Samstag, 7. Dezember 1996

In Provinzen der Republik:Pasionaria der Penduletten

























Soziale Auseinandersetzungen in Frankreich werden härter, die Schere zwischen arm und reich öffnet sich. Der Produktionsfaktor Mensch ist in Westeuropa im postindustriellen Zeitalter des Börsen orientierten Profits zu teuer, überflüssig geworden. Arbeit wandert in "Billig-Lohn-Länder" aus. Über fünf Monate lang besetzten Arbeiterinnen die in Konkurs geratene Uhrenfabrik "L'Epée" im ostfran-zösischen Montbéliard. Mit Betriebsrätin Noelle Grimme an der Spitze kämpften 40 Frauen für Erhalt ihrer Arbeitsplätze. Vergeb-lich. Mit Knüppeln und Granatwerfern der Sonderpolizei CRS wurden die Fabrikbe-setzerinnen verdroschen - verjagt.


Frankfurter Rundschau
vom 7. Dezember 1996
von Reimar Oltmanns


"Mozart" heißt der kleine Penduletten-Musikkasten vor dem Betriebsrätin Noelle Grimme steht. Die klaren Noten klingen noch einmal durch den Ausstellungs-raum: Restposten. Konkursmasse. Um Madame Noelle herum zeugen Penduletten im Musikgehäuse, Reise- oder Offiziersuhren von der Geschichte der Manufak-tur "L'Epée", einer Uhrenfabrik, die im Vorwort Sainte Suzanne des ostfranzösischen Städtchens Montbéliard im Jahre 1839 gegründet worden ist.

RAFFINESSE UND PRESTIGE

Mit der Hand streicht Noelle behutsam über das glän-zende Messing. Zwischen Zeigefinger und Daumen greift die Betriebsrätin den Henkel und hält eine kleine Standuhr demonstrativ nach oben. "All diese Kunst-werke französischer Raffinesse und Prestige", verrät sie, "haben nicht nur die Größen dieser Welt von Sankt Petersburg über Washington und den Vatikan bis Peking geschmückt. Sie stammen zuallererst von fleißigen Frauenhänden."


EHRE EINER EPOCHE

Es sind meist Arbeiterinnen, die über 30 Jahre hier an der Werkbank für einen Mindestlohn von höchstens 900 Euro geschuftet haben. Diesen "L'Epée"-Frauen käme es sicherlich nie in den Sinn, mit solch einem Uhrwerk - Kaufpreis zwischen 900 und 18.000 Euro - ihr Wohn-zimmer verzieren zu wollen. Und doch kämpften sie um ihre Penduletten. Ihre Manufaktur ist weltweit die letzte gewesen, die alle Teile zur Herstellung der Penduletten handwerklich produziert hat. "L'Epée" - das war schließ-lich ihr Leben.

CGT-GEWERKSCHAFT

Genau 23 Jahre arbeitete Noelle Grimme in dieser Manufaktur. Sie kam zu "L'Epée", um sich "zu rühren", wie sie sagt; müde von einem Mann, den sie 15jährig geheiratet hatte. Er wollte nicht, dass Noelle einen Beruf ausübt. Zu Hause hatte sie sich um zwei Kinder zu kümmern - basta. Sie aber will leben, nach zwölf Jahren erstickender Zweisamkeit lässt sie sich scheiden. Zwei Wochen nach Ankunft in der Fabrik tritt sie in die größte Gewerkschaft CGT (Confédération générale du Travail) Frankreichs mit engen Beziehungen zur kom-munistischen Partei ein. Ein Jahr später wird Noelle zur Vertrauensfrau gewählt. Wenig später fungierte sie als Gewerkschaftssprecherin.


MALOCHE ALS BEFREIUNG

Es sind die Jahre einer neuen, ungewohnten Konflikt-front in Frankreich, auch "Frauen-Militanz" genannt. Noelle sagt: "Wenn Frauen in den Kampf eintreten, dann mit mehr Kraft und größeres Ausdauer als die Männer. Man braucht sich doch bloß die Gesellschaft heutzutage genau angucken. Das Sozialwohnungsamt von Belfort - zum Beispiel - hat in einer Untersuchung herausgefunden, dass 32 Prozent der Mieter alleiner-ziehende Frauen sind. Bei den Männern hingegen waren es nur fünf Prozent. "Wenn Männer sich trennen, gehen sie zu einer anderen Frau oder wieder direkt zur Mutti zurück. So scheußlich ist das nun einmal. Alleine mit sich zu sein, das halten nur die wenigsten aus.

UNGEDULDIGER - MILITANTER

Wir Frauen sollten uns eingestehen", fährt Noelle fort, "dass wir ungeduldiger, ja militanter geworden sind, weil wir ständig berufstätig und alleinerziehend sind. Aber ob in der Fabrik oder während der Nacht-arbeit - diese Maloche war nicht nur Last, für mich blieb auch schon ein Stück Befreiung. Da kommst du endlich raus aus dieser verengten Welt zu Hause."

Doch diese industrielle Zeitalter dankt nun im Eiltempo ab. Und das nicht nur in Frankreich, sondern überall in alteingesessenen Fabrikregionen. Vorbei sind die Jahre des Überflusses. Überflüssig sind vornehmlich Frauen aus der sogenannten Leichtlohngruppen-Kategorie geworden. "Noch nie", räumt der gaullistische Innen-minister Charles Pasqua (1993-1995) ein, "ist die soziale Lage so angespannt wie heute seit dem Zweiten Welt- krieg."

ZUSTAND DER REBELLION

Für den Pariser Sozialwissenschaftler und zeitweiligen Präsidenten-Berater Emmanuel Todd zeigen in Frank- reich alle Meinungsumfragen "einen noch nie da gewesenen Zustand der Rebellion. Keine Frage, wir befinden uns in einer vorrevolutionären Situation. Denn es gibt die Fähigkeit des französischen Volkes bei schweren Regierungsfehlern, sich plötzlich gegen seine herrschende Klasse zu erheben." Momentaufnahmen in Zahlen: Das Chemie-Unternehmen Pechiney entlässt dreitausend, Peugeot 1.700, Renault 1.600, Moulinex 2.600, Rhône-Poulenc 400, Danone 300 und die Banken Zehntausende von Angestellten. Stempeln gehen alsbald auch 4.500 Bahner, 3.000 Postler, etwas gleich viele Lehrer. Nach gewerkschaftlichen Hochrechnungen sind davon 50 bis 70 Prozent Frauen. Im Schnitt ver- lieren jeden Monat in Frankreich 35.000 Menschen ihren Arbeitsplatz. Selbst die von Zweifelsfällen be- reinigte Erwerbslosenstatistik mit 12,5 Prozent (Deutsch- land 10 Prozent) oder 3,1 Millionen Arbeitslosen erreicht Rekordniveau.

Anders als noch in Deutschland öffnet sich in Frank- reich zudem die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter. Gesellschaftliche Risse haben sich längst zu Gräben erweitert. Seit Mitte der achtziger Jahre werden "die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer", ermittelt die Pariser Statistik-Behörde. Der Lebensstandard der Franzosen, die jünger sind als 25, sank erstmals seit 1989 um 15 Prozent. Ein Viertel der Jugendlichen (Deutschland 8,5 Prozent) sind ohne Job.

OBERSCHICHT UND KLASSENKAMPF

Lediglich die französischen Oberschicht lässt es sich unbeirrt bessergehen. Folge-richtig verfügen zehn Prozent der Bevölkerung über 55 Prozent des National-vermögens der Republik. Frankreich in diesen Wochen - eine längst vergessen geglaubte Grundstimmung des Klassenkampfes aus den fünfziger Jahren erlebt eine Renaissance. Selbst die als gemäßigt wie regierungs-freundlich geltende Gewerkschaftsvorsitzende der CDFT, die 47jährige Lehrerin Nicole Notat, befürchtet mittlerweile, "dass die Republik sehr bald zur Hälfte aus lebenden Toten besteht". Ihre Kollegin, die Kommu-nistin Marie-George Buffet (Jugend- und Sport-ministerin 1997-2002) , rief auf dem "Fête de l'Huma-nité" in Paris vor 20.000 Frauen aus: "Wir Frauen werden nicht zulassen, dass Leiden, Verbitterung und Zukunftsangst unser Leben dominieren."

KEINE STREIKKASSEN

In Wirklichkeit hat auch der gewerkschaftliche Überlebenskampf längst begonnen, Da fürchtet vor-nehmlich, die noch etwa 600.000 Mitglieder starke CGT, gleichfalls als Opfer der Industriekrise allmählich abdanken zu müssen. In keinem anderen Industrieland ist der Organisationsgrad mit zehn Prozent - davon etwa drei Prozent Frauen - so niedrig wie in Frankreich. Und die Tendenz zeigt weiter abwärts. Außerdem verfügen die stark rivalisierenden Gewerkschaftsführer wie Louis Viannet (CGT), Marc Blondel (FO) oder Nicole Notat (CFDT) - anders als ihre deutschen Kollegen - über keine Streikkassen. Etwa 60 Prozent ihrer Mitglieder ver-dienen - umgerechnet - weniger als 1.150 Euro. Während des Streiks wird zuerst ein Überleben durch finanzielle Solidarität möglich. Spenden aus Sammlungen bei Demonstrationen oder auch Zuschüsse aus linken Rathäusern. In wohl keinem anderen europäischen Land ist es zudem legal, dass Unternehmen Mitarbeiter plötzlich entlassen, nur weil sie als ehrenamtliche Vertrauensleute tätig sind.

BETRIEBSRÄTE FLIEGEN RAUS

In Frankreich hingegen wurden allein im Jahr 1994 exakt 10.000 Vertrauensmänner und zudem 3.000 Vertrauensfrauen in die Arbeitslosigkeit geschickt. Ihr Vergehen: Mitglied einer Gewerkschaft zu sein. Auch Betriebsräte, die eigentlich Kündigungsschutz bean-spruchen können, geht es nicht viel besser. In Frank-reich kann das Arbeitsgericht ihren Rauswurf ge-nehmigen - so geschehen in vergangenen Jahr in 85 Prozent der Fälle. So ist es geradezu zwangsläufig, dass bei den Betriebsratswahlen (comités d'entreprises) Nicht-Gewerkschafter mit 30 Prozent die größte Gruppe der Arbeitnehmer bilden. Der Sozialforscher Dominique Labbé vom politischen Institut in Grenoble prophezeit in einer neuen Studie "quasi das Verschwinden der Gewerkschaften am Arbeitsplatz".

Am Tag der Konkurs-Verkündung im ostfranzösischen Montbéliard jedenfalls - Anfang April 1996 - fehlte von den gut bezahlten Managern der französischen "l'Epée"-Edel-Uhren auf dem Fabrikgelände jede Spur. Etwas mehr als drei Millionen Euro Schulden, einen Treu-händer und später den eiligst herbeizitierten Gerichts-vollzieher ließen die Herren zurück. Aber auch 40 Arbeiterinnen und eine Handvoll Männer. Allesamt hatten sie in den vergangenen Jahren bereits einen erheblichen Stellenabbau von 600 auf 64 Mitarbeiter hingenommen. "In dieser Tristesse blieb uns nur noch eines - und das hieß "Rebellion", bedeutet Noelle Grimme, "allerdings unter Frauen-Regie."

"ERSTNACHTS-RECHT" IN DER FABRIK

Es sollte die Zeit der 50jährigen parteilosen Betriebs-rätin Noelle Grimme werden - in der Region Franche Comté kurz unter dem Namen "la Pasionaria des pendulettes" bekannt. Nicht etwa deshalb, weil Noelle der legendären spanischen Bürgerkriegs-Kommunistin Dolores Gómez (1895 - 1989) sendungsbewusst nach-eiferte. Es war schon eher ihre Schlagfertigkeit, die Feuer auf dem besetzten Gelände entfachte. Exakt fünf Monate - Tage wie Nächte - besetzte Noelle mit 40 Kolleginnen die "L'´Epée"-Uhrenfabrik zu Montbéliard.

KLEINMUT

Immer dann, wenn Kleinmut aufkam, war es die Pasionaria, die Durchhalte-Motivationen ihrer Frauen erhöhte. Da erzählte Noelle, wie noch in den späten sechziger Jahren "die Patrons ihre Arbeiterinnen in der Fabrik je nach Belieben" zu vergewaltigen vermochten. Und keiner sagte irgendetwas. Alle waren mucks-mäuschenstill. "Droit de cuissage" (Erstnachtsrecht) hieß das auch nur knapp im gewöhnlichen Fabrik-Jargon. Die Frauen natürlich - die hatten zu schweigen, wollten sie ihre Arbeit und damit das Familienein- kommen nicht gefährden. Bis auf die Empfangs-Mademoiselle Edwige. Nachdem sie in der Garderobe begrabscht worden war, setzte sie sich am nächsten Morgen aus Protest splitter-nackt an die Fabrik-Rezeption.

Als der Junior-Chef - ihr Vergewaltiger - erstaunt her-beieilte, da haben Edwige und drei junge Arbeiterinnen ihn in den Fahrstuhl geschubst. Die Frauen haben dem Chef die Hose vom Leib gerissen. Und bei jedem Etagen-stopp gab es mit einem Knüppel fünf Schläge auf den blanken Hintern. Sechs Stockwerke hatte das Gebäude - und eine halbe Stunde blieb der Lift besetzt.

Wenn die Pasionaria ihren Mitstreiterinnen Martine, Mimi oder Pascale solche Geschichten aus dem Ar-beiterinnen-Leben am Fabriktor erzählte, konnte sie sich der Streiklust der Frauen sicher sein. "Nein, Noelle", bekundeten die Besetzerinnen da am Zaun, "hier gehen wir nicht freiwillig weg. Erst im Kampf treten Augenblicke auf, die uns im Alltag sonst fehlen: Solidarität, Schwesterlichkeit."

Fünf Monate verbrachten 40 Frauen in ihrer Fabrik. Sie arbeiteten tagsüber an ihren Penduletten, bewachten des Nachts das Gelände und träumten von einer Arbeiterinnen-Genossenschaft, die die "L'Epée"-Fabrik aufkauft.

POLIZISTEN MIT GRANATWERFERN

Bis eines Morgens im September Polizisten mit Granatwerfern in die Räume springen. Mit langen Stöcken schlagen sie auf alles ein - auf Möbel wie auf Frauenköpfe. Die Reaktion: Wut-Rufe abgeführter Arbeiterinnen und die Gewissheit: "Wir Frauen sind stärker als ihr Männer. Wir kämpfen für eine Idee, für
Gleichheit und Schwesterlichkeit."

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POSTSCRIPTUM. - Sechs Wochen später nehmen Beschäftigte des Elektrokonzern JVG im lothringischen Longwy ihre japanischen und französischen Chefs für einen halben Tag gefangen. Sie wollten damit gegen eine Werkschließung n Villers-la-Montagne prote-stieren. Betriebsrätin Marie-Hélène Martin wies vor Journalistin auf "das mutige Beispiel der von Frauen besetzten Manufaktur L'Epée in Montbéliard hin." Und dann sagte sie: "Künftig werden in Frankreich nicht nur Streiks, sondern immer mehr Fabrikbesetzungen das Land in Atem halten."































































Freitag, 25. Oktober 1996

Gefangenschaft: Gewalt von Vätern, Freiern, Wärtern ...




























































Das französische Gefängnis Fleury-Mérogis ist Europas größte Haftanstalt für Frauen. Ein restlos überfüllter Frauen-Knast mit Haft- revolten, Geiselnahmen, Ausbrüchen; ein SingSing aus Selbstverletzungen, Selbst-morden, Selbstverstümmelungen. Für Rausch- giftsüchtige und HIV-infizierte bedeutet Fleury-Mérogis Endstation - die letzte Bleibe vor ihrem Tod. Meist im Morgengrauen fährt der Bestattungsbus zu den Sammelgräbern des Städtchen Thiais. Friedhofsruhe im Voll- zug. Kein Politiker mahnt im Land der Men-schenrechte Reformen an. Mit "Landgraf-Werde-hart-Parolen" wird Frankreich unter Nicolas Sakorzy regiert. - Bleierne Zeiten.


TRIERISCHER VOLKSFREUND
vom 25. Oktober 1996
von Reimar Oltmanns


Es gab Zeiten, da fuhr der Bestattungsbus schon früh im Morgengrauen zum Sammelgrab der Frauen - genauer gesagt: Zum Friedhof des Städtchen Thiais, das südlich von Paris liegt. Dort hatte die Gefängnisleitung in Fleury-Mérogis, der größten französischen Frauenhaftanstalt in Europa, gleich auf Verdacht mehrere Sammelgrabab-schnitte der Nummer 104 bis 146 in den Reihen 22, 23, und 24 für seine Insassinnen reservieren lassen. Vor-sichtshalber, weil von Fleury-Mérogis ein merkwür-diger Sog auf in ganz Frankreich inhaftierte Frauen ausging - auch Selbstmordwelle genannt.
HÄRTER ALS DIE MÄNNERHAFT
Immerhin schnellten in Frankreich die Suizidfälle von 1979 bis 1995 in insgesamt 183 Strafanstalten mit 58.000 Häftlingen (etwa 4.500 Frauen) von jährlich 37 auf 107 Gefängnisselbstmorde in die Höhe. Und in Fleury-Mérogis reichte der Freitod von vier Frauen binnen weniger Tage aus, um eine Selbstmordketten-Reaktion in Haftanstalten von Rennes bis Marseille auszulösen.

"Die Haft der Frauen ist durch und durch härter als die der Männer", urteilt Anstaltsdirektor Bernard Cuguen vom Centre National d'Orientation in Fresnes, der na- tionalen Gefangenenverteilerstation. "Keiner will es wahrhaben", fährt Cuguen fort, "aber wir wissen es mittlerweile sehr genau. Frauen in Gefängnissen sind einsamer, von der Außenwelt isolierter, auch in ihrer Haft verlassener als Männer." Allein daraus ergebe sich schon eine ohnmächtige Angriffslust. SELBSTVERSTÜMMELUNGEN

Doch im Gegensatz zu den Männern sei die Aggressivität der Frauen nicht gegen andere, sondern gegen sich selbst gerichtet; Selbstverletzungen, Selbstverstüm-melungen, Selbstmord. Die Psychologin Marie-Cécile Bourdy aus Fleury-Mérogis ergänzt: "Früher starb eine Anzahl von Frauen draußen, kurze Zeit nach Haftent-lassung. Häufig an einer Überdosis Heroin, was eigent-lich nur ein verfehlter Selbstmord war. Heute hingegen suchen sie schon lieber im Knast den Tod, weil die Haftbedingungen noch härter geworden sind, und die Zuflucht sich als Sackgasse erweist. Sie erleben Mo- mente tiefer Traurigkeit und Selbstzweifel. Dabei sind es im wesentlichen sehr junge Frauen. Einst hatten wir den Frauen-Selbstmord so gut wie nicht gekannt. Heute machen es die Frauen wie die Männer - sie erhängen sich in ihren Zellen. Und das meist nachts, ohne ein Wort zu hinterlassen. Ab zum Sammelgrab."
LETZTE BLEIBE VOR DEM TOD
Wenn es wieder einen Selbstmordversuch in Fleury-Mérogis gegeben hat, werden präventiv im Knast etwaige Suizidkandidatinnen aus ihren Zellen geholt und im Nachbartrakt nackt zwischen zwei Matratzen eingebunden - und das über Stunden. Erst dann darf der bereits vollzogene Selbstmord übers Radio öffentlich gemacht werden. So gesehen befinden sich die Gefäng-nisfrauen in einem permanenten Aufbruch, Umbruch, Umschluss - tagein, tagaus. Folglich ist in Frankreichs Frauenhaft Fleury-Mérogis so gut wie nichts intim. Alles unterliegt der Umzug signalisierenden Guckloch-Öffent- lichkeit. Angst heißt der unabänderlicher Wegbereiter und -begleiter in jenen entsagungsreichen Zeiten des Freiheitsentzugs.

VIER FRAUEN AUF ACHT QUADRATMETER

Dabei gehörte Frankreichs Frauengefängnis Fleury-Mérogis mit seinen dreitausend inhaftierten Frauen auf 2.400 Plätzen lange Zeit noch zu den halbwegs vorzeig-baren Haftanstalten des Landes. Ob kleine, aber gut gepflegte Zellen, ob Bibliotheken, Gesprächsräume oder auch die Krankenstation - vornehmlich in den siebziger Jahren ließ sich das Frauen-Gefängnis Fleury-Mérogis vorführen als Paradebeispiel eines auf Resozialisierung bedachten Frauenstrafvollzug. - Lang ist's her; ein Torso ist von allem geblieben. Heute heißt es: Kein Geld für einen gesellschaftsnahen Strafvollzug, kein Geld für eine leistungsgerechte Arbeitsentlohnung, auch keine finan- ziellen Mittel für Renten- und Krankenver-sicherung.

Dafür drei oder manchmal sogar vier Frauen, die in einer acht Quadratmeter großen Zelle zusammen hausen. Ein Frauen-Knast voller Drogen samt ihren Kurieren. Sind doch exakt 80 Prozent der Frauen rauschgiftsüchtig und gar 45 Prozent HIV-infiziert. Für viele Frauen ist der Gefängnisbau von Fleury-Mérogis Endstation - die letzte Bleibe vor dem Tod.
EINMAL FREIWILD - IMMER FREIWILD
"Uns reicht's", sagen sie da. "Wir essen nicht mehr, wir waschen uns nicht mehr, lasst uns in unseren Betten verrecken. Wir rühren uns nicht mehr von der Stelle, nehmen keinen Teller, keinen Becher mehr an." Ver-weigerung. Naheliegend , dass in diesem Vollzugs-milieu ein Kindheitsschock schon immer als neben-sächlich belächelt wurde, als unglaubwürdig, halt als nicht gerichtsverwertbar abgetan wird. Und das, obwohl sich etwa bei der Hälfte der Frauen in Fleury-Mérogis jenes traumatische Urerlebnis in ihren Ge- fühlsabläufen eingenistet hat - der sexuelle Miss- brauch vieler Töchter durch ihre Väter, die sexuelle Nötigung der weiblichen Häftlinge durch so manche Wärter. Junge Mädchen von Fleury-Mérogis, zwischen 13 und 20 Jahren alt, wissen von jenen Männer-Über- griffen in jenen Grauzonen - sie alle schweigen. Ge-wohnheitsrecht. Glaubwürdigkeit ist gefragt. Einmal kriminell, immer unglaubwürdig, heißt es. Erst verge- waltigen Väter ihre Töchter, Erzieher in Heimen folgen. So betrachtet bewahren dann einige französische Vollzugsbeamten in ihren meist eigens dafür flüchtig hergerichteten Zellenseparé lediglich eine unscheinbare Kontinuität männlicher Alltagszugriffen dieser Jahre. Einmal Freiwild, immer Freiwild.
ABSCHIEDSBRIEF AUS STUNDENHOTEL
Längst hat sich die französische Öffentlichkeit - von Berührungsängsten getragen augenzwinkernd darauf verständigt, einen explosiven Notstand notdürftig zu verwalten. Verantwortlich dafür sind insgesamt 18.000 schlecht bezahlte Vollzugsbeamte mit einem Durch-schnittsgehalt von monatlich mehr oder weniger von tausend Euro. Die Folge in diesen Jahren: Im ausge-grenzten Fleury-Mérogis haben zwei Wärter bis zu fünfhundert Frauen beim Rundgang zu beaufsichtigen. Mit 1,4 Prozent des Staatshaushalts, weniger als 3,5 Milliarden Euro ist die Justiz ohnehin am unteren Ende der Politikerinteressen angesiedelt.
SAMMELGRAB
Am Punkt 34,40 Meter im Sammelgrab des Friedhofs von Thiais wird an diesem Morgen die 24jährige Laurence verscharrt. Ein Mädchen, das wegen Diebstahl im Trakt D6 E, Zelle vier zum 25. Male eingesperrt worden war, diesmal drei Monate. Todesursache: Heroin. Gefunden wurde Laurence in einem der Stun-denhotels; ganz in der Nähe der Haftanstalt. Bei ihr lag noch ein verschmierter Zettel. Auf ihm stand: "Ich lächele und gehe fröhlich. Die Menschen sollen Laurence in guter Erinnerung behalten. Nicht wie eine Kranke, die hässlich, mager, unschön aussah, sondern wie eine Frau, der man Blumen wenigstens ans Grab mitbringt. Adieu."
ARBEITSLOSIGKEIT
Dabei hatte Laurence ihre Strafe schon verbüßt, sich - wieder in Freiheit - bei der Wiedereingliederungs-organisation ARAPEGE, beim Bewährungshelfer um Unterkunft und beim Arbeitsamt gar um einen Job als Verkäuferin bemüht. Doch wie immer widerfuhren ihr Absagen - Fehlanzeigen über Fehlanzeigen in diesen bedrückenden Jahren der Massenarbeitslosigkeit.

Vielleicht zählte Laurence in Fleury-Mérogis zu jenen Frauen, die im Knast letztendlich ihr Zuhause fanden. Meist, wenn Laurence wieder eingeliefert wurde, soll sie sich lauthals mit dem Hinweis getröstet haben: "Wenn man hier rauskommt - das ist das Schlimmste. Wir lernen hier nämlich nicht zu leben. Im Gegenteil. Wir lernen, uns suchtzerfressen an die Tabletten zu halten, auf die Post, auf das Essen, auf den Hofgang, auf die Kommandos zu warten. In der Freiheit bleibt mir nur der Straßenstrich. Für Bauch und Kiff reicht es alle- mal."
ISOLIERHAFT
Als Laurence aus der Haftanstalt entlassen wurde, brachte man ihre Zellennachbarin Joelle gleich für acht Tage in Isolierhaft. Sie hatte es gewagt, eine Wärterin als "unterversorgtes Arschloch" zu beschimpfen. Andere Häftlinge, wie beispielsweise Chantal, weigerten sich wiederholt, "ihr Aspirin"einzunehmen. Die Gefängnis-leitung hat das Recht, weibliche Häftlinge bis zu 45 Tage ohne rechtsstaatliche Kontrolle in eine spezielle Abteilung verfrachten zu lassen. Und Isolierhaft (le mitard) bedeutet in Fleury-Mérogis leere, durchnässte, abgedunkelte Zellen, ohne Decken, kein Besuch, keine Beschäftigung, kein Spaziergang, kein menschlicher Blickkontakt. - Essen wird unter der Tür durch-geschoben.
DURCHLAUF-ERHITZER
Joelle, 28 Jahre alt, ist wegen ihrer Taschenspielertricks hierher gekommen - immer wieder, immer länger. Mittlerweile riskiert sie gar schon einem kleinen Rück-blick. "Als ich hier ankam", erzählt Joelle, "bin ich fast durchgedreht. Ich habe nicht kapiert, was hier vor sich geht. Ich bin mit acht oder zehn jungen Mädchen zusammen gekommen, die sich alle kannten. Ich, so blöd wie ich war, hatte gedacht, dass sie wegen der gleichen Sache hier sind. Aber sie kannten sich allesamt aus Fleury-Mérogis. Ich habe erst hier verstanden, was das bedeutet, im Knast zu leben. Sie waren hochgradig rückfällig. Seit einem Jahr sehe ich sie weggehen und wiederkommen." - Fleury-Mérogis ein Durchlauf-erhitzer.
GRÖSSTER FRAUENKNAST
Fleury-Mérogis - das größte Frauengefängnis in Europa. Haftrevolten, Ausbrüche, Geiselnahmem überziehen ansonsten die französische Republik vielerorts: in Paris, Nancy, Dunkerque oder Nimes. Und immer wieder sind Polizeieinheiten oder gar Kompanien der französischen Armee in Aktion. Nur in Fleury-Mérogis herrscht Fried- hofsruhe. Kein Politiker verliert ein Wort über die Zu- stände im französischen Strafvollzug, mahnt gar Reformen an. Lediglich die Sprecherin der franzö-sischen Grünen, die Ärztin Dominique Voynet (Mini- sterin für Umwelt und Naturschutz 1997-2001), mag sich über die Innenausstattung französischer Gefäng- nisse erregen. Einzelkämpferin. "Entsetzliche Miss- stände", schimpft sie. "Die meisten Frauen in Fleury-Mérogis gehören nämlich nicht in den Knast, sondern ins Krankenhaus , in eine Langzeittherapie. Nein", fährt sie fort, "Frankreich ist dabei, seine Gefängnisse aus Kostengründen für Aids-Kranke als Warteschleifen auf dem Wege zum Tod umzufunktionieren."

Sonntag, 20. Oktober 1996

Folklore - Auf der Suche nach verlorenen Zeiten. Leere macht Angst.
























































Konservativ pocht der Zeitgeist zwis
chen Kalkül, Kitsch und Kommerz. Folklore-Gruppe prägen vielerorts Frankreichs Straßenbilder wie im mittelalterlichen Dorf Pèrouges. Großspektakel zur Taufe von Chlodwig in der Kathedrale zu Reims sollen die französische Identität mit der katholischen Kirche als "ältestete Tochter Roms" unzertrennbar dokumentieren.



Frankenpost, Hof
vom 20. Oktober 1996
von Reimar Oltmanns

Das kleine französische Dorf Pèrouges liegt irgendwo verschachtelt auf einem Hügel zwischen Lyon und Genf im Alpenvorland. Die gewundenen Gassen glänzen wie blankgewienert, die Butzenscheiben in den akkurat gestrichenen Patrizierhäusern spiegeln den Müßiggang auf dem unebenen Pflaster wider. Die Straßen haben mit ihren Vordächern und der Wasserrinne in der Mitte nostalgische Vorahnungen an eine längst verschüttete Zeit bewahrt. Nichts, so will es scheinen, kann Pérouges mit seinen 850 Einwohnern das mittelalterliche, malerische Antlitz - die Atmosphäre - nehmen.

Nur zur Weihnachtszeit verliert Pérouges sein inneres Gleichgewicht, weicht die Beschaulichkeit einer angestrengten Habachtstellung im festlichen Gewand. Und Pérouges ist überall in Frankreich - dort, wo zu Weihnachten über Stunden, zuweilen über Tage emsig geschmaust wird, das Festtagsessen der familiäre Höhepunkt schlechthin ist. So betrachtet gerät ein kleines, ansonsten wenig beachtetes mittelalterliches Dorf zum nationalen Mikrokosmos der Esskultur, des Wertewandels, der Rückbesinnung auf Herkunft und Tradition.

Vor dem alten mit Tannen geschmückten Backstein-Rathaus lauert schon frühmorgens Bürgermeister la Guy de la Chapelle. Soeben hat er gerade, wie an jeden Wochentag, seine Büroräume aufgeschlossen. Schließlich werden die Dorfkinder seit Jahrhunderten im Standesamt unterrichtet. Aber irgendwie nistet im Gesichtsausdruck des 54jährigen Bauern Unbehagen.

NESTWÄRME, HERKUNFT

Der Bürgermeister: "Es war für uns unvorstellbar, wieviel Nestwärme die Menschen suchen. Wir werden geradezu überrannt. Dabei sind wir jetzt schon über Jahre ausgebucht und müssen für Weihnachten Platz-karten vergeben." Filmreif schüttelt Guy de la Chapelle vor der Tür immer wieder sein schlohweißes Haupt. Er sieht nämlich sich und sein Pérouges zweckentfremdet. Muss er mit seinen Mannen eigens für Weihnachten das Mittelalter neu inszenieren, und steht zudem eine Essensinvasion bevor?

FROSCH-SCHENKEL, ENTEN-LEBER

Argwöhnisch beäugt der Bürgermeister, wie sich Tag für Tag Lieferantenwagen durch die engen Gassen quälen, um französische Edelprodukte wie Lachs, Austern, Gänse- und Entenleber, Pastete, Morchel-Pilze, Hum-mer, Artischocken, Froschschenkel, Rehkeule, Champagner samt erlesener Tischweine aus den fernen Metropolen anzuliefern - eben durchkomponierte, feinabgestimmte Gaumen-Delikatessen, der üppige Weihnachtsschmaus à la française schlechthin.

SCHWARZ-MARKT

Allein an den Festtagen werden landesweit an die 30.000 Tonnen Lachs verspeist. Aus gutem Grund observieren mittlere private Wachgesellschaften die aufgedehnten Austernbänke des berühmte Zuchtgebietes von Marennes-Oleron am französischen Atlantik. Gerade vor den Weihnachts- und Neujahrs-feiertagen steigt nämlich der nächtliche Diebstahl rasant an. Die Austern werden in "kleinen Mengen" von 200 bis 300 gestohlen und auf dem schwarzen "Weihnachtsmarkt" mit hohem Gewinn abgesetzt.

Noch wenige Tage vor dem Fest rattern Transit-Trans-porter mit Frischhalte-Containern durch Pèrouges. Sie liefern quasi in letzter Minute jene exquisiten Zutaten, die die Tageszeitung Le Monde erst kurz vor Festbeginn als gesellschaftlich "en vogue" erkor. Ergo hagelt es Nachbestellungen. Schließlich mag wohl keiner sich so recht mit dem Mahl gestriger Tage in der renommierten "Ostellerie du vieux´Pérouges" zeigen. Nur von den gut bekömmlichen,existenzgeplagten Bauern-Produkten aus heimischer Region wissen die Speisekarten freilich nichts zu berichten. - Fehlanzeige.

KELLNERINNEN MIT SPITZENHÄUBCHEN

Gewiss - Pérouges mit seiner gotischen Galerie hat sich längst zur diskreten Weihnachtsadresse des betuchten französischen Bürgertums aus dem Lyoner Dunstkreis empor empfohlen. Schon Wochen vor dem Fest dürfen Kellnerinnen in der historischen Ostellerie von Pérouges nur noch mit gestrengen Spitzenhäubchen ihre Gäste bedienen. Die Innenausstattung duldet lediglich go-tische Möbel und Tapisserien, Zinn und einen großen Kamin - heimelnde Gemütlichkeit ist gefragt. Vor dem alten Restaurant aus dem 13. Jahrhundert wacht eine uralte Linde aus den Revolutionszeiten majestätisch auf ihrem weiträumigen Vorplatz. Keine Fernsehantennen oder Stromleitungen stören den Blick zurück ins Mittel-alter. Am Heiligen Abend singen Folklore-Gruppen aus der Region in alten Trachten Weihnachtslieder vergangener Tage.

PRIESTER SPIELEN MITTELALTER

Enge Menschentrauben schieben sich um Mitternacht in feinem Zwirn betulich zur Messe. Auch Priester André Gondin spielt Mittelalter. "la France, la Grande Nation, ist immer die älteste Tochter der katholischen Kirche gewesen", verkündet er selbstgewiss von der Kanzel und fügt hinzu: "Geboren von christlicher Mutter, Vater unbekannt." Dieser Satz ist mittlerweile schon zur Legende von Pérouges geworden. Denn ein jeder weiß, dass Priester Godin ihn Jahr für Jahr als Auftakt zur Oblate wiederholt.

KIR VON DIJON

Weihnachtstage in Frankreich - Zweifelsohne pocht die französische Befindlichkeit wieder konservativ. Über 30 Millionen Menschen dürfen nach Hochrechnungen der Meinungsforschungsinstitute zum Jahresende wieder Gottesdienste besuchen oder sich als Glaubenstouristen in kurzweilige kirchliche Obhut begeben.Der Domherr Kir von Dijon - Erfinder des Aperitifs aus Weißwein und schwarzem Johannesbeerlikör - hatte bereits am 23. De-zember im Jahre 1951 auf dem Vorplatz Saint Benigue seiner Kirche die öffentliche Verbrennung des Weih-nachtsmannes als "Ketzer und Kinderlump" ange-ordnet. Einfach, weil er nach Maßgabe des Erzbischofs von Toulouse, Kardinal Saliège, eine Erfindung der Amerikaner, der Schlauen - somit der Jesus-Feinde sei.

Seither ist nach offizieller Lesart der Kirche Frankreich zumindest "weihnachtsmannfrei". Ein offenkundig dramatischer Umstand, der die Gemüter auch nach Jahren seiner Exekution nicht ruhen lässt. So mutmaßte das einstige Massenblatt "France Soir" in einer groß aufgemachten Schlagzeile: "Dijon erwartet die Aufer-stehung des Weihnachtsmannes." Und die vornehmere Tageszeitung "Le Monde" befand: "Es geht zu wie zu Zeiten des Religionskrieges."

FOLKLORE-FASSADEN

Jahre kommen - Jahrzehnte vergehen im Flug - ausnahmslos zur Weihnachtszeit sind es immer wieder Frankreichs Staatspräsidenten, die hinter Folklore-Fassaden Sein und Sinn auszumachen verstehen. Einst brachte François Mitterrand (1981-1995) die Gemüts-lage seines Landes auf den Satz: "Die Rebublik befindet sich in einem Zustand der Sehnsucht." Für seinen Nach-folger Jacques Chirac (1995-2007) ist gar die "franzö-sische Identität mit dem Katholizismus untrennbar verbunden".

KARDINÄLE UND KATHEDRALEN

Schon die Feierlichkeiten zu Reims um den identi-tätsstiftenden Chlodwig, den Begründer des großen Franken-Reiches, hatten in vergangener Zeit für allerhand wohl bedachten Wirbel gesorgt. Moment-aufnahmen aus dem Département Marne - neuerliche Chlodwig-Zeiten, Folklore-Zeiten : Ein Fahnen- und Flaggenmeer sowie schwitzende Menschenmassen säumen den breiten Pilgerpfad. Baseballkäppis, Kruzi-fixe und ständig surrende Videokameras allüberall, als gelte es im französischen Reims, dem gallischen Durocotorum, einen neuen Klerikalismus mit Kitsch und Kommerz fürs kommende Jahrtausend sendungs-bewusst wachzuküssen. Stunde um Stunde dröhnen Busse stadteinwärts, Touristenarmada campiert vor Kirchen und Verladebahnhöfen.

WELTKULTUR-ERBE

Entlang der Kathedrale zu Reims, der Krönungskirche der Könige von Frankreich, schmücken Zehntausende von Katholiken altehrwürdige Gassen und Kirchen-plätze. Anders als das vom Weltstadtfludium durch-zogene Paris konnte Reims so manches von seiner altertümlichen Eigenwilligkeit noch bewahren. Allein vier seiner historischen Bauwerke wurden von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt.

Schon seit Monaten gedenkt die Nation in zigfachen Ereignisjubiläen des Barbarenherrschers Clodwig I. (französisch Clovis); eines Königs, der mit Tücke und Grausamkeit das große Franken-Reich zimmerte. Chlodwigs Oberhoheit erstreckte sich bekanntlich im Jahr 507 über das gesamte Gebiet zwischen den Flüssen Loire, Garonne und Rhône mit Anschluss an die rhei-nischen Franken in den Städten Köln, Mainz und Trier. Zweifelsfrei hat er damit das Fundament des Abendlandes gelegt.

Dadurch, dass Frankreich von dem dominierenden Frankenstamm den Namen für sein Land übernahm, verewigte sich Chlodwig zudem seinen französischen Anteil an der Neuordnung des Kontinents. In Deutsch-land hingegen blieb die Kombination mit Stadt- oder Landschaftsbezeichnungen wie Frankfurt, Main-Franken oder die Fränkische Schweiz, Frankenwald und Ober-, Mittel- und Unterfranken ein unverbindliches Monogramm der Geografie. Seit 486 war Reims Chlodwigs Königssitz und später auch sein Sterbeort - somit eine Schatzkammer der nationalen Geschichte - auch seiner bis dato konservierten Gefühlswirren.

GEFÜHLSWIRREN NEUER ALLIANZEN

So und kaum anders machen sich französische Politiker konservativen Zuschnitts und die katholische Kirche des Landes dran, eine bisher nie dagewesene Allianz zu schmieden. Ein Chlodwig-Jubiläum von fünfzehn-hundert Jahren wird als Auftakt dazu benutzt, den neuerlichen Pakt zwischen dem französischen Staat und seinen Bischöfen zu zementieren.

Hintergrund dieses Kalküls: Die Neugaullisten um Staatspräsident Jacques Chirac zielen darauf ab, die französische Identität mit dem Katholizismus un-trennbar zu verknüpfen. Geht es schließlich doch darum, die laizistischen Fundamente des Landes zu neutralisieren, die revolutionär geprägte Geschichte der Republik in den Köpfen der Franzosen erkennbar an den Rand zu drängen.

CHLODWIGS EDELSEKT

Eine Millionen Euro stellte Frankreich für den 1500. Jahrestag zur Verfügung, ließ für das Großspektakel in Reims exakt hundert Wissenschaftler einfliegen. Und natürlich das Kommerzielle: in Reims, der Champagner-Stadt, sprudelte anlässlich der Feierlichkeiten Süffiges der Marke "Chlodwigs Edelsekt", und Chlodwigs Senf-gläser zieren manche Schaufenster der Altstadt.

Offenkundig so ganz vergessen ist jene nunmehr un- rühmliche Revolution der Franzosen von 1789. Schließ- lich war sie antiklerikal, weil die Kirche sich immer als enge Verbündete der mächtigen Monarchie empfohlen hatte. Schritt um Schritt beseitigte die Dritte Republik (1870 bis 1940) die letzten Bastionen der Kirche im Staat: 1882 entfiel der Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen, und 1905 wurden Kirche und Staat getrennt. Die Kirche in Frankreich, wo sich über 80 Prozent der Bevölkerung zum katholischen Glauben bekennen, firmiert seither rechtlich als ein privater Verein.

AUFTRITTE DER RECHTSRADIKALEN

Allerdings: Unter dem Motto "Treiben wir den Papst-Besuch ab" (Avortons la venue du pape") riefen die größte Freimaurervereinigung "Grand Orient des France" und in Protestanten zum Papst-Boykott in Sachen Chlodwig auf. Ein Bündnis aus Linken, Grünen, Trotzkisten und Antirassisten - darunter die frühere Ministerin und derzeitige Bürgermeisterin von Lille, Martine Aubry, Tochter des langjährigen Spitzen-Europäers Jacques Delors. Allesamt wehren sie sich gegen die neuerlich verordnete "Geschichtsschreibung", die Chlodwigs Einstieg ins Taufbecken quasi als Gründungsakt des französischen Staates sieht.

IMMER WIEDER JEANNE D'ARC

Denn kein anderer als der rechtsradikale Präsident der Front National, Jean-Marie Le Pen, versteht es mit Geschick, für seine Kampagne gegen die "religiöse, kulturelle und moralische Unterwanderung" zu Felde zu ziehen, "die unser Land entchristianisiert" hat. Mit ähnlicher Diktion versucht Le Pen seit Jahren, die Nationalheilige Jeanne d'Arc zur sich zu reklamieren. Mittlerweile ist die Front National die drittstärkste politische Kraft des Landes - und kein Regierungs-politiker wagt es mittlerweile mehr, Le Pens Auftritt vor der Kathedrale in Reims zu verhindern. An den Vor-platzständen lagen neben religiösen Schriften auch verbotene Publikationen über "das jüdische Frankreich". Aber auch Postkarten zu Ehren der seinerzeit in Algerien agierenden OAS-Terroristen oder Aschenbecher mit der Pétain-Losung "Travail, Famille, Patrie" (Arbeit, Familie, Vaterland) waren zu haben - 1,50 Euro das Stück. Frankreich, das Land der alten, unvergessenen Kämpfer, La France ein Fahnenmeer.

Es war der vielzitierte Pariser Soziologe Alain Tour- raine, der jene üppigen Festzeremonien zu Reims zum Anlass nahm, auf die gesellschaftliche Zerrissenheit des Landes hinzuweisen. Er sagte: "Wir leben im politisch und sozial leeren Raum. Und Leere macht Angst." - Clodwig alias Clovis lässt grüssen.


































Donnerstag, 3. Oktober 1996

La femme est l'avenir du flic
























COURRIER INTERNATIONAL,
Paris
du 3. Octobre 1996
(extraits Frankfurter Rundschau)

par Reimar Oltmanns


Il aura attendre 1975 pour voir des femmes dans la police française, et encore plus longtemps pour qu'elles atteignent les étages de la direction. A l'époque, on lisait même dans une étude du gouvernement français que "la fonction policières est incompatible avec la femme."

Vingt ans après, changement de tableau. Dans le bureau 315 du Quai des Orfèvres - le siège parisien de la bri-gade criminelle -, une armoire abrite l'équipement d'une policière d'aujourd'hui: des jeans, un blouson, un pistolet, une radio, des menottes, des chaussures de sport. Une femme vêtue d'une jupe courte et d'un élé-gant chemisier est assise à sa table de travail.

En février dernier, elle a obtenu le poste le plus convoite des flics de la capitale. Depuis cette date, Martine Monteil, 46 ans, a 110 personnes sous ses ordres. Pour a première fois dans l'histoire de la police judiciaire française, une femme dirige la brigade criminelle, la fameuse "Crime".

Quand des gens irrités entrent dans son bureau, ils posent régulièrement la question d'un ton angois- sé: "Pardon, Madame, mais enfin, où se trouve le commissaire?" Et la femme policière de carrière, ennuyée, a dû y répondre un millier de fois: "Monsieur Maigret est maintenant une femme, et c'est moi." Martine Monteil fait partie de la deuxième promotion ouverte aux femmes de l'Ecole nationale superieure de police de Saint-Cyr-au-Mont-d'Or (69), qui forme les policières depuis 1975. Parmi ses anciennes camerades d'éciole, Mireille Ballestrazzi dirige aujourd'hui le SRPJ d'Ajaccio et Danielle Thierry s'occupe de la sécurité des vols d'Air France.

Quand elles étaient encore sur les bancs de leur écoles, les trois femmes sont tombées d'accord sur ce qu'elles feraient une fois leur formation terminée: "Quand nous serons en situation d'activité, nous bouleverserons la façon des voir les choses. Nous pourchasserons les violeurs dans toute de république, nous ne les laisserons transquilles que quand ils auront avoué.

Ce n'est qu'ainsi que l'on peut expliquer pourquoi le nombre de voils enregistrés en que l'on peux expliquer pourquoi le nombre de voils enregistrés en France officiellement aumenté de 12 %. Selon Martine Monteil, "grâce á la présence plus importante la force de signaler leur aggression, d'iden-tifier leur agresseur et de porter plainte".

Ahjourd'hui on recence quelque 31.000 femmes dans la police française , soit 15 % des effectifs (contre 7 % en Allemagne). "Les policières ont considérablement contribué à améliorer notre travail en ces temps de fracture sociale", estime Michel Richardot, directeur de 'Ecole nationale superièure de police. "Elles sont subtiles, moint autoritaires, même moins procéduières que les hommes. Aucune d'entre elles n'a été impliquée dans des bravures. Les femmes en uniforme peuvent rétablir la paix tant l'enceinte du commisariat que dans le quartier."





Samstag, 7. September 1996

Monsieur Maigret ist eine Frau in Paris




























Frankreich verfügt pro Einwohner über die meisten Sicherheitskräfte in Europa. Doch Polizistinnen wie Polizisten haben das Gefühl, von der Bevölkerung verachtet zu werden. Pistole in der Tasche - Stimmung auf Halb-mast, Übergriffe auf Revieren, hohe Selbst-mord- und Scheidungsraten, schlechte Moral, schlechte Arbeitsbedingungen, schlechte Bezahlung - Überstunden. Jeder zweite Franzose hält die "femmes-flics nicht für richtige Frauen.


Frankfurter Rundschau
7. September 1996
von Reimar Oltmanns

Im Untergeschoss, einem früheren Kohlenkeller, be-finden sich die Privatquartiere des Polizei-Reviers von Montbéliard: einem 35.000 Einwohner zählenden Städt-chens nahe der Schweizer Grenze, etwa 80 Kilometer von Basel entfernt. Das Souterrain, auch "U-Boot" genannt, ist sehr gut besucht von den 170 Ordnungs-hütern und zehn Polizistinnen, die hier täglich ihrem Dienst nachgehen. Fensterlos reihen sich die Kantine neben Umkleideraum aneinander.

KEINE UNIFORM AUF DEM HEIMWEG

Wie vielerorts in Frankreich wagt es auch in Mont-béliard kein Ordnungshüter mehr, seine Uniform außer der Dienstzeit - etwa auf dem Heimweg - zu tragen. Der Polizeistatus schützt die Beamten keineswegs vor Aggres-sionen. Folglich herrscht vor den Spinden auf kleinstem Raum Hochbetrieb. Hauptwachtmeisterin Simone Cuvelier, 32, sagt: "Wir haben schon recht lange das Gefühl, bei der Bevölkerung unbeliebt zu sein und von staatlichen Institutionen verachtet zu werden." Ganz nach dem Überlebensmuster, Pistole in der Tasche, Stimmung auf Halbmast, versucht jeder, schnell in eine beliebtere, zivile Rolle zu schlüpfen - "nur raus aus den Polizei-Klamotten".

KEINE SOZIALARBEITERINNEN

Dafür sind um den großen Tisch in der Kantine die Sandwiches üppig, da das Essen hier sehr preiswert ist. Muss doch ein junger Polizist monatlich mit cirka 1.230 Euro auskommen. Gebrutzelt wird hier rund um die Uhr. Koch Laurent, ein Muskelprotz mit Schürze, unter-hält sich mit seiner Kollegin Hauptkommissarin Marie-Julia Aranda über die französischen Geiseln, die in Algerien entführt worden sind. "Wenn sie ermordet wären", erklärt der Küchenchef, "hätten wir zum Maschinengewehr gegriffen und wären auf die in Barbès losgesprungen." (Barbès ist ein Ausländerviertel in Paris und gilt als Synonym für Überfremdung.) Kommissarin Maria-Julia erwidert kühl: "Wenn alle gescheitert sind, die Politiker, die Arbeitgeber, die Erzieher, die Eltern, dann bricht alles auf uns ein." Und sie fragt: "Aber was können wir eigentlich tun gegenüber diesem Scheiß- haufen an Elend?


MASCHINENPISTOLEN ? - KEINE LÖSUNG

Mit der Maschinenpistole herumzufuchteln, das ist keine Lösung. Doch Sozialarbeiterinnen sind wir schließlich auch nicht." Kollegin Jacqueline, die zuhört, erhärtet die Identitätskrise der französischen Polizei. Sie bemerkt: "In einer zunehmend regelloseren Gesellschaft werden wir als Ordnungskräfte für nahezu alles verant-wortlich gemacht, und unser Ruf rutscht in den Keller. Dabei ist die Situation so erstarrt, dass es keinen Sinn macht, Fleiß oder sogar Verständnis zu zeigen. Vor-beugung, Abschreckung durch Anwesenheit. Dass ich nicht lache. Angst haben wir."

ÜBERGRIFFE, ÜBERLEBEN ... ...

Unerwartet, geradezu über Nacht, erfahren alte Fragen des Polizisten-Selbstverständnisses in Montbéliard und anderswo in der französischen Republik eine verschärfte Aktualität - auch als "Polizei-Krise" gebrandmarkt. Ob Jacqueline Simone oder Marie-Julia - gemeinsam mit 15.000 Kollegen machten sie sich in Sonderzügen zur Demonstration gen Paris auf. Auf ihren Transparenten stand ge-schrieben: "Schlechte Moral, schlechte Arbeits-bedingungen, schlechte Bezahlung - wir haben es satt" (Pas le moral, de mauvaises conditions de travail, mal payés; on en a marre). Tatsächlich steigen in kaum einem anderen Beruf so viele junge Männer und Frauen bereits während der Ausbildung wieder aus, drücken Krankheit, Tod und vorzeitige Aufgabe das "durch-schnittliche Dienstaustrittsalter" auf knapp 55 Jahre. In kaum einem anderen Beruf lassen sich die Menschen so häufig von ihrem Ehepartner scheiden. Kein anderer Beruf hat ein so negatives Image wie der der "flics" (Polizei).

NORD-AFRIKANER GEPRÜGELT

Da prügeln in den Kommissariaten um Marseille Beamte Nordafrikaner schon mal krankenhausreif. Da verabreden sich Polizeioffiziere zu bewaffneten Raub-zügen in der Innenstadt von Lyon. Da vergewaltigen Staatsbeamte Frauen sozusagen bei Verhören auf ihren Dienststellen in Paris oder Toulouse. Das sind gerichts-kundige Alltagsschilderungen illegaler Polizeigewalt im Nachbarland Frankreich Mitte der neunziger Jahre.


SELBSTMORD-GEFAHR

Zudem - in keinem anderen Beruf gibt es eine derartige Selbstmordgefährdung wie in dem des französischen Gendarmen. Laut offizieller Statistik des Waisenamtes der Polizei tötet sich in Frankreich alle neun Tage ein Uniformierter von eigener Hand. Neunzig Prozent der Beamten benutzten zum Selbstmord ihre Dienstpistole der Marke Nanurhin. Auffallend ist, dass es fast aus-schließlich Männer sind, die den Freitod wählen. Die Pariser Soziologin Frédérique Mezza-Bellet nennt in einer internen Suiziduntersuchung für das Innen-ministerium drei Gründe, warum immer mehr Polizisten Selbstmord begehen. Sie schreibt: "Die Arbeitsbe-dingungen sind dürftig. Sie ermöglichen kein stabiles Familienleben mehr. Aus der hohe Scheidungsquote resultieren extreme Überschuldungen. Vornehmlich bei Männern sind geistige Verschleißerscheinungen zu konstatieren, die zum finalen Todesschuss gegen sich selbst führen. Ständig dasselbe Elend oder dieselben tristen Zustände vor Augen zu haben, einen Alltag zwischen zwischen schnell wechselnder Angst und Routine, Gefahr und Langeweile zu erleben - das greift letzt endlich die psychische Konstitution an, schiebt gefühlsarme Reaktionen oder auch Selbstwerterlebnisse beiseite. In Wirklichkeit kann die Erinnerung an den mitverursachten gewaltsamen Tod eines Bürgers nur halbwegs unterdrückt, tatsächlich aber nie vergessen werden."

CHEF DER PARISER SITTENPOLIZEI - EINE FRAU

Dabei sind Frankreichs Politiker in ihrer Selbstdar-stellung prestigebewusst darauf bedacht, die innere Sicherheit zu einem prosperierenden Eckpfeiler franzö-sischer Politik ausgebaut zu haben. Tatsächlich verfügt die französische Republik pro Einwohner über die meisten Sicherheitskräfte in Europa. Die "Police Na- tional" kann auf 126.163 Beamter, die dem Verteidi-gungsministerium unterstehen, "Gendarmerie Na- tional" auf 80.000 Polizisten zurückgreifen. Hinzu kommen nach weitere 80.000 Hilfssheriffs privater Sicherheits-dienste. Allein in der Hauptstadt Paris sind ständig 20.000 Polizeibeamte im Einsatz. Und für besondere delikate Konflikte - Raub, Geiselnahme, Bombenan-schläge, Demonstrationen - stehen die 16.000 auf Straßenkampf trainierten Polizisten der "Compagnies républicaines de sécurité" (CRS) in über sechzig Einheiten - übers Land verteilt - bereit.

Für die Verbrechensbekämpfung vor Ort sowie für die Ausstattung der Polizei gibt der Staat von 1995 bis 1999 insgesamt etwa 3,05 Milliarden Euro aus. Mit weiteren 380.000 Euro sollen zudem viertausend neue Hilfs-polizisten bezahlt werden.

Nur Frauen als Polizistinnen, noch dazu in Führungs-etagen - die waren in Frankreich bis 1975 gar nicht vorgesehen. Bestätigte doch eine eigens in Auftrag gegebene Untersuchung der französischen Regierung zudem, "dass die Polizisten-Funktionen mit dem Frausein unvereinbar ist."


BRIGADE CRIMINELLE

Szenenwechsel - zwei Jahrzehnte später. Im Zimmer 315 am Quai des Orfèvres - dem Sitz der Brigade Criminelle - liegt im Schrank die Ausrüstung für eine Polizistin in diesen Tagen: Jeans, Jacke, Pistole, Funkgerät, Hand-schellen, Sportschuhe. Am Schreibtisch sitzt im kurzen Rock mit eleganter Bluse eine Frau, die im Jahre 1989 den härtesten Job der Hauptstadt-Gendarmen bekam. Seither ist die 46jährige Martine Monteil die Vorge- setzte von 110 Beamten. Zum ersten Mal in der franzö-sischen Kripo-Geschichte wurde eine Frau Chefin der Pariser Sittenpolizei und des Rauschgiftdezernats.

Auf dem Montmartre hat Martine Monteil es mit korsischen Zuhältern zu tun, mit Straßenmädchen am Place Pigalle, mit brasilianischen Transvestiten im Bois de Boulogne und mit verdeckter Kinderprostitution am Gare de Lyon. Wenn Martine Monteil von aufgeregten Menschen in ihrem Büro aufgesucht wird, lautet die angsterfüllte Frage meist: "Pardon Madame, wo ist eigentlich der Kommissar?" An die tausend Mal hat die Karriere-Polizistin gelangweilt geantwortet: "Monsieur Maigret ist nun mal eine Frau in Paris. Und die bin ich!"

LIEBESVIERTEL - MONMARTRE

Erste Hinweise auf eine feminine Berufsauffassung und auch auf qualitative Veränderungen in der Polizeiarbeit lieferte Martine Monteil schon als junge Kommissarin im 17. Arrondissement, dem undurchsichtigen Liebes-viertel unterhalb des Monmartre. Ein Serbe hatte drei Frauen vergewaltigt und erwürgt - immer in einer Tiefgarage. Nur die zweifelsfreien Beweise, um den Mann zu überführen, reichten nicht. Eine Nacht hat Martine Monteil dann mit dem Täter geredet, ihn systematisch verhört, ohne Notizblock und Aktenordner, ihm alle Einzelheiten beharrlich immer wieder vorgehalten - bis er mürbe wurde. Er gestand.

Ihr antiker Schreibtisch in der fünften Etage des Polizei-Hauptquartiers ist nahezu leer. "Akten brauche ich nicht, ich weiß die Einzelheiten auch so, schließlich habe ich Jura studiert und Examen gemacht. Da wird das Gedächtnis durchtrainiert", strahlt sie siegesgewiss.

VERGEWALTIGER DURCH DIE REPUBLIK JAGEN

Madame Martine zählte zum zweiten Frauen-Jahrgang auf der Polizeischule in Saint-Cyrau Mont d'Or, die seit 1975 auch Polizistinnen ausbildet. Es ist eine Frauen-Generation, die in Frankreich erst ganz allmählich, dann aber immer deutlicher Ermittlungsmaßstäbe verschob - hin zur kriminalistischen Frauen Wahr-nehmung Ihre einstige Mitschülerin Mireille Balle-strazzi leitet heute das Kripo-Regionalbüro im korsi- schen Ajaccio, und Danielle Thièry sorgt sich um die Flug-sicherheit bei der Air France. Als diese drei Frauen noch die Schulbank drückten, da haben sie sich auf eine weibliche Ausgangsposition verständigt, die es nunmehr im Polizieialltag umzusetzen gilt. "Wenn wir dort draußen irgendwo im Einsatz sind, wird es einen neuen Röntgenblick geben. Wir werden Vergewaltiger durch die ganze Republik jagen und erst mit einem Geständnis Ruhe geben."


FRAUEN-PRÄSENZ

Nur so ist es mittlerweile zu erklären, warum in Frank-reich die zu Protokoll gegebenen Vergewaltigungsfälle um zwölf Prozent gestiegen sind. Madame Martine bedeutet:"Durch die erstarkte Frauen-Präsenz in unseren Straßen trauen sich immer mehr Vergewalti-gungsopfer, das Verbrechen zu benennen und Straf-anzeige zu erstatten. Wir haben auch unseren Poli-zistinnen das Bewusstsein geschärft: Achtet auf diese Männer, auf ihre Bewegungen, auf ihre Blicke."

Mittlerweile verfügt Frankreich über 31.000 Poli-zistinnen. Das entspricht einer Quote von 15 Prozent. (In Deutschland beträgt der Frauenanteil cirka sieben Prozent).

"Die Polizistinnen sind natürlich keine Wundertiere", urteilt Michel Richardot, Direktor der Staatlichen Hochschule für Polizei in Saint-Cyr am Mont d'Or. "Aber sie haben unsere Arbeit qualitativ erheblich verbessert in diesen sozial zerrissenen Zeiten. Sie sind scharfsinnig, nicht so draufgängerisch, eben rechts-staatlicher als Männer. Keine Polizistin ist in einem der berüchtigten Gewaltskandale verwickelt. Frauen in Uniform können nachweislich vor allem eines - den öffentlichen Frieden in Polizei-Revieren oder auch im Stadtviertel wieder herstellen."




Samstag, 20. Juli 1996

Erkaufter Traum aus alten Steinen



























































Ob Geldwäsche für Tokio-Clans
oder ein erlesenes Lustobjekt für Michael Jackson(*1958+2009) samt Anhang: Frankreichs Schlösser und Burgen werden oft aus Geldfnot verscherbelt. Burgruinen schmücken Landschaften von der Loire bis Versailles. Auch Voltaires Château in Fernet an der Schweizer Grenze sollte unter den Hammer kommen.


die tageszeitung, Berlin
vom 20. Juli 1996
von Reimar Oltmanns

Besucher strömen seit kurzem durch das Portal des Schlosses Fernet-Voltaire an der französisch-schwei-zerischen Grenze. Die Autostraße schlängelt sich durch den Jura, einer kleinbäuerlich geprägten Landschaft entlang der Alpenperipherie. "Noch einmal", seufzt die 66jährige Winzerin Martine Dupré, "wollen wir in der Illusion ertrinken, einer längst verblichenen Zeit Frank- reichs ganz nah zu sein. Wenn der Château-Ausverkauf der Republik so weitergeht, kann es bald schon zu spät sein. Irgendwie ist es schon ein bisschen der Ausverkauf unsere Seele."

VERFALLEN - VERWAHRLOST

Acht Schlösser im Wert von insgesamt knapp 95 Millionen Euro sind über Nacht von einer in Tokio sitzenden Gesellschaft - Yokoi-Clan - erworben, ausgeräumt und schließlich der Verwahrlosung über-lassen worden. Schlösser als Geldwaschanlage für internationale Schiebereien, illegale Transaktionen, Rauschgiftgeschäfte. - Schlösser als Verschnaufquar- tiere russischer Mafiabosse, mitunter auch eines funda- mentalistischen Emirs. Und ein erlesenes Château für den profitablen multimedialen Freizeitzirkus des amerikanischen Popstar Michael Jackson. Er darf sich seit jüngster Zeit Eigentümer des Schlosses Chabenet nennen. Einer Burg aus dem 15. Jahrhundert in der Ortschaft Pont-Chrétien im Département Indre - mit acht Türmen, 82 Räumen samt Fahrstuhl und eines Schwimmbeckens: dazu einem Gelände von 17 Hektar für 12 Millionen Dollar.

ROMANTIK EINES VICTOR HUGO

Dabei gehören die 40.000 historischen Gemäuer zum Herzstück der großen touristischen Attraktionen des Landes, locken Jahr für Jahr Millionen Besucher aus aller Welt an - die romantisch verklärten Adelssitze, Schlösser und Schlösschen, Burger und andere ge-schichtsträchtige Bauten.

So besichtigen im letzten Jahr über 850.000 Menschen die Perle der Loire-Schlösser, das Château de Cham-bord - von Versailles mit seinen 3,2 Millionen Besuchern ganz zu schweigen. Das Schloss Chambord, unter François I. im Jahr 1519 gebaut, ist mit 440 Räumen das größte Loire-Schloss und liegt im größten Park Europas.

NATIONALES ERBE

In Frankreich sind mehr als 24.000 Bauten,Burgen und Schlösser zwischen dem 10. und dem 15. Jahrhundert befestigt worden. Nur eine zarte romantische Liebe, die etwa von einem Victor Hugo (*1802+1885) unnach-ahmlich gepflegt wurde, konnte sich freilich kaum gegenüber der mittelalterlichen religiösen Kunst be-haupten. Mit der Folge, dass der Erhalt von Burgen und Schlösser im Gegensatz zu Kirchen oder auch Kathe-dralen sträflich vernachlässigt worden war. Allein 1.500 Châteaux hat der Staat nunmehr zum schützenswerten nationalen Erbe erklärt. Zwei Drittel davon, rund tausend Schlösser, sind in Privatbesitz.

EIN CHÂTEAU FÜRS PUBLIKUM

Die meisten, die nun als Ruinen Landschaften schmük-ken, genießen kein besonders Augenmerk. Lange Zeit haben die Behörden gezögert, sie unter Denkmalschutz zu stellen. Einfach aus Angst, enorme Renovierungs-kosten zahlen zu müssen. "Classé", zum Denkmal klassi-fiziert, lautet das Prädikat, das die Gelder mindestens zu 50 Prozent fließen lässt. Wobei jede Baumaßnahme von einem staatlich beauftragten Archi-tekten abgesegnet werden muss. Gebäude werden als "classés" anerkannt, wenn "deren Aufrechterhaltung von öffentlichen Interesse ist hinsichtlich der Kunstgeschichte" (Gesetz vom 31. Dezember 1913). Dann ist es möglich, immerhin 100 bis 50 Prozent der Renovierungs- und Unter- haltungsausgaben steuerlich abzusetzen. Vorausge-setzt, dass das Château für Publikumsvisiten zu- gänglich ist.

AN SEKTEN ZU VERMIETEN

Indes: Wenn ein französisches Schloss aus dem 17. Jahrhundert für eine Monats-miete von einem Euro angeboten wird, so offenbart jene Offerte den Palais-Zustand der Nation.

Im südfranzösischen Dorf Pointis-Inard diente das dortige Schloss bis vor kurzem als Ferienpension. Allmählich verfällt es. Wie und wo Gelder für dringende Erhaltungs-arbeiten (bis zu 800 Millionen Euro) aufzutreiben sind, weiß keiner. Bürgermeister Jean-Louis Puissegur kann partout keine kapitalkräftigen Schlossmieter finden. "Bald bin ich durch dieses Château-Problem so weich gekocht", gesteht der Orts-vorsteher, "dass ich es auch an eine ordentliche Sekte vergeben würde. Hauptsache, vermieten. Das bringt Geld."

LANDSCHAFTEN BLUTEN AUS

Vertrieu. ein Dorf im französischen Bugey mit 12o Einwohnern, trägt den Namen seines Schlosses. Es gehört zu den villages mourants (sterbenden Ge-meinden), dem schleichenen Verfall preisgegeben. Jedes Jahr verlassen nach Schulabschluss um die zehn Jugendliche den Ort. Die Landwirtschaft vermag sie nicht zu halten. Und der gewinnbringende Tourismus rast am Ort Schnurstraks vorbei. Schloss Vertrieu scheint keine Reiseführersehenswürdigkeit zu sein, und auch ein schnell bewältigter Rundgang bringt keinerlei Aufschluss. Dafür ist es eine unbewohnte Ruine, irgend-wie ein Dornröschenschloss geblieben. Eben ein Schloss, das seit neun Jahrhunderten Erbstück - "Mitgift" war. Frauen haben stets am Spieltisch eine besondere Rolle gespielt. Meist ist hier ihr "Nennwert" wie auf einer Pferdever-steigerung ausgehandelt worden. Kein Wun- der, dass nicht ein einziges Möbelstück jener wirren Zeitläufte unbeschadet überstand, das Gemäuer mittler-weile Risse zeitigt.

Was soll aus dem Schloss werden: Wohnsitz, Museum, restauriertes Denkmal in alterloser Vollkommenheit? Seit Jahren finden weder Eigentümer noch Behörden eine Antwort. Da hilft nur Madame Cantin - gebeugte Haltung, graue Löckchen, blaue Kittelschürze - aus dem Casino-Laden mit ihrem obligaten kessen Sprüchlein wegweisend weiter: "Ach, Dornröschen folgt den Körb-chen und Fröschen!" Aber wo ist der reiche Prinz, der das Château einfach heftig wachküsst? fragen sich alle Beteiligten. Achselzucken.

WARTEN AUF GELD-ADEL

Im Örtchen Ferney-Voltaire hat Bürgermeister Georges Vianès vor dem Schriftstellerdenkmal einen Fototermin mit Lokalreportern. "Wenn der Name Voltaire bei der Französischen Revolution nicht an das Wort Ferney angehängt worden wäre, hatte keiner gewusst, wer wir sind. Ob Sekten, Scheich oder Geldadel - unser Schloss wäre längst nach den Gesetzen des Marktes für min-destens fünf Millionen Euro unter den Hammer ge-kommen." Zwei Dutzend Städte im Osten Frankreichs kämpfen gemeinsam um die Rettung des Schlosses. Zur Zeit gehört das aus dem 18. Jahrhundert stammende Gebäude zwei über 80 Jahre alten Frauen, die das An-wesen abzugeben trachten. Sie sehen sich nicht in der Lage, das Château weiter zu erhalten. Aufflammende Erbstreitigkeiten unter ihren sieben Kindern und drei-zehn Enkeln diktieren zudem Preise wie Verkaufs-absichten.

HERRENSITZ MIT PRIVATTHEATER

In diesem feudalen, geschichtsträchtigen Herrensitz mit Park und Privattheater lebte François Marie Arouet, der sich Voltaire nannte, von 1758 bis zu seinem Tod im Jahre 1778.

Mit seinen herben Versen gegen "Seelentyrannen" und "Feinde des Menschenge- schlechts" verstand Voltaire es schon damals, die öffentliche Meinung zu mobilisieren und in Frankreich jenen streitbaren, intellektuellen Liberalismus zu etablieren, der in Emile Zola (*1840*1902), Anatole France (*1844+1924), Romain Rolland (*1866+1944) und Jean-Paul Sartre (*1905+1986) würdige Nachfahren fand.

HEIMSTATT DES VORDENKERS

Im Schloss zu Ferney schrieb Voltaire seine meist-gelesene Erzählung "Candide oder die beste Welt" und zahlreiche andere Werke. Der Aufklärer Voltaire hatte es nicht zuletzt erworben, um der Pariser Zentralgewalt durch Flucht über die Grenze zu entgehen. Gebäude und Mobiliar stehen heute unter Denkmalschutz. War doch hier die einst verfemte, heute unisono einverleibte Heimstatt des großen Vordenkers bürgerlicher Frei-heiten - somit ein Stück französischer Identität - zu Hause.

"Aus Respekt vor Voltaire und seinem Kampf für die Freiheit", erklärt der arg nervös gewordene Kulturamts-leiter Alex Decotte, "müssen wir alles tun, damit das Château nicht in falsche Hände gerät." Er will im Sinne Voltaires einen Treffpunkt für Exilanten, Schriftsteller und Verfolgte einrichten. Und Bürgermeister Georges Vianès frohlockt: "Für McDonald's ist Voltaires Schloss zu teuer." - "Noch", fügt er mit einer besorgten Vorahnung hinzu.





















Samstag, 20. April 1996

Schmausen und Trinken wie Gott in Frankreich

















In der oft belächelten Provinz stemmen sich lieb gewordene Lebensgewohnheiten und Mentalitäten gegen schrille Zeitläufte des fast food aus Tiefkühltruhen dieser Jahre. Über gesunde Nahrung, Geschmackslüste und den kulinarischen Selbstbehauptungswillen im Département Ain, seinen Fischteichen, Ge- müsemärkten, Restaurants. Stimmungs- momente aus dem Land der feinen Küche zwischen Gourmets und Gourmands der Haute Cuisine.

die tageszeitung, Berlin
vom 20. April 1996
von Reimar Oltmanns

Hell schlagen die Turmuhrglocken der Kirche Notre Dame zu Bourg-en-Bresse. Für Momente liefern Silhouetten noch den Augenschein eines gemächlichen, romantisch verklärten Frankreichs inmitten unbe- achteter Regionen. Jahr für Jahr mit Beginn der Frühlingszeit schieben sich Autokolonnen auf ihren eiligen Reisen gen Süden vorbei am französischen Département Ain im Dreieck zwischen Genf, dem Städtchen Macon und Lyon. Eine intakte Natur in abwechselungsreicher Landschaft mit Wiesen, Wäldern, Bächen, Teichen und Seen - sie bleibt schnurstraks, irgendwie vergessen, am Wegerand liegen.

IM RESTAURANT "LES FRANÇAIS"

Beschaulich döst die pittoreske Altstadt von Bourg-en-Bresse mit ihrem penibel restaurierten Fachwerk und den verborgenen Innenhöfen aus dem 16. Jahrhundert vor sich hin. Am Ende der Avenue der 43.000 Ein- wohner zählenden Kleinstadt schält Monsieur Roland, Kellner im Restaurant "Le Français" aus dem Eis. Sie gilt es zum berühmten Huhn zu servieren - zum Poulet de Bresse à la crème et aux morilles, mit Morcheln und Sahnesauce, versteht sich. Mittagszeit. Hier, im Départe- ment Ain, ist noch das alte, stille, über Jahrhunderte gewachsene, tiefe und ländliche Frank-eich zu Hause, seine Esskultur ohnehin.

Vis-à-vis im Café du Commerce lebt nicht nur die oft belächelte Provinz auf, da stemmen sich lieb gewordene Lebensgewohnheiten, Mentalitäten und Ansichten gegen schrille Zeitläufte unserer Jahre - noch. Eben ein aussterbendes Frankreich der Bistros, von denen jähr- lich im ganzen Land 6.000 verschwinden - um die sechzehn pro Tag. Hier im Café du Commerce zu Bourg-en-Bresse treffen sich noch die Männer mit ihrer Gau- loise im Mundwinkel und dem Baguette unterm Arm. Wie selbstverständlich werden sie vom Patron Jacques in traditioneller Berufskluft mit weißem Hemd und schwarzer Schürze bedient. Schenkt Patron Jacques das Rotweinglas randvoll ein - un petit rouge für Alain, wie gewöhnlich.

SALON FRANZÖSISCHER LEBENSART

Das Bistro-Leben war seit jeher der klassenlose Salon, in dem sich die französische Lebensart vital in Szene setzt. Gelächter vielerorts, Palaver über die Unfähigkeit der Regierung überall, Expertisen zu Pferderennen inbe- griffen; laut und kontaktnah allemal. Aber nicht nur in Frankreich brechen lieb gewordene Eigenheiten jäh zusammen. Ganz nach dem Motto: "den Alten ihr Bistro und Restaurant, den Jungen ihr Fast-Food-Laden McDonald's", sortiert sich die Gesellschaft auffallend an ihren gastronomischen Schauplätzen. "Früher brachten die Amerikaner uns das Kaugummilutschen bei", froh-lockt der Bürgermeister von Bourg, Paul Morin, "heute essen wir sogar schon in Frankreich industriell - wie chemisch gefertigt aus Plastiktüten." Bedächtigen Schrittes weihte Morin den dreihundertfünfzehnten Macdo der Republik ein; sie beschäftigen insgesamt 34.000 Teilzeitkräfte bei einem Jahresumsatz von 760 Millionen Euro. Weltweit soll auf Geheiß des Unter- nehmens künftig alle sechs Stunden ein neues Schnell- restaurant eröffnen.

Verständlich, dass in Frankreich, im Land der feinen Küche und großen Köche, die Gourmets und Gour- mands für ihre Haute Cuisine eng zusammenrücken. Und das vor allem in einer Region, die Essen und Trinken für den ältesten Kulturbeitrag der Menschheit schlechthin hält. In diesem Landstrich liefern 600 Klein- und Mittelbetriebe jährlich 1,5 Millionen hochwertige volailles de Bresse. Jenes schneeweiße Luxusgeflügel ist hier zu Hause, wo jedem Huhn nach einem Gesetz vom 1. August 1957 eine Mindestfläche von zehn Quadrat- metern, eine Lebensdauer von vier Monaten in voller Freiheit und natürliche Nahrung zu garantieren sind. Zudem ist es weltweit das einzige Geflügel mit dem Siegel der Appellation d'Origine Controlée (AOC) - der kontrollierten Herkunftsbezeichnung also. Ob Hühner oder auch Truthähne - sie führen zwar nur ein kurzes, aber wohl glückliches Leben. Nur die ersten und letzten vierzehn Tage bleiben sie eingesperrt, sonst scharren sie im weitläufigen Gelände der Bresse.

HEIMAT DES KARPFENS

Das Département Ain ist aber auch die Heimat des Karpfens, der sich in vielen Jahr hundert Teichen in den angrenzenden Dombes üppig züchten lässt. Unbe- stimmt verlieren sich die Blicke in dieser angrenzenden Sumpfgegend - nur das Wasser und hier wie dort ein kleines, schmuckes Dorf im Visier. Exakt 1.000 Seen auf 10.000 Hektar ermöglichen einen jährlichen Karpfen- ertrag von nahezu 2.000 Tonnen. Die Dombes ist Frankreichs erster Platz in der Teichfischproduktion. Nur - die essende Gesellschaft verabschiedet sich zunehmend vom natürlichen Mahl - wissenschaftlich-künstlich und chemisch-sensorisch kombinierte Industrieprodukte scheinen gefragter denn je.

GESCHMACKS-AUSBILDUNG

Frühlingstage im Département Ain - das sind gleichsam Wochen des kulinarischen Selbstbehauptungswillens. Einmal wöchentlich schaut Meisterkoch Jean-Pierre Bouvier nach Schulschluss im Café du Commerce auf einen Aperitif vorbei. In rankreich zählt die Geschmacks- ausbildung in den Grundschulen längst zum Unterricht. Und der maître cuisinier Jean-Piere Bouvier aus Villars-Les-Dombes gehört zu den 600 Köchen, die Kindern erstmals Geschmacksnuancen einschärfen wollen. "Die können doch eine frische Ananas von einer Dosenfrucht nicht mehr unterscheiden, alles nur die Gurgel hinunter- befördern, ohne Sinn und Verstand", urteilt Monsieur Bouvier. "Doch nur wer schmeckt, differenziert, kann wählen, auswählen, will nicht alles schlucken. Im Ge- schmack spiegelt sich Zivilisation wider."

FRISCHE NATURPRODUKTE

Als Meisterkoch bevorzugt der 48jährige Jean-Pierre Bouvier sein Leben auf dem Lande. Hier kann er mit seinem Sohn Grégory - auch er ist ein junger cuisinier - frische Naturprodukte auf den heimatlichen Märkten begutachten, den gerade gefangenen Karpfen sogleich bestellen. Abends im Restaurant von Jean-Pierre Bouvier in Villar-les-Dombes - zumindest hier leben noch alte Sitten und bedächtige Rituale fort. Hier wie dort, vor Jahrzehnten im Département Ain, begrüßt Madame Bouvier die Gäste, führt sie zu ihrem eigens reservierten Platz und fragt nach ihrem Befinden. Während Madame den Aperitif als Appetitanreger reichen lässt, tranchiert ihr Mann in der Küche den vor zwei Stunden gefangenen Karpfen. Sohn Grégory bereitet als Dessert frische Himbeeren zu. Er sagt: "Ich weiß auch nicht warum, aber die Menschen sind plötzlich närrisch danach" - Frankreich im Frühling alter Esskulturen.