geworden. Seit ihr Beruf zum erstenmal eine Entscheidung gegen die Karriere verlangte - es liegt schon fast 20 Jahre zurück - ist sie eine Gezeichnete. Die Ärztin, sie hieß damals noch Gladys Meillinger, hatte gerade ihr Examen beendet und arbeitete im Polizeihospital von Asunción, der Hauptstadt des südamerikanischen Zentralstaates Paraguay.

DURCH SCHLÄGE GETÖTET

"Es war im Jahr 1958. Ein Mann war im Polizeiquartier durch Schläge getötet worden. Die Polizeibehörden verlangten von mir, ich sollte eine andere Todesursache angeben. Ich habe das nicht machen wollen."

Von nun an war sie suspekt.

Hinzu kam, dass die Ärztin einen Mann heiratete, der aus seiner Ablehnung des Willkür-Regimes von General Alfred Stroessner (*1912+2006) keinen Hehl machte. Stroessner, 1954 durch einen Putsch in Paraguay an die Macht gekommen, war bis zum Jahr 1989 Südamerikas dienstältester Caudillo, ein Relikt aus der klassischen Zeit der Revolution. Er sicherte sich eine lange Amtszeit, indem er Verfolgungen und Folterungen zu seinem Regierungsstil machte. Stroessner steckte Mitglieder der Oppositionsparteien ins Gefängnis, dergleichen Rechtsanwälte, Universitätsprofessoren, Journalisten und Studenten, sobald sie die Beachtung der Menschenrechte forderten; Mitglieder der Kommunistischen Partei sowieso, aber auch Priester, die sich um das Los der von Großgrundbesitzern unterdrückten Eingeborenen kümmerten, und ebenso Eingeborene, die sich in Obhut der Priester begeben hatten. Selbst Anhänger der regierenden Colorado-Partei waren vor ihrem General nicht sicher. Allein im Monat November des Jahres 1974 wurden zwischen 800 und 1200 Bürger verhaftet. Auf den Polizeistationen und in Konzentrationslagern foltern die Vernehmungsoffiziere ihre Opfer. Da politische Gefangene nicht vor Gericht gestellt werden, verbüßen sie ihre Strafen auf unbestimmte Zeit.

TREIBJAGD

Der Volkswirtschafts-Student Rodolfo Jorge Sannemann war Mitglied der Colorado-Partei, allerdings kein folgsamer. Er sympathisierte mit einer Abgeordnetengruppe, die vom Präsidenten die Ablösung des obersten Polizeichef des Landes verlangte. Der Präsident löste statt dessen das Parlament auf, die Abgeordneten verloren den Schutz der Immunität, und viele von ihnen verschwanden in Gefängnissen. Die Kritiker gründeten die Movimiento Popular Colorado (Colorado-Volksbewegung), keine militante Widerstandsgruppe, nur eine allgemeine Protestbewegung. Aber weil sie großen Zulauf hatte, sah Alleinherrscher Stroessner in ihr eine Gefahr. Die Treibjagd auf ihre Anhänger begann.

Sannemann und seine junge Frau entschlossen sich zur Flucht. Sie gingen nach Argentinien, das damals noch keine Militärdiktatur war. Denselben Weg wählten in den sechziger Jahren Hunderttausende von Paraguayern. Allein in der Hauptstadt Buenos Aires leben heute rund 350.000 einstige Untertanen des Generals Alfredo Stroessner. Das Ehepaar Sannemann begann im argentinischen Exil ein neues Leben. Sie eröffnete in Candelaria eine Praxis, er fand eine Anstellung als Buchhalter, 1960 kam ihr Sohn Martin Federico, 1962 ihre Tochter Ruth Maria zur Welt.

POLIT-ODYSSEE

Wenn die Ärztin Dr. Gladys Sannemann und ihr Mann Rodolfo ihren Lebens- und Leidensweg schildern, muss man genau zuhören. Die Stationen wechseln häufig zwischen Argentinien und Paraguay, und keiner dieser Wechsel ist freiwillig. Polit-Odysee 1977.

Genauso kompliziert ist die Klärung der Staatsbürgerschaft. Die Eltern des Mannes und der Frau waren Deutsche, die nach dem Ersten Weltkrieg nach Paraguay auswanderten. Rodolfo wurde in Concepción geboren, Gladys in Asunción, sie besaßen die deutsch-paraguayische Staatsbürgerschaft. Im Exil in Argentinien hatten sie einen paraguayischen Pass. Seit dort allerdings am 24. März 1976 auch die Militärs die Macht übernahmen, besann das Ehepaar Sannemann sich seiner deutschen Herkunft. Zum Nachdenken bekamen sie viel Zeit, denn sie landeten gleich in den ersten Tagen nach dem argentinischen Militär-Putsch als politische Gefangene hinter Gittern.

RAZZIA NACH WAFFEN

Frau Dr. Gladys Sannemann erzählt: "Ich wurde verhaftet am 24. März 1976 in Candelaria in Argentinien. Das Militär hatte gerade in Buenos Aires die Macht übernommen. Es war ungefähr neun Uhr morgens, in meinem Sprechzimmer nahm ich eine gynäkologische Untersuchung an einer Frau vor, als es plötzlich furchtbar gegen die Tür polterte. Etwa zehn Mann stürzten herein. Sie waren in Zivil, alle hatten über der Schulter eine Maschinenpistole. Wie ich später merkte, waren es Leute vom Heer, der Gendarmerie und der Provinzpolizei. Meinen anderen Patienten, die im Flur saßen, riefen sie zu. 'Haut ab, aber schnell.' "

"Zu mir sagten sie: 'Das ist eine Hausdurchsuchung. Einen der Männer kannte ich. Er was einmal Vertreter für pharmazeutische Produkte gewesen. Der wusste genau, wie meine Praxis aussah, dass die Haustür nie verschlossen war. Er wies den anderen den Weg. Ich sagte zu ihm: 'Na, da sind Sie ja zu einem lukrativen Beruf übergewechselt.' Er antwortete: 'Es tut mit leid, dass ich der erste bin, der hier hereinkommen muss.' Ich habe zunächst einmal die Untersuchung der Frau beendet. Die Frau hatte ein kleines Kind mit und war sehr verängstigt. Die Männer durchsuchten erst das Behandlungszimmer, dann meine Privaträume, dann den Patio, die halboffene Halle in der Mitte. Die Wände tasteten sie mit Metalldetektoren ab. Sie suchten offensichtlich Waffen. Einen Grund für ihr Eindringen sagten sie mir nicht."

KOMMUNISTEN MEDIZINISCH BEHANDELT ?

Die Ärztin überlegte, was die Aktion ausgelöst haben könnte. Vor zwei Jahren hatte sie in der Klinik der nahen Provinzhauptstadt Posadas zwei Männer mit Schussverletzungen behandelt. Sie hatte später gehört, es sollen Kommunisten gewesen sein. Oder war es wegen ihres Mannes, der noch immer der Movimiento Popular Colorado angehörte? Aber das war ja schließlich eine paraguayische Angelegenheit, das ging doch Argentinien nichts an.

Dr. Gladys Sannemann: "Die Soldaten waren endlich fertig. Im Keller hatten sie etwas gefunden: das Druckluftgewehr meines Sohnes. Das lag dort bei seinen Angelsachen und Sportgeräten. Sie nahmen es mit. Sie steckten auch ein paar hundert Dollar ein, die wir in einer Kommode liegen hatten, weil wir zu einem wissenschaftichen Kongress reisen wollten. Und einen Fotoapparat. Mich nahmen sie dann in die Mitte und verließen das Haus. Die Kinder blieben zurück. Mein Mann war nicht da, er war auf einer Reise."

ISOLIERHAFT

Die Männer fuhren mit der Ärztin nach Posadas. Von dort aus durfte Frau Sannemann Kollegen anrufen und sie bitten, sich um die zurückgelassenen Kinder zu kümmern. In der Polizeistation von Posadas wurde Dr. Sannemann in eine kleine Zelle gesteckt. Sie versuchte, einen Anwalt zu erreichen. Es war der Jurist einer Firma - Tabak, Sägewerk - , deren Mitarbeiter Frau Sannemann ärztlich betreute. Der Rechtsanwalt wurde daraufhin ebenfalls verhaftet.

Von nun hatte Frau Sannemann überhaupt keine Verbindung mehr zur Außenwelt. Sie wusste nicht, was mit ihrem Mann und den Kindern inzwischen geschehen war. Nur den Verhaftungsgrund konnte sie jetzt erahnen. Bei gelegentlichen Verhören fragten die Polizeioffiziere immer wieder, wie groß die Bewegung sei, der ihr Mann angehöre, zu welchen argentinischen Extremisten-Organisationen er Kontakt habe. Frau Sannemann sagte, dass die Movimiento Popular Colorado keine Terrororganisation sei, dass sie mit friedlichen Mitteln eine Änderung der Zustände anstrebe, und zwar in Paraguay, nicht in Argentinien. Die Ärztin erinnert sich: "Die Zelle war klein, feucht, dunkel. Einmal wurde ich von einer Zellenaufseherin zu einer anderen Mitgefangenen geführt, weil diese kurz vor der Entbindung stand. Ich habe die Frau untersucht. Deswegen bekam ich dann Ärger mit dem Polizeioffizieren. Der Kontakt zu anderen Gefangenen war streng verboten. Ich wurde daraufhin wieder in meine kleine, enge Zelle gesperrt."

NACH PARAGUAY VERSCHLEPPT


Am 28. Juli, nach vier Monaten Haft, wurde Frau Sannemann in einen VW-Transporter geladen und zur Grenze nach Paraguay gebracht. Dort nahm sie ein Inspektor in Zivil in Empfang. Es ging weiter nach Asunción. Nach 17 Jahren sah die Ärztin ihre Heimatstadt wieder. Die paraguayische Hauptstadt hatte sich stark verändert. Dort, wo früher einstöckige spanische Bürgerhäuser gestanden haben, ragten jetzt Wolkenkratzer in die Höhe. Stroessner hat sein Land eng an die USA angebunden, militärisch und wirtschaftlich.

US-DRILL IN DER PANAMA-ZONE

Seine Soldaten lässt Stroessner im amerikanischen Ausbildungszentrum in der Panama-Zone drillen, ein Vertrag ermächtigt die USA, bei kommunistischen Aufständen in Paraguay einzumarschieren. Während des Vietnamkrieges ( 1964-1975) hatte Diktator Alfredo Stroessner den USA Söldnertruppen angeboten. Den amerikanischen Wirtschaftskonzernen öffnete Artikel 10 der paraquayischen Verfassung die Tür: "Der Staat soll die Investitionen mit ausländischem Kapital von Produktionsbetrieben begünstigen als notwendige Ergänzung für die nationale Entwicklung." Die ausländischen Investoren liessen sich angesichts einer Durchschnitts-Lohnquote von vier Mark pro Tag nicht lange bitten. Vor kurzem erst wurde der nordamerikanischen "Anschütz-Corporation" die Ausbeutung der Bodenschätze im gesamten Westparaguay übertragen.

WIRTSCHAFTSKRAFT DURCH SCHMUGGEL

Die inländische Wirtschaft hingegen ist fest in den Händen des Stroessner-Clan. Fast die Hälfte des Handelsvolumen "erarbeitet" der Staat - mit Schmuggel. Wo immer es ein Preisgefälle gibt zwischen den südamerikanischen Nachbarländern - oder auch zu den USA -, übernimmt Stroessners Militär den Transport der Konterbande: elektrische Geräte , Autos, Zigaretten und Kaffee gehören zum Schmuggel-Sortiment. Fällt einmal eines der altersschwachen Flugzeuge der paraguayischen Luftwaffe herunter, finden sich an der Aufschlagstelle mit Sicherheit zertrümmerte Whiskykartons, Goldbarren, Kokain-Schachteln,Heroin-Päckchen,Waffenkisten.

PEITSCHEN AUS DRAHT

Die wirtschaftlichen Veränderungen in ihrem Heimatland konnte Frau Sannemann allerdings nur durch Gitterfenster betrachten: "Ich wurde beim Untersuchungs-Departement der Polizei in der Innenstadt von Asunión abgeliefert. Ich bekam einen größeren Raum zugewiesen, keine Zelle. Das war wohl eigentlich ein Vernehmunsgszimmer. Es gab Scheinwerfer und Reflektoren, an den Wänden hingen Peitschen aus Draht und kleinen Metallkugeln an den Enden. Es gab ein Sofa wie in einem ärztlichen Behandlungszimmer. Ein Soldat sagte mir später, dort habe ein Chilene Hypnosen an den eingelieferten Leuten vorgenommen. Vor Ekel habe ich nicht auf dem Sofa, sondern immer auf dem Boden geschlafen. Freunde aus Argentinien, die meinen Aufenthalt erfahren hatten, wollten mir 400 000 Pesos bringen, das waren damals ungefähr 1700 US-Dollar. Sie lieferten sie bei der Oberaufseherin ab. Ich habe das Geld nie gesehen. Ich wurde häufig verhört, von ganz jungen Leuten. Es waren Rechtsanwälte, die sich bei der Polizei verdungen hatten."

LAGER "MINAS" - EINE FESTUNG

"Nach sechs Wochen wurde ich verlegt. Ich kam in das Lager Minas bei Emboscada, rund 30 Kilometer außerhalb von Asunción. Das Lager ist ein riesiger Häuserblock, es sieht mit seinen Wachtürmen aus wie eine Festung. Es ist von einer zwölf Meter hohen Mauer umgeben, auf ihr patrouillieren ständig Soldaten. Wir waren rund 350 politische Häftlinge. Es gab zwei Abteilungen, für Männer und Frauen. Mehrere der Frauen hatten Kleinkinder bei sich, die hatten sie im Polizeihospital geboren. Einige der schwangeren Frauen, die dort hingebracht wurden, hatten Fehlgeburten, weil sie geschlagen und gefoltert worden waren. Einige Häftlinge hatten schon sehr lange - bis zu 16 Jahren - in Gefängnissen gesessen. Sie waren oft sehr krank, sterbenskrank, Ruhr, Typhus, grippale Infekte, Hautkrankheiten. Viele raffte das faulige Wasser dahin, das es zu trinken gab. Viele Kinder weinten vor Durst und Hunger. Schreie begleiteten ihre fortwährenden Ohrenschmerzen. Temperaturen um die 40 Grad, Durchfall, Erbrechen ohne Pause. Einmal in der Woche kam eine Polizeiärztin, aber von der wollte sich niemand behandeln lassen. Daraufhin habe ich den Lagerleiter gebeten, meine Mitgefangenen endlich ärztlich versorgen zu dürfen."

SIEDLUNGEN NIEDERGEBRANNT

Lagerleiter in Minas ist der berüchtigte Oberst Grau. Im Jahre 1975 erreichte seine militärische Karriere ihren Höhepunkt. Unter seinem Befehl wurden mehrere neue Siedlungen niedergebrannt, die von der katholischen Kirche errichtet worden waren, um die verarmten Campesinos, Kleinbauern, im Landesinneren zu Genossenschaften zusammenzuführen und ihnen die Möglichkeit zum Schulunterricht zu geben. Hunderte von Campesinos wurden gefangen genommen, gefoltert oder getötet. Einige wurden vor den Augen ihrer Frauen und Kinder geköpft. Priester und die Wissenschaftler, die an den Siedlungsprojekten gearbeitet hatten, verschwanden als "Aufwiegler" hinter Gefängnisgittern.

DEUTSCHE MILITÄRHILFE

Militär und Polizei in Paraguay sind die sichersten Stützen des Regimes, und sie funktionieren exakt, nicht zuletzt dank der deutschen Bundesrepublik. Die USA leistete bis ins Jahr 1975 Militärhilfe in Höhe von 20,9 Millionen Dollar. Seit 1969,
mit Beginn der sozial-liberalen Koalition in Bonn, werden in Westdeutschland regelmäßig Offiziere der Armee und der Polizei von Paraguay ausgebildet. Seit 1. Janaur 1974 geschieht das sogar im Rahmen eines Militärhilfevertrages, bei dessen feierlicher Unterzeichnung der deutsche Botschafter, Hans-Christoph Becker-von Sothen (1970-1974) , erklärte: "Die heutige Unterschrift ist mir keine Pflicht, sondern eine Herzensangelegenheit in meiner Eigenschaft als Reserve-Offizier des deutschen Heeres. Ich bin sehr glücklich, mit dem Heer eines Landes zusammenzuarbeiten, das eine so ruhmreiche Tradition hat." Allein in den Jahren 1975/76 stabilisierte die Bundesrebublik mit insgesamt 124,3 Millionen Mark Investitionen für Infrastrukur wie Konsum die Stroessner-Diktatur. - Und das zu einer Zeit, in der Gewerkschaften verboten waren und jährlich an die 1200 Bürger des Landes ohne Anklage sang- und klanglos verhaftet wurden - über Nacht verschwanden . Friedhofsruhe.

FOLTERER UND MEDIZINER

Gleichwohl, vermerkten Kenner des südamerikanischen Landes, sollte Cheffolterer Grau sich in letzten Monaten ganz allmählich gewandelt haben. Das zumindest erfuhr Frau Dr. Sannemann in zahlreichen Gesprächen mit ihrem Kommandanten; die Insassin als Therapeutin. Immer wieder kreisten Grau-Gedanken um den plötzlichen Tod seiner jungen Frau - eine Deutsche. Gladys Sonnemann über den scheinbar hartgesottenen Haudegen: "Ich muss sagen, er hat sich mir gegenüber immer sehr korrekt benommen. Ich habe bei ihm eigentlich alles erreicht, was ich erreichen wollte. Butterweich gab er sich.

Ursprünglich waren die Gefängniszellen nach oben hin bis zum Dach offen. Als die politischen Gefangenen kamen, zog man Betondecken ein, um Fluchtversuche zu verhindern. Jetzt drang die Luft nur noch durch ein spärliches kleines Guckloch durch die Zellentür. Mörderisch. Denn in manchen Verliesen waren bis zu 54 Gefangene eingepfercht. Die Leute konnten morgens kaum atmen, so schlecht war die Belüftung. Ich habe ganz unerwartet beim Cheffolterer erreicht, dass die Türen nachts aufbleiben konnten und dass die Menschen so wenig Zeit wie möglich in ihren stickigen Kerken zubringen mussten. Sie waren ja schon lange, sehr lange eingesperrt."

ARZTPRAXIS IN DER ZELLE

"Außerdem erlaubte mir der Oberst Grau, dass ich in meiner Zelle eine Art Praxis einrichten konnte. Durch seine Vermittlung erhielt ich medizinische Instrumente und Medikamente vom Kirchenkomitee Inter-Iglesias, das war ein Zusammenschluss von Katholiken, Protestanten und Schülern Christi. Diese Utensilien, Materialien brachte mir eine kanadische Ordensschwester ins Lager. Über meine Patienten und die Verabreichung der Medikamente habe ich genau Buch geführt. Da habe ich reingeschrieben: Herr Sowieso hat Mandelentzündung, ich habe ihm 24 Kapseln Antibiotikum verordnet. Den Bericht gab ich sodann der Schwester weiter. So und nicht anders sind jedenfalls die meisten Namen aus dem Lager herausgekommen und dem Kirchenkomitee zur Kenntnis gebracht worden. Dem Oberst erklärte ich kurzum: 'Ich muss über die Medizin Rechenschaft ablegen.' Mir selber hat diese Arbeit als gefangene Ärztin auch sehr geholfen. Auf diese Weise hatte ich nicht allzu viel Zeit, über mein eigenes Schicksal nachzudenken, zu hadern. Keine Zeit für Trübsal."

SCHLÄGE, WASSERTROG, ELEKTROSCHOCKS

Dass Gladys Sannemann nicht noch viele Jahre ohne Anklage und ohne Prozess hinter Lagermauern blieb, dafür sorgte schließlich ihr Mann. Dem war es nach der Verhaftung seiner Frau in Argentinien zunächst noch viel schlimmer ergangen. Als er am Tag nach dem Überfall auf ihre Praxis in Candelaria von seiner Reise heimkehrte, warteten schon die Schergen auf ihn. Wochenlang wurde Rodolfo Jorge Sannemann in einem Gefängnis in Posadas gefoltert: Schläge, Untertauchen in einem Wassertrog, Elektroschocks, während er auf ein eisernes Bettgestell gefesselt war. "Dass sie bei mir schließlich aufhören, lag ein bisschen daran, dass sie inzwischen unheimlich viele Leute zusammengetrieben hatten. Und obwohl sie im 24-Stunden-Turnus mit verschiedenen Gruppen von Folterern arbeiteten, konnten sie nicht mehr alle drannehmen."

AUF NACH DEUTSCHLAND

Schließlich wurde Rudolfo Sannemann in ein Gefängnis der Bundespolizei nach Buenos Aires geflogen. Von seiner neuen Zelle aus konnte er über die Besucher von Mitgefangenen Verbindung zu seinen Eltern in Asunsión aufnehmen. Die Mutter besorgte aus Hestedt in der damaligen DDR die Geburtsurkunde der Großeltern und in Paraguay seine Geburtsurkunde, um nachzuweisen, dass er deutscher Staatsbürger sei. Mit diesen Urkunden kam sie nach Argentinien. Dort alarmierte sie die westdeutsche Botschaft, Diese schickte Amtsrat Jürgen Engel zum Gefängnis. Der fragte Rodolfo Sannemann nach den Umständen der Verhaftung, wollte wissen, ob ein Prozess anhängig sei. "Ich habe gesagt: "Nein, gar keiner. Herr Engel sagte, er würde alles tun, mir einen Pass zu
beschaffen. Dann fragte er, ob ich die Passage nach Deutschland bezahlen könne. Ich habe gesagt. 'Das kann ich nicht, denn ich habe im Moment überhaupt nichts. Meine Frau kann auch nicht, sie ist auch in Haft.' Acht Tage später kam er mit dem Ticket. Ich musste eine Erklärung unterzeichnen, dass ich in Deutschland innerhalb von zwei Monaten die Passage bezahlen würde."

MILITÄR + BOTSCHAFT

Rodolfo Sannemann
konnte am 20. Januar 1977 in die Bundesrepublik fliegen. In Bergisch-Gladbach wohnte eine Cousine von ihm, Ursula Kolloch. Gemeinsam mit ihr wandte er sich an das Auswärtige Amt in Bonn und bat um Familienzusammenführung. Die Frau war ja noch in Paraguay in Haft, die Kinder bei Verwandten. Die deutsche Botschaft in der Hauptstadt von Paraguay, Asunción, hatte sich aus eigenem Antrieb für die Ärztin nicht interessiert. Frau Dr. Sannemann: "Während meiner langen Haftzeit in Paraguay kam mich niemand von der Botschaft im Lager besuchen. Ich glaube, die stecken halt irgendwie zusammen, die von der Botschaft und die von der Regierung in Paraguay."

Ganz abwegig ist diese Vermutung sicher nicht. Dank des "rührigen" Einsatzes der deutschen Botschaft in Asunción hat Paraguay in ganz Südamerika das modernste Telefonnetz (und Abhörsystem). Kostenfaktor: 44 Millionen Mark Entwicklungshilfe. Gegenwärtig hat Botschafter Hellmut Hoff (1975-1978) anderes , weitaus Wichtigeres zu bewerkstelligen, als sich um anvertraute Mitbürger zu sorgen. Er ist nämlich gerade dabei, seinem Gastland, der Diktatur Paraguay , einen neuen deutschen Zehn-Millionen-Kredit zu verschaffen. Der heutige Kanzleramts-Minister und frühere Staatsminister im Auswärtigen Amt, Hans-Jürgen Wischnewski (*1922+2005), hat sich schon seit vielen Jahren um die Übersiedlung vieler verfolgter Südamerikaner nach Deutschland bemüht. Bedenklich sein Urteil über deutsche Auslandsvertretungen in Südamerika: "Unsere Botschafter wollen in erster Linie immer gute Beziehungen zu ihrem jeweilige Land haben. Gute Beziehungen , koste es, was es wolle; gute Beziehungen als Selbstzweck."

AUF SICH ALLEIN GELASSEN

Frau Dr. Gladys Sannemann war also weitgehend allein gelassen. Sie alarmierte aus dem Gefängnis heraus die Kirche und tatsächlich, am 18. März 1977 kam für sie die Entlassung. Sie durfte ihre Tochter holen, in einem Wagen der paraguayischen Polizei wurden die beiden Frauen zum Flughafen gefahren. Gladys Sannemann erinnert sich: "Es war schon gegen Abend, als wir zum Flughafen gefahren wurden. Alle meine Verwandten waren dort, um sich von mir zu verabschieden. Ich rief ihnen zu: 'Passt auf, in welches Flugzeug die mich bringen. Die wollen mich wieder verschleppen.' Ich hatte Angst. Ich hatte nämlich gehört, dass Argentinien mich zurückhaben wollte, um meine damalige Auslieferung an Paraguay zu vertuschen. Denn inzwischen hatten sich internationale Ärzte-Organisationen, alarmiert von einen meiner Kollegen, des Falles angenommen. Zudem hatte Argentinien begründete Befürchtungen, seinen Ruf im Ausland weiterhin zu ramponieren. Und siehe da, meine besorgten Verwandten stellten auf dem Flughafen tatsächlich fest, dass an diesem Tag gar keine Maschine nach Deutschland flog."

TÄUSCHUNGSMANÖVER

Die Polizisten warteten mit Frau Sannemann, bis das letzte Flugeug gestartet war - die Lichter am Airport von Asunción gelöscht wurden. Im Dunkeln fuhren die Uniformierten dann wieder in die Polizeizentrale zurück, unbemerkt von den Angehörigen. Die Täuschung war gelungen. Erst am nächsten Tag wurde Frau Sannemann mit ihrer Tochter in einer Militärmaschine nach Argentinien ausgeflogen. Wieder kam sie für zehn weitere Tage in eine Militärkaserne. Von dort durfte sie aber immerhin mit ihren in Argentinien lebenden Verwandten telefonieren.
Am 30. März 1977 konnte die Ärztin mit ihren beiden Kindern endlich nach Deutschland reisen.

FLUGKOSTEN PRÄSENTIERT

Inzwischen haben Ärztin und ihr Mann erste Erfahrungen mit deutscher Bürokratie. Das Auswärtige Amt präsentierte den beiden mittellosen Opfern südamerikanischer Militär-Willkür als erstes eine Rechnung über die ausgelegten Flugkosten von 7.609 Mark, 53 Pfennig.


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POSTSKRIPTIUM. -
Am 3. Februar 1989 wurde Alfredo Stroessner in Paraguay durch einen Militärputsch entmachtet. Ihm drohte eine Anklage wegen Menschenrechtsverletzungen, seinem Sohn Gustavo die Verhaftung wegen unrechtmäßiger Bereicherung. Vater und Sohn gingen nach Brasilien ins Exil. Stroessner starb am 16. August 2006 im Alter von 93 Jahren an einer Lungenentzündung.

Wikipedia notiert: "Paraguay wurde 61 Jahre von der Partido Colorado regiert. Obgleich Paraguay heute keine Diktatur mehr ist, ist es doch als autoritäres Regime einzuordnen. Die lange Herrschaft einer Partei hat zu einer Verflechtung zwischen den Strukturen des Staates und denen der Partei geführt. In der Klassifizierung von Freedom House gilt das Land denn auch nicht - wie mittlerweile die meisten südamerikanischen Staaten- als frei, sondern nur als teilweise frei. Eine vollständige Wende hin zur pluralistischen Demokratie ist ausgeblieben."

Immerhin: am 20. April 2008 fanden in Paraguay Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Fernando Lugo, ehemaliger Bischof und Befreiungstheologe , wurde mit über 40 Prozent zum künftigen Präsidenten dieses geschundenen Landes gewählt.

Die Ärztin Dr. Gladys Sannemann blickt in ihrem hohen Alter von 80 Jahren zurück auf die Spuren des Leids, der Folter, die Tränen der Mütter, Ehefrauen und die vielen, ungezählten politischen Gefangenen zu Paraguay. Sie lebt mit Tonnen von Dokumenten aus dieser Ära dieser Schreckens-Herrschaft, von denen sich Frau Sannemann nicht trennen kann und will. "Wer der Folter erlag, kann in dieser Welt nicht mehr heimisch werden" (Jean Améry, österreichischer Schriftsteller *1912+1978).



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