Samstag, 11. Januar 1997

Paradies unendlicher Berglandschaften - Sprungbrett in die Klinik



















Wandel in Skigebieten. Nach Zeiten des Wachs- tums setzen viele Gemeinden auf die Familien. Kinder sind in Frankreichs Bergen besonders gut aufgehoben. Dennoch werden jährlich 90.000 deutsche Skifahrer Opfer eklatanter Pistenunfälle. Für viele Bretternarren ist das Ski-Risiko nur ein Teil ihres Lebensspiels. Lustangst vor dem Rutsch auf langen Ab- fahrten, Riesenabfahrten, Traumab-fahrten.

die tageszeitung, Berlin
vom 06. Januar 1996
und 11. Januar 1997

von Reimar Oltmanns

Erst tauchten sie nahezu unbemerkt vereinzelt auf - die Igludörfer, Schneerutsch- bahnen mit ihren Schlitten-hunden und zuweilen auch Kid-Discos als schmük-kendes Erlebnisszenario in Kinderträumen: dort droben in den abgelegenen, verschneiten französischen Ski-gebieten Savoyen, Hoch-Savoyen, Isère oder auch Drôme. Das war immerhin noch zu jener Zeit, als die alpinen Winterregionen mit über 800 Schnee-kanonen und ihren 420 Liften wie Seilbahnen samt 1.100 Pisten-kilometern mit Wucht und Wolllust am Wildwest-Image eines computergesteuerten Sportzirkus bastelte. - Lang ist's her.

Mittlerweile deuten die unzähligen gefütterten Anoraks, Kunststoffhosen mit Fersensteg und Pudelmützen an, dass in den französischen Alpen und Pyrenäen ein scheinbar neues Zeitalter begonnen hat - die Kinder, die "poussins" (Küken) sind da nicht etwas vereinzelt, sondern in überaus großer Schar.

SCHNEEFLOCKEN-EPOCHE

Vorbei sind die Jahrzehnte des hemmungslosen Wachstums - Zeiten, in denen bedenkenlos Skistationen aus der Retorte gestampft, Berge wegplaniert, Kinder als lästiges Mitbringsel allenfalls geduldet wurden. Trendwandel heißt nunmehr das allseits erlebte Passe-partout des familiären Müßiggangs. Denn Tempo und Rhythmus der Skiorte werden zusehends von einer kunterbunten Kindergeneration bestimmt, Dabei hat sich Frankreich gerade erst die "Schneeflockenepoche der Knirpse", die Ära der "flocons" begonnen. Schon warnt Michel Vion, technischer Direktor für den alpinen Skilauf beim französischen Nationalverband, vor einer dick aufgetragenen Kindermode als unverbrauchtes Antlitz einer neuerlichen Ski-Epoche des Familien-sinns: "Es ist doch absurd, ein achtjähriges Kind mit einem verkleinerten Outfit für Erwachsene als neuesten Trendsetgeschrei über die Pisten zu jagen. Rutschen wollen die im Schnee, nichts weiter."

Nach einer Untersuchung des ADAC sind Kinder im Winterurlaub jedenfalls "am besten in den Skigebieten Frankreichs aufgehoben". Während die Schweizer Konkurrenz sich neuerdings stetig bemüht, ihr Winter-image zu verjüngen, bieten die Franzosen bereits "die besten kindergerechten Übungshänge und spezielle Bébé-Clubs. - Und das praktisch kostenlos, wenn die Kids Lifte oder auch die Pisten in Begleitung ihrer Lehrer benutzen. Zudem bleiben Kinder nicht über Stunden sich selbst überlassen. Für ihre pädagogische Betreuung in Tagesstätten ist rund um die Uhr gesorgt.

QUICKLEBENDIGE KINDER-DÖRFER

Les Ménuires heißt etwa der Skiort in "La Vanoise" (im Dreitäler Eck). Hier gibt es zwei quicklebendige Kinder- dörfer, die von den Kleinen von drei Monaten bis zu sechs Jahren besucht werden können, während die Eltern die Abhänge herunterzischen. Zwei Dorfvereine mit ihrem Gütesiegel "2 Kids" bieten gar schon den Drei- bis Sechsjährigen eine spielerische Einführung in den alpinen Skilauf an.

Gesucht wird vornehmlich auch von den mittlerweile jährlich weit über dreihunderttausend deutschen Skiurlaubern in Frankreich das idyllische Dorf inmitten einer noch intakten Skilandschaft. Besonders im auto- freien Skiort Les Arcs gibt es an den Dreier- und Vierer-Sesselliften kein schneidiges Jet-Set-Getue, keine über-mäßigen Wartezeiten. Der fantastische Schnee ver- hindert zuverlässig vereiste oder abgeschrappte Pisten.

Gerade mit Kindern ist die meist weit angereiste Ur- lauberfamilie am besten im "Basiscamp" Les Arcs, 1.600 Meter über dem Meeresspiegel, aufgehoben. Hier weiche die eher raubeinige Gediegenheit der ewig fortdauernden "Fieberglasbretter-Diskussion" einer freund-lichen, familienbedachte Aufmerksamkeit. Irgendwie ist Les Arcs schon ein Platz zum Luftholen, Durchatmen, Fallenlassen; kein Stressgetue, kein Wichtigkeitsgebelle, leiser Familiensinn ist freundlich gefragt.

SCHNEEVERRÜCKTE NATION

Tatsächlich ist Frankreich schon eine durch und durch "schneeverrückte Nation". Jedes Jahr im Februar organisierten die Schulen der Republik "classes de neige".

Dann ziehen Grundschüler mit ihren Lehrern eine Woche lang in die Berge. Vormittags stehen die Kinder allesamt auf Skiern, nachmittags gibt es normale Schul-stunden. Und nahezu ist es zu Beginn des Skiferien-Unterrichts ein und dasselbe Rateritual dort droben in Frankreichs Bergen um Les Arcs. Da fragt der Lehrer Jean-Luc etwa seine Schüler: "In welchem Jahr holte Jean-Claude Killy eine Goldmedaille, und wann hattet ihr die ersten Knochenbrüche auf den Hängen?" - "Nein, niemals Monsieur".

SPRUNGBRETT INS KRANKENHAUS

Und dennoch ist Kapitän Laurent Thimothèe mit seinem Alouettes-III-Rettungs-hubschrauber im Dauereinsatz. Gerade überfliegt der erfahrene Pilot scharf geschnit-tene Schutthänge, die so aussehen wie Kohlehalden. Hier, in der Westwand der 4.208 Meter hohen Grandes Jorasses im Mont Blanc-Massiv, hat erst vor kurzem eine Eislawine acht Bergsteiger in den Tod mitge-rissen. "Das Risiko", bedeutet der 38jährige Rettungs-flieger von der französischen Gebirgsgendarmerie, "ist schließlich gerade hier in den Alpen ein bizarres Lebens-spiel, das da auf Skiern auch als Snowboard daher-kommt." Und Lawinen rasen überall dort zu Tale, wo Schnee in kahlen Steilhängen liegt - in den Pyrenäen, den Rocky Mountains, den Anden, im Kaukasus - und in den Alpen.

Gerade dort gibt es so viele Lawinen und so viel Ge-wöhnung daran, dass abgeklärte Talbewohner in der Niederfahrt der weißen Massen trotz aller Sorge zudem ein grandioses Naturschauspiel sehen. Durch Ro-dungen der Almen zu breiten Schneeboulevards liegt die Baumgrenze etwa dreihundert bis fünfhundert Meter niedriger als in früheren Jahren.

TRAUMABFAHRTEN

Dafür gibt es hier in den französischen Alpen immerhin sehr lange Abfahrten, Riesenabfahrten, Traumab-fahrten, die den üblichen Rahmen sprengen, die steil und einsam ihre Schleifen über scheinbar unberührte Tiefschneehänge ziehen. In sieben Tagen bekanntlich 600 Kilometer Abfahrten zu bewältigen, so heißt das vorzeigbare Ziel. Täglich an die sechs Stunden über Buckelpisten, Firnschneeflächen und platt-gewalzte Schneeautobahnen zu zischen: zweitausend Meter talwärts und im computergesteuerten Sportzirkus wieder hochliften.


LUSTANGST VOR DEM RUTSCH

Eben die Lustangst vor dem Rutsch, das Abbrechen des Schneebretts, dann die Vibration, der Boden gleitet unter den Füßen weg. Danach Aufruhr, Durcheinander-gewirbelt-Werden, schließlich Ruhe. Blutgefäße platzen unter der Haut. Er hört, gut geleitet durch gepressten Schnee, wie sich das Blut ins Gewebe in die Muskeln ergießt. Ab und zu mischt es sich mit einem Knarzen, wenn die Schneemassen im Lawinenkegel ein wenig nachrutschen. Der zunehmende Druck verschont keinen Körperteil. Nasen und Ohren sind verstopft. Die Augen-lider - unmöglich, sie zu öffnen. Der Mund ist halb mit Schnee gefüllt.

Es ist die Angst vor der Leere und Sinnlosigkeit schlecht-hin, die Angst vor dem Tod, Das ist der unausge-sprochene, aber allgegenwärtige Antrieb für den Kult des durchtrainierten, gebräunten Alpenkörpers, der uns beim Skifahren als Idealbild präsentiert wird.

Für derlei Szenarien stehen die Menschen oft auf dem Wege ins Hochgebirge tagelang im Stau, verbrauchen in der Kälte Unmengen Energie und Ausrüstungsmaterial , das ihnen eine beflissene Industrie bereitstellt: immer neue Bindungen, Fieberglasbretter, fesche Anzüge, Daunenwesten, gekrümmte Stöcke, Helme, Skibrillen ind Bommelmützen für kitzelige Lawinenmomente, Prickelgefühle.

OBEN AM BERG ... ...

Oben am Berg wurden für jene Touristenscharen die Hänge abgeholzt - und erodieren für immer. Das bisschen übrig gebliebene Tierwelt ist längst ver-scheucht. Die schönste, gediegene Landschaft gerät so zum Zirkus. Gewiss - aus der Distanz schaut sie schon majestätisch aus, die beschauliche Welt der Alpen. Da reiht sich Gipfel an Gipfel zum berauschenden Pano-rama. Im Jahre 1938 wurden im gesamten Alpenraum erst rund 50 Millionen touristische Übernachtungen gezählt, inzwischen sind es schon weit über 500 Millionen.

"Die Alpen -ein System unter Druck", betitelte die Genfer Weltnaturschutzunion (IUCN) ihre Studie. Das bedeutet: etwa 12.000 Seilbahnen und Lifte sowie 41.000 Abfahrtpisten mit einer Gesamtlänge von über 120.000 Kilometern zerhacken Landschaften, ruinieren die Umwelt. Und in den Tälern wird es ohnedies stets enger. Dort leben schon heute rund 11,2 Millionen Menschen eng zusammen.

SCHWERSTE VERLETZUNGEN

"In der vergangenen Saison",resümiert Alouettes-Kapitän Laurent Thimothée, "haben wir mit unseren Flügen über 1.150 Bergurlauber in die Heimat gejettet. Dabei hatten sie eins gemeinsam: schwerste Skiver-letzungen. Manchmal war auch ein Sarg mit dabei." Und die Zahl der Skifahrer, für die der Urlaubstag nicht an der Hotelbar, sondern im Krankenhaus endet - diese Anzahl steigt ständig. Vor allem Selbstüberschätzung, Imponiergehabe, Konditionsmangel und der Geschwin-digkeitsrausch abfahrtverrückter Skifahrer führen zu Unfällen. Die Alpen-Bilanz: viermal mehr Wirbelbrüche als noch vor fünf Jahren, dreimal mehr Hüft- und Beckenbrüche, 50 Prozent mehr Kapselverletzungen, 30 Prozent mehr anprallbedingte Kopfverletzungen, oft mit schweren Schädel-Hirn-Traumen. "Die Risikobereit-schaft", erläutert Kapitän Thimothée, "steigt enorm an. In über 80 Prozent der Unfälle sind die Skifahrer ohne Fremdverschulden gestürzt."

HOHE RECHNUNGEN

Eben noch strahlende Sonne und Spaß auf der Piste, dann verkantet, überdreht, Sturz, Spital - und wenn der Schmerz schon längst vergessen ist, die saftige Kranken-haus- und Transportrechnung. Den Statistiken zufolge müssen sich jeden Winter knapp zwei Prozent aller Wintersportler nach einem Skiunfall in ärztliche Be-handlung begeben. Über 90.000 deutsche Skifahrer werden jährlich Opfer eklatanter Pistenunfälle. An die 10.000 landen zur stationären Versorgung im Kranken-haus, über tausend Ski-Unfallopfer tragen bleibende gesundheitliche Schäden davon.

Für einen Oberschenkelhalsbruch in den französischen Bergen macht der Deutsche Skiverband folgende Rech-nung auf: Die Kosten der Bergung, etwa dreiwöchigem Krankenhausaufenthalt und Rücktransport, belaufen sich auf 24.500 Euro. Für knapp drei Viertel dieser Summe muss das Unfallopfer selbst aufkommen, da die gesetzliche Krankenkasse nur cirka 6.700 Euro erstattet.

KRITIKER DER BERGSPORT-INDUSTRIE

"Jeden Winter beweisen es die Alpen dem Menschen aufs neue, dass er nicht dazu konstruiert ist, auf zwei Brettern einen Berg hinunterzufahren", konstatiert Marielle Goitschel, einst frenetisch gefeierte Olympia-siegerin und Weltmeisterin aus dem Jahre 1968. Die heutige Skilehrerin und Direktorin der Schneeakademie von Val Thorens zähl zu den schärften Kritikerinnen der Bergsport-Industrie. "Wir alle rennen in der Winter-saison nur dem Geld hinterher", sagt sie. "Wir schielen auf die Kunden, ohne uns die Zeit zu nehmen, ihnen die Sicherheit zu erklären." Als Marielle Goitschel mir dieses Interview gab, konnte sie nicht ahnen, dass soeben in diesem Moment draußen en siebenjähriges Mädchen auf der Anfängerpiste von einem Schnee-Surfer tödlich niedergerissen wurde.