Samstag, 12. November 1994

Gekämpft, gesiegt - vergessen, verstorben



















































Tausende von Französinnen - wie auf dem Foto 1944 im befreiten Elsass - waren aktiv im Widerstand gegen deutsche Besatzungsmacht. Fünfzig Jahre nach Kriegsende erinnern sich nur wenige an die weibliche Résistance. Dabei war der Sieg niemals männlich, sagt die 89jährige Jeanne Moirod (*1905+1997) aus Oyonnax an der Schweizer Grenze. Sie haben gekämpft, geschossen, Bomben gelegt, wurden verhaftet, vergewaltigt - von der Gestapo gefoltert.

Tagesspiegel, Berlin
vom 12. November 1994
von Reimar Oltmanns


Die Schlachten von einst wurden aus aktuellem Anlass nochmals geschlagen: nunmehr gemächlichen Schrittes von ergrauten Herren. Frankreich zelebriert die fünfzigjährige Gedenkfeier der Befreiung und Selbstbefreiung von deutscher Nazi-Herrschaft.

Frankreich erinnert sich gern seiner Wiederauferstehung als "Grande Nation", die jene dunklen Jahre auch der französischen Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Deutschland vergessen machen soll. Kein anderes Land durchlebt Schmach und Ohnmacht der Besatzungszeit mit seinem Vichy-Regime erneut mit solch selbstquälerischer Genauigkeit wie Frankreich inmitten der neunziger Jahre. In Deutschland mag die Nachkriegs-Ära zu Ende gehen - im Nachbarland Frankreich hingegen scheint die Aufarbeitung jener Schreckensjahre erst begonnen zu haben.
BUSCHWALD

Das pittoresk anmutende Industriestädtchen Oyonnax mit seinen 23.000 Einwohnern liegt im Dickicht des Jura-Gebirges im Südosten der Republik. Hier im unzulänglichen Buschwald dieser Region Haut Jura pulsierte einst die Hauptader des französischen Widerstands.
FRAUEN VERGESSEN
Heute ziehen - wie damals im Jahr 1943 - ehemalige bewaffnete Widerstandskämpfer demonstrativ durch dieselben verwinkelten Gassen auf den Platz zur alten Post um ihrer Toten zu gedenken. Seinerzeit waren auch kämpfende Frauen dabei. Mittlerweile - nach 50 Jahren - sind die Französinnen der Résistance scheinbar spurlos von der Bildfläche verschwunden. Kaum jemand in der französischen Öffentlichkeit kann sich noch fünf Jahrzehnte danach daran entsinnen, dass gerade "les femmes résistantes" das eigentliche Rückgrat jener Befreiungsfeldzüge waren. Ohne die Zehntausenden von Frauen als Waffenbeschafferinnen, Verbindungsagentinnen oder auch als kämpfende Kameradinnen einer Sabotagegruppe - die Republik könnte militärischen Eigenleistungen der Libération wohl kaum für sich beanspruchen. Ein Ergebnis, das Frankreich politisch einen gebührenden Platz unter den Siegermächten der Nachkriegs-Ära einräumte.
7.000 FRANZÖSINNEN INTERNIERT
Die Frauen im Widerstand, sie haben gekämpft, geschossen, Bomben gelegt, sie wurden verhaftet, vergewaltigt, als Informationsträgerinnen von der Gestapo besonders grausam gefoltert. Und sie wurden allenthalben vergessen. Gerade diese Französinnen aber haben mit den Männern obsiegt. Zu Kriegsbeginn gehörten allein 600.000 Französinnen dem Komitee der Frauen gegen den Faschismus an. Unter den dreitausend Agenten, der gaullistischen Alliance waren 700 Frauen. Und im Konzentrationslager Ravensbrück bekannten sich drei Viertel der 7.000 internierten Französinnen zur Résistance.
KUCHENTAFEL ÄLTERER DAMEN
In einem schmucken Häuschen in der Rue Diderot zu Oyonnax treffen sich neuerdings ältere Damen regelmäßig zu einem Kaffeekränzchen bei "unserer Jeanne", wie sie sagen. Alltäglich war der Widerstand französischer Frauen, unspektakulär allemal. Sie heißen Pépette, Lisette oder auch Andrée. Sie sind zwischen 70 und 90 Jahre alt. Unterschiedlich ist ihre Herkunft, gegen-sätzlich sind ihre politischen Anschauungen. Die 89jährige Jeanne war Zeit ihres Lebens Trotzkistin, die 71jährige Andrée freundete sich nach dem Kriege mit den Gaullisten an. Aber eines verbindet die Damen an der Kuchentafel - ihr gemeinsam erlebter, durchlittener Kampf gegen deutsche Besatzer - und das in der Résistance.
AUSBRUCH
Tatsächlich war es auch ein intensives Gefecht gegen die traditionell zementierte Frauenrolle, eine Art emanzipatorischer Ausbruch aus ihrem umzäunten Hausfrauen-Dasein - zeitweilig zumindest. Im Widerstand wurde für manche Französin ein Quäntchen ihrer Vision Wirklichkeit: das eigene Leben selbstständig zu verändern, in Frankreich auch "Kulturevolution" genannt. Bei der Résistance gab es folglich keine Dienstgrade.
KRIEGSERLEBNISSE
Es war gemeinsam mit den Männern erlebte Gleichberechtigung in dieser Ausnahme-Epoche. Ihre Résistance-Kollegin Lucie Aubrac (*1912+2007) sprach sogar euphorisch von der "tiefen und radikalen Bewusstseinsentwicklung durch den Widerstand - auch "von einer neuen Frau", die aus der Résistance entstanden sei. Mithin sind es Frauen-Kriegserlebnisse früherer Jahre, die die Damen entscheidend prägten; Geschehnisse, die des Gesprächs noch bedürfen - augenblicklich scheinbar vergilbte Ereignisse, die die Résistance-Frauen in ihrer Tiefenschärfe nicht ruhen lassen.
MÄNNER-MACHT
In Wirklichkeit offenbart sich die Kuchentafel bei Jeanne zudem als ein femininer Daseins-Verbund. - Eine Frauen-Gemeinschaft alter Damen, die noch fortwährend nach Deutungen dafür sucht, warum nach dem Kriege Frankreichs Männer-Macht die Frauen erneut an die gesellschaftliche Peripherie verbannte. Dabei dürfte sich eigentlich die 89jährige Jeanne Moirod kaum beklagen. Zählt sie doch zu den seltenen Frauen der Republik, die nach 1945 die "Medaille der Résistance" (1.024 Männer und sechs Frauen), gar die "Medaille des Militärs" bekam. Dessen ungeachtet ist es vielleicht gerade die hochdekorierte Frau, die das allseitige Männer-Gebaren beargwöhnt. "Egoisten sind sie. Dieser Sieg war niemals männlich, auch wenn sie jetzt eigene Herren-Gruppen gründen und in den Städten marschierend posaunen. Die Frauen waren und sind einfach viel zu bescheiden."
JAHRE DER JEANNE -
Rückblende: Über sechs Millionen Menschen waren im Jahre 1940 auf der Flucht. Hauptsächlich Mütter mit ihren Kindern schleppten sich durch das Land, organisierten ihr Überleben. Zwei Millionen Männer waren in Gefangenschaft. Und die Deutschen bauten zusehends immer mehr Lager zu Festungen aus. Aus Frankreich war unversehens ein Land der Frauen geworden - im Jura die Jahre der Jeanne.
GESTAPO
Immer nachts, von der Gestapo unbemerkt, schlich die damals 30jährige Hilfsarbeiterin einer Glasfabrik in die unwegsamen Jura-Berge - jedes Mal 30 bis 40 Kilometer, schlecht beschuht, schlecht ernährt, nur mit einer Pistole als Wegbegleiter. Den Bäcker, den Fleischer, den Pfarrer und auch den Lehrer hatte die Gestapo allesamt "wegen Beihilfe zur Sabotage" schon standrechtlich erschossen. Nun lastete auf Jeanne allein die Verantwortung, unbewohnte Berghütten als Versteck ausfindig zu machen - und vor allem, die Kameraden dort auch unbemerkt hinzubringen.
UNTERGRUND
Und es kamen immer mehr Männer, die sich dem französischen Widerstand anschlossen. - Vielleicht einfach auch deshalb, weil sie sich nicht zum Arbeitsdienst nach Deutschland deportieren lassen wollten. Ihr Haus im Ort war unversehens zur Drehscheibe der Résistance im Jura geworden. Hier wurden Untergrund-Zeitungen hektografiert, hier liefen konspirative Adressen zusammen, wurden Schlupfwinkel für Menschen und Waffen ausgesucht. Es war Jeannes Haus - ein Haus in Frauen-Regie.
TOTE UND TRÄNEN
Jeanne sagt: "Wir hatten nicht einmal Zeit, unsere Toten zu beweinen - so sehr stockte der Atem in uns." Gleich nach dem Krieg mit dem vielen zerstörten, nieder gebrannten Gemäuer, als die Not unerträglich daherkam, es keine Wohnungen, kaum Essbares in unseren Kellerverstecken gab, krempelte Jeanne als Vize-Bürgermeisterin von Oyonnax wieder die Ärmel hoch, um die Knappheit zu lindern - vom Widerstand im Gebirge zu den Trümmern in den Städten. "Richtig zur Besinnung", ergänzt ihre Kollegin Pépette, "sind wir erst im hohen Alter gekommen. Erst jetzt fragen wir uns immer ängstlicher, welch ein Glück wir doch an unserer Seite hatten, so heil davon gekommen zu sein."
KAHL GESCHORENE FRAUEN
"Im Widerstand", äußert Andrée, "sind wir andere Frauen geworden. Und dieses Anderssein haben wir uns bis heute bewahrt." Mit einem dezenten Fingerzeig deutet Madame Andrée auf das Nachbarhaus. Dort lebt noch eine Familie, deren Eltern beherzt in der Kollaboration ihr Auskommen suchten. Es sind Wunden, die in Frankreich nicht vernarben wollen; wenigstens in dieser Generation nicht mehr. Folglich ist es für die Frauen ein "Ding der Unmöglichkeit", dass etwa Kinder oder Enkel in eine Kollaborationsfamilie einheiraten. Auch käme niemand auf diese absonderliche Idee, weil sie inzwischen alle hinlänglich wissen, "wie wir gelitten haben, welche Schmerzen es zu ertragen galt". - Vergangenheitsbewältigung auf französisch.
TODESSTRAFEN

Nach dem Kriege wurden 127.000 Kollaborations-Verfahren eingeleitet, 80.000 Gerichtsurteile gesprochen; darunter 6.800 Todesstrafen verhängt, von denen 1.500 vollstreckt worden sind.

Es waren entwürdigende Frauen-Bilder, die um die Welt gingen, die sich vor allem ins deutsche Gedächtnis eingruben: Kahl geschorene Französinnen, die sich mit der Gestapo oder auch Soldaten der Wehrmacht eingelassen hatten. Die alte Dame weint. Ihr Vater wurde von Franzosen verraten, ist erschossen worden. Die Tochter Andrée blieb allein zurück mit ihren zwei kleinen Brüdern. Für beide hatte sie zu sorgen und ihre Freizeit hieß - Widerstand
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FEINDBILDER
Verständlich, dass Résistance-Gruppen zu einer Art Familien-Ersatz gediehen; eben zu einer eingeschworenen Solidargemeinschaft. Es blieb den eigenen Kindern vorbehalten, Tabus anzutasten. Nämlich jene sorgsam gehüteten Vorbehalte im Umgang mit den Deutschen. Als Jeannes erst 16jährige Nichte Pierrette mit einem Schüleraustausch Deutschland besuchen wollte, war Jeannes spontane Reaktion: "Du bist wohl verrückt geworden. Solange ich lebe, fährst du nie in dieses Land, merke dir das!" - Das Mädchen antwortete: "Aber du selber warst es, die mir immer sagte, wir müssen zwischen dem normalen Deutschen und den Gräueltaten der Nazis unterscheiden. Das macht unsere Lehrerin im Geschichtsunterricht schließlich auch." In diesem Moment erschrak Jeanne darüber, wie sie unbedacht alte Feindbilder auf die junge Generation übertrug, unvermittelt weitergab. Und sie antwortete knapp: "Das stimmt schon.Vieles hat sich geändert gehe hin." Zwischenzeitlich ist Nichte Pierrette mit einem Deutschen aus Frankfurt verheiratet. Wenn Jeanne in Widerstandskreisen über Pierrette und ihren Mann Erich spricht, liegt ihr häufig ein Hinweis auf der Zunge - als Rechtfertigung sozusagen: "Er war nicht beim Militär und ist nämlich ein netter Schoko-Bäcker."
FRIEDHÖFE - SOLDATEN-FRIEDHÖFE
Triste November-Tage auf Frankreichs Friedhöfen, auch Soldaten-Friedhöfen. Gedenk-Momente. Fanfarenstöße vielerorts. Jedes Jahr zum 11. November - gesetzlicher Feiertag des Waffenstillstandes im Ersten Weltkrieg - besuchen die betagten Widerstandsfrauen wie Jeanne noch die Grabstätten ihrer im Kriege verlorenen Großväter, Väter und Söhne. Im vergangenen Jahr fuhren sie erstmals auch nach Dagneux - zur deutschen Begräbnisstätte, die östlich von Lyon liegt. Hier fanden 20.000 Gefallene aus beiden Weltkriegen ihre letzte Ruhe. Die Frauen vom Widerstand aus Oyonnax gedachten der Toten beider Länder.
VERGESSEN - NIEMALS

Nur mit einem können und wollen sich viele alte Damen der französischen Résistance nicht abfinden. Als am 14. Juli 1994 erstmals wieder deutsche Truppen im Rahmen des Eurocorps auf den Champs Elysées mitmarschierten, da wurden traumatische Erinnerungen wach. Da haben so manche kurzerhand den Fernseher abgeschaltet. "Sicherlich", sagt Jeanne, "Deutschland und Frankreich sind endlich Partner geworden - vergessen können wir aber nicht."

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