Samstag, 6. April 1996

Sinnlich und lebendig - dezent und dekorativ - Lyon






Reisende zum Mittelmeer kennen oft Lyon nur mit Tunnelblick. Die Nord-Süd-Verbindung Autoroute du Soleils unterquert die Rhône-Metropole an der Westseite der Altstadt. Dabei ist Lyon ein Klassiker unter den französ- ischen Kulturzentren mit Oper, Theater, Museen, Marionetten, Bibliotheken, Licht- festivals, weltberühmter Gastronomie und einer Alt- stadt, die die UNESCO zum Welt- kulturerbe erklärte. Nirgendwo erschließt sich die französische Seele mit ihrer Lebensart wahrhaftiger als in dieser Stadt - dem "Vieux Lyon".

STRAUBINGER TAGBLATT

vom 6. April 1996

von Reimar Oltmanns



Ein diffuses Mittagslicht malt Lyon in weichen Pastell- tönen. Anmutige Renaissance-Bauten aus dem 16. Jahr- hundert liefern zwischen den Flüssen Rhône und Saône ein dichtes Architektur-Panorama aus zwei Jahrtausen- den. Geradewegs spiegelt sich Antlitz der einstigen Seiden-Metropole Lyon - zwischen Ile de France und Provence, zwischen Alpen und Atlantik - das verborgen gehaltene französische Savoir-vivre wider. Romantisch angehaucht pulsiert auf kleinen Plätzen diskretes Eigen- leben. Lauschig sind die Winkel, verschwiegen die Gassen, edle Fassaden. Vielleicht nirgendwo erschließt sich dem Fremden die französische Seele und Lebensart ruhigen Blickes wahrhaftiger als in dieser Stadt - dem "Vieux Lyon".

TRABOULES

Durch Gänge und Treppenhäuser gehen die Menschen durch ein labyrinthisches Gewirr der Traboules, deren Passagen sich hinter ganz normalen Haustüren ver- bergen. Allzu leicht kann man sich verlaufen. Traboules - aus dem Lateinischen "transambulare" - hinüber- spazieren - sind Durchgänge zwischen zwei parallelen Straßen. Sie offenbaren zudem ein Quäntchen der Identität dieser Stadt, die vor allem während der deut- schen Besatzung im Zweiten Weltkrieg die Résistance zu nutzen verstand.
MYSTISCH - UNTER DENKMALSCHUTZ
Eben die Treppe, die in ein Kellerloch zu führen scheint, mündet in die nächste Straße. Der Gang, auf dem man dem Tageslicht zustrebt, endet vor einem verrosteten Eisengitter. Das wahre oder auch mystische Lyon - ein Labyrinth unter Denkmalschutz seit 1962 - verbindet auf raffinierteste Weise nicht nur Haus mit Haus und Hof mit Hof, sondern auch Gasse mit Gasse.
LYON - LINKS LIEGEN GELASSEN
Nur den meisten deutschen Reisenden ist auf ihren Urlaubswegen gen Süden Lyon allenfalls als Verkehrs- hindernis auf der "Autoroute du Soleil" haften ge- blieben. Ganz nach der Faustregel: Lyon muss eben passiert werden, wenn die Ferienzeit am Mittelmeer hastig von Norden nach Süden oder von Osten nach Westen drängt. Vorbei durch Unterführungen und den obligatorischen Stunden-Stau vor den zigfachen Tunnellöchern, etwa dem längsten namens "de Four- vière". Eiligst vorbei an den hässlichen Vorstädten, an Ölraffinerien und verschmutzten Rangierbahnhöfen samt erkaltetem Gewerbegebiet. Nun endlich, Stund' um Stund' - das Verkehrshindernis Lyon ist gemeistert: der Urlaub kann beginnen.
REPUTATIONS-PROFIL
Noch nie hat Lyon im Reputations-Profil der Massen-Gesellschaft mit ihrem Massen-Geschmack einen Anflug von Attraktivität besessen. Lange döste die Kapitale der Region Rhône-Alpes mit ihren 1,3 Millionen Menschen im Dornröschenschlaf. Mit insgesamt 420.000 Stadt-Einwohnern ist Lyon nach Paris und Marseille Frank- reichs dritte Metropole. Aber all zu lange stattete die Pariser Meinungsindustrie privater Medien, Verlage und Werbeagenturen - wohl bedacht aus Konkurrenz- gründen - Lyon mit dem festgezurrten Imagebefund einer arglosen Magd aus; eben langweilig, genügsam, nichtssagend, farblos ohnehin.
MARIONETTEN-THEATER
Dabei erlebt Lyon gerade mit seinem vitalen Lebens- gefühl in den neunziger Jahren einen steilen Aufstieg - mitunter auch einen lang ersehnten, verborgenen Durch- bruch. Da gibt es Freilichtkinos auf den Plätzen der Stadt, im Musée des Baux-Arts eine Filmreihe mit Sujets aus der Kunstgeschichte, Vorträge zu Filmtechnik, Sym- posien mit Konzerten zu Filmmusik und -tanz, oder eine eigenwillige Adaption zur Kinokomödie im Marionetten- theater "Le Guignol de Lyon". Sogar die Opéra präsen- tiert sich unter dem Titel "24 Bilder in der Sekunde" - ein eigens zu Ehren der "Lumière 95" kreiertes Ballett.
CITÉ INTERNATIONAL
Da entsteht am Ufer der Rhône mit dem Kongresspalast der Cité International ein markanter Baustein der multi- funktionalen Kommunikationsgesellschaft mit seinen zweitausend zusätzlichen Arbeitsplätzen. Industria- lisierung, Kunst und Touristen-Komfort haben in Lyon zu einem seltsamen dynamischen Wachstum, zu einer neuartigen, bislang verpönten, da arg fremden Sym- biose beigetragen. "Dieses Konzept, Arbeitsplätze aus der High-Tech-Fabrikation und dem Pharma-Sektor mit einer Urlauber-Infrastruktur zu verbinden, das ist unser Erfolgsgeheimnis", schmunzelt Lyons Bürgermeister Raymond Barre (*1924+2007).
ZEUGNIS STOLZER VERGANGENHEIT
Die malerische Altstadt Lyons ist eingefasst von den Flüssen Rhône und Saône. Sie gilt als Europas größtes, fast vollständig intaktes Renaissance-Quartier. Der Stadtkern besteht aus vier Flussufern, zwei Hügeln und einer Halbinsel. Auf der langen Landzunge beim Zu- sammenfluss von Rhône und Saône, der "Presqu'ile" stehen hohe, stattliche Wohnhäuser aus einer Zeit, als Lyon Europas Seidenmetropole war. Bis heute ist sie das Zentrum mit prachtvollen Bauwerken an geräumigen Straßenzügen und weiten Plätzen wie der "Place Belle- cour" mit 60.000 Quadratmetern eines der schönsten und größen Europas, als Zeugnisse einer reichen und selbstbewussten Vergangenheit. Vielerorts umschließen Kirchen oder auch Kathedralen eine nahezu über Jahrhunderte fast unberührt gebliebene Bausubstanz. Allen voran das Rathaus (Place Terreaux) und der Palast Saint Pierre, in dem das Museum der Schönen Künste residiert (Rue du Président Edouard Herriot).
HEIMAT DES TUCHES
Vom 15. bis 19. Jahrhundert reiste vornehmlich die feine Gesellschaft Europas nach Lyon, wenn sie sich standes- gemäß einkleiden wollte. Denn hier - und nicht etwa in Paris - liegen die Wurzeln weltberühmter französischer Tücher. Mittlerweile sind Mode und Seide nach Paris oder zu verbilligten Massenproduktion nach Hongkong ausgewandert. Etwa 80 Prozent der angeblichen Lyoner Seide werden heute in Hongkong oder China hergestellt. Lediglich das edle Material etwa für die Tücher von Hermes oder Garn für Yves Saint Laurent (*1937+2008) kommt noch aus Lyon - noch.
WELT-METROPOLE DER GASTRONOMIE
Aber immerhin in einem hat die Stadt an der Rhône ihre Kontinuität bewahren können - mit einem unverkenn- baren Gaumen als Weltmetropole der Gastronomie. Wer vorhaben sollte, sich in Lyon und Umgebung durch die Sterne-Restaurants zu essen, benötigt dafür min- destens vierzehn Tage. Keine andere Region Frankreichs kann auf derart viele Auszeichnungen des Restaurants-Führers "Michelin" verweisen.
CHARMANTE BOUCHONS
Gleichwohl besteht die Lyoner Küche keineswegs nur aus den sinnlichen Kreationen eines Paul Bocuse, George Blanc, Alain Chapel oder auch Philippe Cha- vent. Zu den Besonderheiten von Lyon gehören ins-geheim die kleinen Kneipen, "Bouchons" genannt. Sie haben sich über all die Generationen kaum verändert. Früher stärkten sich da die Kutscher, heute verkehren in den "Bouchons" eilige Geschäftsleute und Touristen. Es ist nur der Patron, der seinen Gästen scheinbar Selt- sames empfehlen darf - Kutteln, Würste oder auch Innereien vom Schwein zählen zweifellos zu den Deli- katessen á la lyonnaise - bei gutem Wein.
BEAUJOLAIS, CHARONNAY
Dabei wissen Reben-Kenner längst, dass Lyon nicht nur aus dem renommierten Wein der Marke Beaujolais besteht. Nördlich von Lyon breiten sich nicht nur seine Weinberge aus. Goldgelb leuchtet der steinige Boden dieser Gegend. Unverändert besteht hier fürs Lyoner Kneipiers die Sitte, beim Weinbauern zu degustieren und die bevorzugten Flaschen an Ort und Stelle zu kaufen. Dort, wo noch nach Möglichkeit die hölzernen Traubenpressen und die großen Fässer den hoch- modernen Apparaten trotzen - etwa beim Weinbauern Alain Trischetti im nördlich gelegenen Örtchen Seillon- naz an den steilen Hängen im Alpen-Vorland. Seine uralte Sitte des Kelterns ist plötzlich in den Lyoner Bars gefragter denn je, "weil unser Geschmack vom Pinot oder Chardonnay einen unwiderstehlichen Atem hat."