Sonntag, 20. Oktober 1996

Folklore - Auf der Suche nach verlorenen Zeiten. Leere macht Angst.
























































Konservativ pocht der Zeitgeist zwis
chen Kalkül, Kitsch und Kommerz. Folklore-Gruppe prägen vielerorts Frankreichs Straßenbilder wie im mittelalterlichen Dorf Pèrouges. Großspektakel zur Taufe von Chlodwig in der Kathedrale zu Reims sollen die französische Identität mit der katholischen Kirche als "ältestete Tochter Roms" unzertrennbar dokumentieren.



Frankenpost, Hof
vom 20. Oktober 1996
von Reimar Oltmanns

Das kleine französische Dorf Pèrouges liegt irgendwo verschachtelt auf einem Hügel zwischen Lyon und Genf im Alpenvorland. Die gewundenen Gassen glänzen wie blankgewienert, die Butzenscheiben in den akkurat gestrichenen Patrizierhäusern spiegeln den Müßiggang auf dem unebenen Pflaster wider. Die Straßen haben mit ihren Vordächern und der Wasserrinne in der Mitte nostalgische Vorahnungen an eine längst verschüttete Zeit bewahrt. Nichts, so will es scheinen, kann Pérouges mit seinen 850 Einwohnern das mittelalterliche, malerische Antlitz - die Atmosphäre - nehmen.

Nur zur Weihnachtszeit verliert Pérouges sein inneres Gleichgewicht, weicht die Beschaulichkeit einer angestrengten Habachtstellung im festlichen Gewand. Und Pérouges ist überall in Frankreich - dort, wo zu Weihnachten über Stunden, zuweilen über Tage emsig geschmaust wird, das Festtagsessen der familiäre Höhepunkt schlechthin ist. So betrachtet gerät ein kleines, ansonsten wenig beachtetes mittelalterliches Dorf zum nationalen Mikrokosmos der Esskultur, des Wertewandels, der Rückbesinnung auf Herkunft und Tradition.

Vor dem alten mit Tannen geschmückten Backstein-Rathaus lauert schon frühmorgens Bürgermeister la Guy de la Chapelle. Soeben hat er gerade, wie an jeden Wochentag, seine Büroräume aufgeschlossen. Schließlich werden die Dorfkinder seit Jahrhunderten im Standesamt unterrichtet. Aber irgendwie nistet im Gesichtsausdruck des 54jährigen Bauern Unbehagen.

NESTWÄRME, HERKUNFT

Der Bürgermeister: "Es war für uns unvorstellbar, wieviel Nestwärme die Menschen suchen. Wir werden geradezu überrannt. Dabei sind wir jetzt schon über Jahre ausgebucht und müssen für Weihnachten Platz-karten vergeben." Filmreif schüttelt Guy de la Chapelle vor der Tür immer wieder sein schlohweißes Haupt. Er sieht nämlich sich und sein Pérouges zweckentfremdet. Muss er mit seinen Mannen eigens für Weihnachten das Mittelalter neu inszenieren, und steht zudem eine Essensinvasion bevor?

FROSCH-SCHENKEL, ENTEN-LEBER

Argwöhnisch beäugt der Bürgermeister, wie sich Tag für Tag Lieferantenwagen durch die engen Gassen quälen, um französische Edelprodukte wie Lachs, Austern, Gänse- und Entenleber, Pastete, Morchel-Pilze, Hum-mer, Artischocken, Froschschenkel, Rehkeule, Champagner samt erlesener Tischweine aus den fernen Metropolen anzuliefern - eben durchkomponierte, feinabgestimmte Gaumen-Delikatessen, der üppige Weihnachtsschmaus à la française schlechthin.

SCHWARZ-MARKT

Allein an den Festtagen werden landesweit an die 30.000 Tonnen Lachs verspeist. Aus gutem Grund observieren mittlere private Wachgesellschaften die aufgedehnten Austernbänke des berühmte Zuchtgebietes von Marennes-Oleron am französischen Atlantik. Gerade vor den Weihnachts- und Neujahrs-feiertagen steigt nämlich der nächtliche Diebstahl rasant an. Die Austern werden in "kleinen Mengen" von 200 bis 300 gestohlen und auf dem schwarzen "Weihnachtsmarkt" mit hohem Gewinn abgesetzt.

Noch wenige Tage vor dem Fest rattern Transit-Trans-porter mit Frischhalte-Containern durch Pèrouges. Sie liefern quasi in letzter Minute jene exquisiten Zutaten, die die Tageszeitung Le Monde erst kurz vor Festbeginn als gesellschaftlich "en vogue" erkor. Ergo hagelt es Nachbestellungen. Schließlich mag wohl keiner sich so recht mit dem Mahl gestriger Tage in der renommierten "Ostellerie du vieux´Pérouges" zeigen. Nur von den gut bekömmlichen,existenzgeplagten Bauern-Produkten aus heimischer Region wissen die Speisekarten freilich nichts zu berichten. - Fehlanzeige.

KELLNERINNEN MIT SPITZENHÄUBCHEN

Gewiss - Pérouges mit seiner gotischen Galerie hat sich längst zur diskreten Weihnachtsadresse des betuchten französischen Bürgertums aus dem Lyoner Dunstkreis empor empfohlen. Schon Wochen vor dem Fest dürfen Kellnerinnen in der historischen Ostellerie von Pérouges nur noch mit gestrengen Spitzenhäubchen ihre Gäste bedienen. Die Innenausstattung duldet lediglich go-tische Möbel und Tapisserien, Zinn und einen großen Kamin - heimelnde Gemütlichkeit ist gefragt. Vor dem alten Restaurant aus dem 13. Jahrhundert wacht eine uralte Linde aus den Revolutionszeiten majestätisch auf ihrem weiträumigen Vorplatz. Keine Fernsehantennen oder Stromleitungen stören den Blick zurück ins Mittel-alter. Am Heiligen Abend singen Folklore-Gruppen aus der Region in alten Trachten Weihnachtslieder vergangener Tage.

PRIESTER SPIELEN MITTELALTER

Enge Menschentrauben schieben sich um Mitternacht in feinem Zwirn betulich zur Messe. Auch Priester André Gondin spielt Mittelalter. "la France, la Grande Nation, ist immer die älteste Tochter der katholischen Kirche gewesen", verkündet er selbstgewiss von der Kanzel und fügt hinzu: "Geboren von christlicher Mutter, Vater unbekannt." Dieser Satz ist mittlerweile schon zur Legende von Pérouges geworden. Denn ein jeder weiß, dass Priester Godin ihn Jahr für Jahr als Auftakt zur Oblate wiederholt.

KIR VON DIJON

Weihnachtstage in Frankreich - Zweifelsohne pocht die französische Befindlichkeit wieder konservativ. Über 30 Millionen Menschen dürfen nach Hochrechnungen der Meinungsforschungsinstitute zum Jahresende wieder Gottesdienste besuchen oder sich als Glaubenstouristen in kurzweilige kirchliche Obhut begeben.Der Domherr Kir von Dijon - Erfinder des Aperitifs aus Weißwein und schwarzem Johannesbeerlikör - hatte bereits am 23. De-zember im Jahre 1951 auf dem Vorplatz Saint Benigue seiner Kirche die öffentliche Verbrennung des Weih-nachtsmannes als "Ketzer und Kinderlump" ange-ordnet. Einfach, weil er nach Maßgabe des Erzbischofs von Toulouse, Kardinal Saliège, eine Erfindung der Amerikaner, der Schlauen - somit der Jesus-Feinde sei.

Seither ist nach offizieller Lesart der Kirche Frankreich zumindest "weihnachtsmannfrei". Ein offenkundig dramatischer Umstand, der die Gemüter auch nach Jahren seiner Exekution nicht ruhen lässt. So mutmaßte das einstige Massenblatt "France Soir" in einer groß aufgemachten Schlagzeile: "Dijon erwartet die Aufer-stehung des Weihnachtsmannes." Und die vornehmere Tageszeitung "Le Monde" befand: "Es geht zu wie zu Zeiten des Religionskrieges."

FOLKLORE-FASSADEN

Jahre kommen - Jahrzehnte vergehen im Flug - ausnahmslos zur Weihnachtszeit sind es immer wieder Frankreichs Staatspräsidenten, die hinter Folklore-Fassaden Sein und Sinn auszumachen verstehen. Einst brachte François Mitterrand (1981-1995) die Gemüts-lage seines Landes auf den Satz: "Die Rebublik befindet sich in einem Zustand der Sehnsucht." Für seinen Nach-folger Jacques Chirac (1995-2007) ist gar die "franzö-sische Identität mit dem Katholizismus untrennbar verbunden".

KARDINÄLE UND KATHEDRALEN

Schon die Feierlichkeiten zu Reims um den identi-tätsstiftenden Chlodwig, den Begründer des großen Franken-Reiches, hatten in vergangener Zeit für allerhand wohl bedachten Wirbel gesorgt. Moment-aufnahmen aus dem Département Marne - neuerliche Chlodwig-Zeiten, Folklore-Zeiten : Ein Fahnen- und Flaggenmeer sowie schwitzende Menschenmassen säumen den breiten Pilgerpfad. Baseballkäppis, Kruzi-fixe und ständig surrende Videokameras allüberall, als gelte es im französischen Reims, dem gallischen Durocotorum, einen neuen Klerikalismus mit Kitsch und Kommerz fürs kommende Jahrtausend sendungs-bewusst wachzuküssen. Stunde um Stunde dröhnen Busse stadteinwärts, Touristenarmada campiert vor Kirchen und Verladebahnhöfen.

WELTKULTUR-ERBE

Entlang der Kathedrale zu Reims, der Krönungskirche der Könige von Frankreich, schmücken Zehntausende von Katholiken altehrwürdige Gassen und Kirchen-plätze. Anders als das vom Weltstadtfludium durch-zogene Paris konnte Reims so manches von seiner altertümlichen Eigenwilligkeit noch bewahren. Allein vier seiner historischen Bauwerke wurden von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt.

Schon seit Monaten gedenkt die Nation in zigfachen Ereignisjubiläen des Barbarenherrschers Clodwig I. (französisch Clovis); eines Königs, der mit Tücke und Grausamkeit das große Franken-Reich zimmerte. Chlodwigs Oberhoheit erstreckte sich bekanntlich im Jahr 507 über das gesamte Gebiet zwischen den Flüssen Loire, Garonne und Rhône mit Anschluss an die rhei-nischen Franken in den Städten Köln, Mainz und Trier. Zweifelsfrei hat er damit das Fundament des Abendlandes gelegt.

Dadurch, dass Frankreich von dem dominierenden Frankenstamm den Namen für sein Land übernahm, verewigte sich Chlodwig zudem seinen französischen Anteil an der Neuordnung des Kontinents. In Deutsch-land hingegen blieb die Kombination mit Stadt- oder Landschaftsbezeichnungen wie Frankfurt, Main-Franken oder die Fränkische Schweiz, Frankenwald und Ober-, Mittel- und Unterfranken ein unverbindliches Monogramm der Geografie. Seit 486 war Reims Chlodwigs Königssitz und später auch sein Sterbeort - somit eine Schatzkammer der nationalen Geschichte - auch seiner bis dato konservierten Gefühlswirren.

GEFÜHLSWIRREN NEUER ALLIANZEN

So und kaum anders machen sich französische Politiker konservativen Zuschnitts und die katholische Kirche des Landes dran, eine bisher nie dagewesene Allianz zu schmieden. Ein Chlodwig-Jubiläum von fünfzehn-hundert Jahren wird als Auftakt dazu benutzt, den neuerlichen Pakt zwischen dem französischen Staat und seinen Bischöfen zu zementieren.

Hintergrund dieses Kalküls: Die Neugaullisten um Staatspräsident Jacques Chirac zielen darauf ab, die französische Identität mit dem Katholizismus un-trennbar zu verknüpfen. Geht es schließlich doch darum, die laizistischen Fundamente des Landes zu neutralisieren, die revolutionär geprägte Geschichte der Republik in den Köpfen der Franzosen erkennbar an den Rand zu drängen.

CHLODWIGS EDELSEKT

Eine Millionen Euro stellte Frankreich für den 1500. Jahrestag zur Verfügung, ließ für das Großspektakel in Reims exakt hundert Wissenschaftler einfliegen. Und natürlich das Kommerzielle: in Reims, der Champagner-Stadt, sprudelte anlässlich der Feierlichkeiten Süffiges der Marke "Chlodwigs Edelsekt", und Chlodwigs Senf-gläser zieren manche Schaufenster der Altstadt.

Offenkundig so ganz vergessen ist jene nunmehr un- rühmliche Revolution der Franzosen von 1789. Schließ- lich war sie antiklerikal, weil die Kirche sich immer als enge Verbündete der mächtigen Monarchie empfohlen hatte. Schritt um Schritt beseitigte die Dritte Republik (1870 bis 1940) die letzten Bastionen der Kirche im Staat: 1882 entfiel der Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen, und 1905 wurden Kirche und Staat getrennt. Die Kirche in Frankreich, wo sich über 80 Prozent der Bevölkerung zum katholischen Glauben bekennen, firmiert seither rechtlich als ein privater Verein.

AUFTRITTE DER RECHTSRADIKALEN

Allerdings: Unter dem Motto "Treiben wir den Papst-Besuch ab" (Avortons la venue du pape") riefen die größte Freimaurervereinigung "Grand Orient des France" und in Protestanten zum Papst-Boykott in Sachen Chlodwig auf. Ein Bündnis aus Linken, Grünen, Trotzkisten und Antirassisten - darunter die frühere Ministerin und derzeitige Bürgermeisterin von Lille, Martine Aubry, Tochter des langjährigen Spitzen-Europäers Jacques Delors. Allesamt wehren sie sich gegen die neuerlich verordnete "Geschichtsschreibung", die Chlodwigs Einstieg ins Taufbecken quasi als Gründungsakt des französischen Staates sieht.

IMMER WIEDER JEANNE D'ARC

Denn kein anderer als der rechtsradikale Präsident der Front National, Jean-Marie Le Pen, versteht es mit Geschick, für seine Kampagne gegen die "religiöse, kulturelle und moralische Unterwanderung" zu Felde zu ziehen, "die unser Land entchristianisiert" hat. Mit ähnlicher Diktion versucht Le Pen seit Jahren, die Nationalheilige Jeanne d'Arc zur sich zu reklamieren. Mittlerweile ist die Front National die drittstärkste politische Kraft des Landes - und kein Regierungs-politiker wagt es mittlerweile mehr, Le Pens Auftritt vor der Kathedrale in Reims zu verhindern. An den Vor-platzständen lagen neben religiösen Schriften auch verbotene Publikationen über "das jüdische Frankreich". Aber auch Postkarten zu Ehren der seinerzeit in Algerien agierenden OAS-Terroristen oder Aschenbecher mit der Pétain-Losung "Travail, Famille, Patrie" (Arbeit, Familie, Vaterland) waren zu haben - 1,50 Euro das Stück. Frankreich, das Land der alten, unvergessenen Kämpfer, La France ein Fahnenmeer.

Es war der vielzitierte Pariser Soziologe Alain Tour- raine, der jene üppigen Festzeremonien zu Reims zum Anlass nahm, auf die gesellschaftliche Zerrissenheit des Landes hinzuweisen. Er sagte: "Wir leben im politisch und sozial leeren Raum. Und Leere macht Angst." - Clodwig alias Clovis lässt grüssen.