Samstag, 20. Juli 1996

Erkaufter Traum aus alten Steinen



























































Ob Geldwäsche für Tokio-Clans
oder ein erlesenes Lustobjekt für Michael Jackson(*1958+2009) samt Anhang: Frankreichs Schlösser und Burgen werden oft aus Geldfnot verscherbelt. Burgruinen schmücken Landschaften von der Loire bis Versailles. Auch Voltaires Château in Fernet an der Schweizer Grenze sollte unter den Hammer kommen.


die tageszeitung, Berlin
vom 20. Juli 1996
von Reimar Oltmanns

Besucher strömen seit kurzem durch das Portal des Schlosses Fernet-Voltaire an der französisch-schwei-zerischen Grenze. Die Autostraße schlängelt sich durch den Jura, einer kleinbäuerlich geprägten Landschaft entlang der Alpenperipherie. "Noch einmal", seufzt die 66jährige Winzerin Martine Dupré, "wollen wir in der Illusion ertrinken, einer längst verblichenen Zeit Frank- reichs ganz nah zu sein. Wenn der Château-Ausverkauf der Republik so weitergeht, kann es bald schon zu spät sein. Irgendwie ist es schon ein bisschen der Ausverkauf unsere Seele."

VERFALLEN - VERWAHRLOST

Acht Schlösser im Wert von insgesamt knapp 95 Millionen Euro sind über Nacht von einer in Tokio sitzenden Gesellschaft - Yokoi-Clan - erworben, ausgeräumt und schließlich der Verwahrlosung über-lassen worden. Schlösser als Geldwaschanlage für internationale Schiebereien, illegale Transaktionen, Rauschgiftgeschäfte. - Schlösser als Verschnaufquar- tiere russischer Mafiabosse, mitunter auch eines funda- mentalistischen Emirs. Und ein erlesenes Château für den profitablen multimedialen Freizeitzirkus des amerikanischen Popstar Michael Jackson. Er darf sich seit jüngster Zeit Eigentümer des Schlosses Chabenet nennen. Einer Burg aus dem 15. Jahrhundert in der Ortschaft Pont-Chrétien im Département Indre - mit acht Türmen, 82 Räumen samt Fahrstuhl und eines Schwimmbeckens: dazu einem Gelände von 17 Hektar für 12 Millionen Dollar.

ROMANTIK EINES VICTOR HUGO

Dabei gehören die 40.000 historischen Gemäuer zum Herzstück der großen touristischen Attraktionen des Landes, locken Jahr für Jahr Millionen Besucher aus aller Welt an - die romantisch verklärten Adelssitze, Schlösser und Schlösschen, Burger und andere ge-schichtsträchtige Bauten.

So besichtigen im letzten Jahr über 850.000 Menschen die Perle der Loire-Schlösser, das Château de Cham-bord - von Versailles mit seinen 3,2 Millionen Besuchern ganz zu schweigen. Das Schloss Chambord, unter François I. im Jahr 1519 gebaut, ist mit 440 Räumen das größte Loire-Schloss und liegt im größten Park Europas.

NATIONALES ERBE

In Frankreich sind mehr als 24.000 Bauten,Burgen und Schlösser zwischen dem 10. und dem 15. Jahrhundert befestigt worden. Nur eine zarte romantische Liebe, die etwa von einem Victor Hugo (*1802+1885) unnach-ahmlich gepflegt wurde, konnte sich freilich kaum gegenüber der mittelalterlichen religiösen Kunst be-haupten. Mit der Folge, dass der Erhalt von Burgen und Schlösser im Gegensatz zu Kirchen oder auch Kathe-dralen sträflich vernachlässigt worden war. Allein 1.500 Châteaux hat der Staat nunmehr zum schützenswerten nationalen Erbe erklärt. Zwei Drittel davon, rund tausend Schlösser, sind in Privatbesitz.

EIN CHÂTEAU FÜRS PUBLIKUM

Die meisten, die nun als Ruinen Landschaften schmük-ken, genießen kein besonders Augenmerk. Lange Zeit haben die Behörden gezögert, sie unter Denkmalschutz zu stellen. Einfach aus Angst, enorme Renovierungs-kosten zahlen zu müssen. "Classé", zum Denkmal klassi-fiziert, lautet das Prädikat, das die Gelder mindestens zu 50 Prozent fließen lässt. Wobei jede Baumaßnahme von einem staatlich beauftragten Archi-tekten abgesegnet werden muss. Gebäude werden als "classés" anerkannt, wenn "deren Aufrechterhaltung von öffentlichen Interesse ist hinsichtlich der Kunstgeschichte" (Gesetz vom 31. Dezember 1913). Dann ist es möglich, immerhin 100 bis 50 Prozent der Renovierungs- und Unter- haltungsausgaben steuerlich abzusetzen. Vorausge-setzt, dass das Château für Publikumsvisiten zu- gänglich ist.

AN SEKTEN ZU VERMIETEN

Indes: Wenn ein französisches Schloss aus dem 17. Jahrhundert für eine Monats-miete von einem Euro angeboten wird, so offenbart jene Offerte den Palais-Zustand der Nation.

Im südfranzösischen Dorf Pointis-Inard diente das dortige Schloss bis vor kurzem als Ferienpension. Allmählich verfällt es. Wie und wo Gelder für dringende Erhaltungs-arbeiten (bis zu 800 Millionen Euro) aufzutreiben sind, weiß keiner. Bürgermeister Jean-Louis Puissegur kann partout keine kapitalkräftigen Schlossmieter finden. "Bald bin ich durch dieses Château-Problem so weich gekocht", gesteht der Orts-vorsteher, "dass ich es auch an eine ordentliche Sekte vergeben würde. Hauptsache, vermieten. Das bringt Geld."

LANDSCHAFTEN BLUTEN AUS

Vertrieu. ein Dorf im französischen Bugey mit 12o Einwohnern, trägt den Namen seines Schlosses. Es gehört zu den villages mourants (sterbenden Ge-meinden), dem schleichenen Verfall preisgegeben. Jedes Jahr verlassen nach Schulabschluss um die zehn Jugendliche den Ort. Die Landwirtschaft vermag sie nicht zu halten. Und der gewinnbringende Tourismus rast am Ort Schnurstraks vorbei. Schloss Vertrieu scheint keine Reiseführersehenswürdigkeit zu sein, und auch ein schnell bewältigter Rundgang bringt keinerlei Aufschluss. Dafür ist es eine unbewohnte Ruine, irgend-wie ein Dornröschenschloss geblieben. Eben ein Schloss, das seit neun Jahrhunderten Erbstück - "Mitgift" war. Frauen haben stets am Spieltisch eine besondere Rolle gespielt. Meist ist hier ihr "Nennwert" wie auf einer Pferdever-steigerung ausgehandelt worden. Kein Wun- der, dass nicht ein einziges Möbelstück jener wirren Zeitläufte unbeschadet überstand, das Gemäuer mittler-weile Risse zeitigt.

Was soll aus dem Schloss werden: Wohnsitz, Museum, restauriertes Denkmal in alterloser Vollkommenheit? Seit Jahren finden weder Eigentümer noch Behörden eine Antwort. Da hilft nur Madame Cantin - gebeugte Haltung, graue Löckchen, blaue Kittelschürze - aus dem Casino-Laden mit ihrem obligaten kessen Sprüchlein wegweisend weiter: "Ach, Dornröschen folgt den Körb-chen und Fröschen!" Aber wo ist der reiche Prinz, der das Château einfach heftig wachküsst? fragen sich alle Beteiligten. Achselzucken.

WARTEN AUF GELD-ADEL

Im Örtchen Ferney-Voltaire hat Bürgermeister Georges Vianès vor dem Schriftstellerdenkmal einen Fototermin mit Lokalreportern. "Wenn der Name Voltaire bei der Französischen Revolution nicht an das Wort Ferney angehängt worden wäre, hatte keiner gewusst, wer wir sind. Ob Sekten, Scheich oder Geldadel - unser Schloss wäre längst nach den Gesetzen des Marktes für min-destens fünf Millionen Euro unter den Hammer ge-kommen." Zwei Dutzend Städte im Osten Frankreichs kämpfen gemeinsam um die Rettung des Schlosses. Zur Zeit gehört das aus dem 18. Jahrhundert stammende Gebäude zwei über 80 Jahre alten Frauen, die das An-wesen abzugeben trachten. Sie sehen sich nicht in der Lage, das Château weiter zu erhalten. Aufflammende Erbstreitigkeiten unter ihren sieben Kindern und drei-zehn Enkeln diktieren zudem Preise wie Verkaufs-absichten.

HERRENSITZ MIT PRIVATTHEATER

In diesem feudalen, geschichtsträchtigen Herrensitz mit Park und Privattheater lebte François Marie Arouet, der sich Voltaire nannte, von 1758 bis zu seinem Tod im Jahre 1778.

Mit seinen herben Versen gegen "Seelentyrannen" und "Feinde des Menschenge- schlechts" verstand Voltaire es schon damals, die öffentliche Meinung zu mobilisieren und in Frankreich jenen streitbaren, intellektuellen Liberalismus zu etablieren, der in Emile Zola (*1840*1902), Anatole France (*1844+1924), Romain Rolland (*1866+1944) und Jean-Paul Sartre (*1905+1986) würdige Nachfahren fand.

HEIMSTATT DES VORDENKERS

Im Schloss zu Ferney schrieb Voltaire seine meist-gelesene Erzählung "Candide oder die beste Welt" und zahlreiche andere Werke. Der Aufklärer Voltaire hatte es nicht zuletzt erworben, um der Pariser Zentralgewalt durch Flucht über die Grenze zu entgehen. Gebäude und Mobiliar stehen heute unter Denkmalschutz. War doch hier die einst verfemte, heute unisono einverleibte Heimstatt des großen Vordenkers bürgerlicher Frei-heiten - somit ein Stück französischer Identität - zu Hause.

"Aus Respekt vor Voltaire und seinem Kampf für die Freiheit", erklärt der arg nervös gewordene Kulturamts-leiter Alex Decotte, "müssen wir alles tun, damit das Château nicht in falsche Hände gerät." Er will im Sinne Voltaires einen Treffpunkt für Exilanten, Schriftsteller und Verfolgte einrichten. Und Bürgermeister Georges Vianès frohlockt: "Für McDonald's ist Voltaires Schloss zu teuer." - "Noch", fügt er mit einer besorgten Vorahnung hinzu.





















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