Freitag, 25. Oktober 1996

Gefangenschaft: Gewalt von Vätern, Freiern, Wärtern ...




























































Das französische Gefängnis Fleury-Mérogis ist Europas größte Haftanstalt für Frauen. Ein restlos überfüllter Frauen-Knast mit Haft- revolten, Geiselnahmen, Ausbrüchen; ein SingSing aus Selbstverletzungen, Selbst-morden, Selbstverstümmelungen. Für Rausch- giftsüchtige und HIV-infizierte bedeutet Fleury-Mérogis Endstation - die letzte Bleibe vor ihrem Tod. Meist im Morgengrauen fährt der Bestattungsbus zu den Sammelgräbern des Städtchen Thiais. Friedhofsruhe im Voll- zug. Kein Politiker mahnt im Land der Men-schenrechte Reformen an. Mit "Landgraf-Werde-hart-Parolen" wird Frankreich unter Nicolas Sakorzy regiert. - Bleierne Zeiten.


TRIERISCHER VOLKSFREUND
vom 25. Oktober 1996
von Reimar Oltmanns


Es gab Zeiten, da fuhr der Bestattungsbus schon früh im Morgengrauen zum Sammelgrab der Frauen - genauer gesagt: Zum Friedhof des Städtchen Thiais, das südlich von Paris liegt. Dort hatte die Gefängnisleitung in Fleury-Mérogis, der größten französischen Frauenhaftanstalt in Europa, gleich auf Verdacht mehrere Sammelgrabab-schnitte der Nummer 104 bis 146 in den Reihen 22, 23, und 24 für seine Insassinnen reservieren lassen. Vor-sichtshalber, weil von Fleury-Mérogis ein merkwür-diger Sog auf in ganz Frankreich inhaftierte Frauen ausging - auch Selbstmordwelle genannt.
HÄRTER ALS DIE MÄNNERHAFT
Immerhin schnellten in Frankreich die Suizidfälle von 1979 bis 1995 in insgesamt 183 Strafanstalten mit 58.000 Häftlingen (etwa 4.500 Frauen) von jährlich 37 auf 107 Gefängnisselbstmorde in die Höhe. Und in Fleury-Mérogis reichte der Freitod von vier Frauen binnen weniger Tage aus, um eine Selbstmordketten-Reaktion in Haftanstalten von Rennes bis Marseille auszulösen.

"Die Haft der Frauen ist durch und durch härter als die der Männer", urteilt Anstaltsdirektor Bernard Cuguen vom Centre National d'Orientation in Fresnes, der na- tionalen Gefangenenverteilerstation. "Keiner will es wahrhaben", fährt Cuguen fort, "aber wir wissen es mittlerweile sehr genau. Frauen in Gefängnissen sind einsamer, von der Außenwelt isolierter, auch in ihrer Haft verlassener als Männer." Allein daraus ergebe sich schon eine ohnmächtige Angriffslust. SELBSTVERSTÜMMELUNGEN

Doch im Gegensatz zu den Männern sei die Aggressivität der Frauen nicht gegen andere, sondern gegen sich selbst gerichtet; Selbstverletzungen, Selbstverstüm-melungen, Selbstmord. Die Psychologin Marie-Cécile Bourdy aus Fleury-Mérogis ergänzt: "Früher starb eine Anzahl von Frauen draußen, kurze Zeit nach Haftent-lassung. Häufig an einer Überdosis Heroin, was eigent-lich nur ein verfehlter Selbstmord war. Heute hingegen suchen sie schon lieber im Knast den Tod, weil die Haftbedingungen noch härter geworden sind, und die Zuflucht sich als Sackgasse erweist. Sie erleben Mo- mente tiefer Traurigkeit und Selbstzweifel. Dabei sind es im wesentlichen sehr junge Frauen. Einst hatten wir den Frauen-Selbstmord so gut wie nicht gekannt. Heute machen es die Frauen wie die Männer - sie erhängen sich in ihren Zellen. Und das meist nachts, ohne ein Wort zu hinterlassen. Ab zum Sammelgrab."
LETZTE BLEIBE VOR DEM TOD
Wenn es wieder einen Selbstmordversuch in Fleury-Mérogis gegeben hat, werden präventiv im Knast etwaige Suizidkandidatinnen aus ihren Zellen geholt und im Nachbartrakt nackt zwischen zwei Matratzen eingebunden - und das über Stunden. Erst dann darf der bereits vollzogene Selbstmord übers Radio öffentlich gemacht werden. So gesehen befinden sich die Gefäng-nisfrauen in einem permanenten Aufbruch, Umbruch, Umschluss - tagein, tagaus. Folglich ist in Frankreichs Frauenhaft Fleury-Mérogis so gut wie nichts intim. Alles unterliegt der Umzug signalisierenden Guckloch-Öffent- lichkeit. Angst heißt der unabänderlicher Wegbereiter und -begleiter in jenen entsagungsreichen Zeiten des Freiheitsentzugs.

VIER FRAUEN AUF ACHT QUADRATMETER

Dabei gehörte Frankreichs Frauengefängnis Fleury-Mérogis mit seinen dreitausend inhaftierten Frauen auf 2.400 Plätzen lange Zeit noch zu den halbwegs vorzeig-baren Haftanstalten des Landes. Ob kleine, aber gut gepflegte Zellen, ob Bibliotheken, Gesprächsräume oder auch die Krankenstation - vornehmlich in den siebziger Jahren ließ sich das Frauen-Gefängnis Fleury-Mérogis vorführen als Paradebeispiel eines auf Resozialisierung bedachten Frauenstrafvollzug. - Lang ist's her; ein Torso ist von allem geblieben. Heute heißt es: Kein Geld für einen gesellschaftsnahen Strafvollzug, kein Geld für eine leistungsgerechte Arbeitsentlohnung, auch keine finan- ziellen Mittel für Renten- und Krankenver-sicherung.

Dafür drei oder manchmal sogar vier Frauen, die in einer acht Quadratmeter großen Zelle zusammen hausen. Ein Frauen-Knast voller Drogen samt ihren Kurieren. Sind doch exakt 80 Prozent der Frauen rauschgiftsüchtig und gar 45 Prozent HIV-infiziert. Für viele Frauen ist der Gefängnisbau von Fleury-Mérogis Endstation - die letzte Bleibe vor dem Tod.
EINMAL FREIWILD - IMMER FREIWILD
"Uns reicht's", sagen sie da. "Wir essen nicht mehr, wir waschen uns nicht mehr, lasst uns in unseren Betten verrecken. Wir rühren uns nicht mehr von der Stelle, nehmen keinen Teller, keinen Becher mehr an." Ver-weigerung. Naheliegend , dass in diesem Vollzugs-milieu ein Kindheitsschock schon immer als neben-sächlich belächelt wurde, als unglaubwürdig, halt als nicht gerichtsverwertbar abgetan wird. Und das, obwohl sich etwa bei der Hälfte der Frauen in Fleury-Mérogis jenes traumatische Urerlebnis in ihren Ge- fühlsabläufen eingenistet hat - der sexuelle Miss- brauch vieler Töchter durch ihre Väter, die sexuelle Nötigung der weiblichen Häftlinge durch so manche Wärter. Junge Mädchen von Fleury-Mérogis, zwischen 13 und 20 Jahren alt, wissen von jenen Männer-Über- griffen in jenen Grauzonen - sie alle schweigen. Ge-wohnheitsrecht. Glaubwürdigkeit ist gefragt. Einmal kriminell, immer unglaubwürdig, heißt es. Erst verge- waltigen Väter ihre Töchter, Erzieher in Heimen folgen. So betrachtet bewahren dann einige französische Vollzugsbeamten in ihren meist eigens dafür flüchtig hergerichteten Zellenseparé lediglich eine unscheinbare Kontinuität männlicher Alltagszugriffen dieser Jahre. Einmal Freiwild, immer Freiwild.
ABSCHIEDSBRIEF AUS STUNDENHOTEL
Längst hat sich die französische Öffentlichkeit - von Berührungsängsten getragen augenzwinkernd darauf verständigt, einen explosiven Notstand notdürftig zu verwalten. Verantwortlich dafür sind insgesamt 18.000 schlecht bezahlte Vollzugsbeamte mit einem Durch-schnittsgehalt von monatlich mehr oder weniger von tausend Euro. Die Folge in diesen Jahren: Im ausge-grenzten Fleury-Mérogis haben zwei Wärter bis zu fünfhundert Frauen beim Rundgang zu beaufsichtigen. Mit 1,4 Prozent des Staatshaushalts, weniger als 3,5 Milliarden Euro ist die Justiz ohnehin am unteren Ende der Politikerinteressen angesiedelt.
SAMMELGRAB
Am Punkt 34,40 Meter im Sammelgrab des Friedhofs von Thiais wird an diesem Morgen die 24jährige Laurence verscharrt. Ein Mädchen, das wegen Diebstahl im Trakt D6 E, Zelle vier zum 25. Male eingesperrt worden war, diesmal drei Monate. Todesursache: Heroin. Gefunden wurde Laurence in einem der Stun-denhotels; ganz in der Nähe der Haftanstalt. Bei ihr lag noch ein verschmierter Zettel. Auf ihm stand: "Ich lächele und gehe fröhlich. Die Menschen sollen Laurence in guter Erinnerung behalten. Nicht wie eine Kranke, die hässlich, mager, unschön aussah, sondern wie eine Frau, der man Blumen wenigstens ans Grab mitbringt. Adieu."
ARBEITSLOSIGKEIT
Dabei hatte Laurence ihre Strafe schon verbüßt, sich - wieder in Freiheit - bei der Wiedereingliederungs-organisation ARAPEGE, beim Bewährungshelfer um Unterkunft und beim Arbeitsamt gar um einen Job als Verkäuferin bemüht. Doch wie immer widerfuhren ihr Absagen - Fehlanzeigen über Fehlanzeigen in diesen bedrückenden Jahren der Massenarbeitslosigkeit.

Vielleicht zählte Laurence in Fleury-Mérogis zu jenen Frauen, die im Knast letztendlich ihr Zuhause fanden. Meist, wenn Laurence wieder eingeliefert wurde, soll sie sich lauthals mit dem Hinweis getröstet haben: "Wenn man hier rauskommt - das ist das Schlimmste. Wir lernen hier nämlich nicht zu leben. Im Gegenteil. Wir lernen, uns suchtzerfressen an die Tabletten zu halten, auf die Post, auf das Essen, auf den Hofgang, auf die Kommandos zu warten. In der Freiheit bleibt mir nur der Straßenstrich. Für Bauch und Kiff reicht es alle- mal."
ISOLIERHAFT
Als Laurence aus der Haftanstalt entlassen wurde, brachte man ihre Zellennachbarin Joelle gleich für acht Tage in Isolierhaft. Sie hatte es gewagt, eine Wärterin als "unterversorgtes Arschloch" zu beschimpfen. Andere Häftlinge, wie beispielsweise Chantal, weigerten sich wiederholt, "ihr Aspirin"einzunehmen. Die Gefängnis-leitung hat das Recht, weibliche Häftlinge bis zu 45 Tage ohne rechtsstaatliche Kontrolle in eine spezielle Abteilung verfrachten zu lassen. Und Isolierhaft (le mitard) bedeutet in Fleury-Mérogis leere, durchnässte, abgedunkelte Zellen, ohne Decken, kein Besuch, keine Beschäftigung, kein Spaziergang, kein menschlicher Blickkontakt. - Essen wird unter der Tür durch-geschoben.
DURCHLAUF-ERHITZER
Joelle, 28 Jahre alt, ist wegen ihrer Taschenspielertricks hierher gekommen - immer wieder, immer länger. Mittlerweile riskiert sie gar schon einem kleinen Rück-blick. "Als ich hier ankam", erzählt Joelle, "bin ich fast durchgedreht. Ich habe nicht kapiert, was hier vor sich geht. Ich bin mit acht oder zehn jungen Mädchen zusammen gekommen, die sich alle kannten. Ich, so blöd wie ich war, hatte gedacht, dass sie wegen der gleichen Sache hier sind. Aber sie kannten sich allesamt aus Fleury-Mérogis. Ich habe erst hier verstanden, was das bedeutet, im Knast zu leben. Sie waren hochgradig rückfällig. Seit einem Jahr sehe ich sie weggehen und wiederkommen." - Fleury-Mérogis ein Durchlauf-erhitzer.
GRÖSSTER FRAUENKNAST
Fleury-Mérogis - das größte Frauengefängnis in Europa. Haftrevolten, Ausbrüche, Geiselnahmem überziehen ansonsten die französische Republik vielerorts: in Paris, Nancy, Dunkerque oder Nimes. Und immer wieder sind Polizeieinheiten oder gar Kompanien der französischen Armee in Aktion. Nur in Fleury-Mérogis herrscht Fried- hofsruhe. Kein Politiker verliert ein Wort über die Zu- stände im französischen Strafvollzug, mahnt gar Reformen an. Lediglich die Sprecherin der franzö-sischen Grünen, die Ärztin Dominique Voynet (Mini- sterin für Umwelt und Naturschutz 1997-2001), mag sich über die Innenausstattung französischer Gefäng- nisse erregen. Einzelkämpferin. "Entsetzliche Miss- stände", schimpft sie. "Die meisten Frauen in Fleury-Mérogis gehören nämlich nicht in den Knast, sondern ins Krankenhaus , in eine Langzeittherapie. Nein", fährt sie fort, "Frankreich ist dabei, seine Gefängnisse aus Kostengründen für Aids-Kranke als Warteschleifen auf dem Wege zum Tod umzufunktionieren."

1 Kommentar:

justme hat gesagt…

ich war 16 monate da und hab die hölle gefunden, es ist schlimmer!