Sonntag, 22. Januar 1995

Kulturkampf ums Kopftuch




















"Kopftuch-Feuilleton" geriet unversehens zum Schleier- krieg zweiter Welten in Umbruchszeiten. Religionsstreit auf Französisch: Im Land der Laicité - der Trennung von Kirche und Staat - ist in öffentlichen Schulen kein Platz für Glaubensbekenntnisse oder religiöse Symbole. Die Furcht vor einer "neuen arabischen Moral" macht Pädagogen zu Rausschmeißern und Tschador- Mädchen zu Märtyrerinnen. Zerreißproben. Verschleierte Töchter als Speerspitze gegen westliche Lebensformen.Der Grund: das Kopftuch-Verbot an staatlichen Institutionen. Imame hatten flächendeckend eine "Kopftuchpflicht" angeordnet. In manchen Gegenden Frankreichs ist die Welt der Moslems bereits erlebte Wirklichkeit. - Umbruch-Zeiten

Hessische/Niedersächsiche Allgemeine,
Kassel
vom 22. Januar 1995
von Reimar Oltmanns

Das französische Städtchen Nantua mit seinen viertausend Einwohnern liegt in einem der Jura-Täler im Südosten des Landes. Hoch ist die einheimische Arbeitslosigkeit, groß sind die Betriebsverluste der Kunststoff-Industrie im französischen "Plastik-Tal". Als Großkonzerne einstige Familien-Firmen aufkauften, brachten moderne Manager sogleich ihre eigenen Arbeitskräfte mit: Frauen aus den maghrebinischen Billiglohnländern Nordafrikas.


WIMPERN UND AUGENLIDER GESCHWÄRZT

Sie kamen in Bussen, meist im Morgengrauen - und vorsichtshalber unauffällig gleich direkt an die Fabriktore gefahren. Galt es doch für entlassene französische Arbeiter Tatsachen zu schaffen, Proteste im Keim zu ersticken.

Das kleinstädtische Innenleben schien den Belastungen wirtschaftlicher Umbruchprozesse halbwegs standzuhalten, auch wenn die rechtsradikale Front National bei den letzten Wahlen 30 Prozent der Stimmen holte. Sorgsam verdeckte Risse einer multikulturell verordneten Zuversicht. Bis zu jenem Tag wenigstens, an dem die Kopftücher kamen, als die "neue arabische Moral" im Gewand des "Tschador" oder Schleiers ihren sichtbarsten Ausdruck bekam.

Und Nantua ist überall in Frankreich, wo der Kulturkampf gegen arabische Islamisten gerade erst begonnen hat. Wo der Schule abermals gesellschaftlich Ungelöstes überantwortet wird. Ob Drogenhandel, Schülergewalt, Bandenkriege, Erpressung oder auch das neuerliche Sendungsbewusstsein der Imame.

Sie heißen Fatima, Leila oder auch Samira. Es sind lebenslustige 17jährige Mädchen. Nur ihr Äußeres signalisiert Fremdheit. Und das selbst in Schulen, die 1.200 Schüler mit fünfzehn Nationalitäten kennen. Ein dunkles Tuch verhüllt ihre Gesichter, Wimpern und Augenlider sind mit Kohle geschwärzt. Der Schleier als erkennbares islamisches Merkmal kultureller Ungleichheit der Geschlechter, mithin als Symbol unterdrückter Frauen, polygame Zwangsehen, Beschneidung, körperliche und seelische Gefangenschaft, Unterwerfung, Schläge ... "Allah wird es schon richten", heißt es da am Gymnasium Xavier Bichart zu Nantua. "Ich will mein Kopftuch immer behalten, das verlangt meine Religion", bekunden junge Mädchen am großen Schulgitter auch ungefragt. Texte, wie die vom gottlosen Voltaire, wollen sie in der Französisch-Stunde auch nicht mehr lesen.

MOSLEMBRÜDER ALS LEIBWÄCHTER

Ihre Moslem-Brüder, die sie wie Leibwachen zum Unterricht begleiten und auch wieder abholen, hören es gern. Nur ihr türkischer Iman zu Nantua kann solchen Bekennermut nicht mehr vernehmen. Er wurde kurzerhand des Landes verwiesen, weil er nur die koranischen, aber nicht die französischen Gesetze respektieren wollte.

Ob Fatima, Leila oder Samira - sie wurden in Frankreich geboren, haben die französische Staatsbürgerschaft und sprechen meist nur Französisch. Ihre Eltern zog es in den 70er Jahren wirtschaftlicher Expansion in die Fremde, als Hunderttausende aus dem nördlichen Afrika als Billigarbeiter kamen - mit viel Hoffnung und oft einer Wellblechhütte oder Bretterbude als Endstation.

KOPFTÜCHER ALS FOLKLORE

Frankreichs Einwanderungspolitik beruhte in ihrem Wesenskern immer darauf, dass sich die Zugereisten immer anpassten. Ganz gleich welcher Hautfarbe, ganz gleich von welchen fernen Kontinenten - Kinder der Einwanderer verinnerlichten in der Schule den Lehrsatz als wichtigstes Gebot: "Unsere Vorfahren, die Gallier." Gewiss gab es auch in früheren Jahren schon verhüllte Kopftuch-Mädchen an den Schulen. Damals wurden sie als "folkloristische Farbtupfer" empfunden. Vor zehn Jahren konnte noch nach einer 1981 vereinbarten Konvention ein Marokkaner auch in Frankreich seine marokkanische Frau ohne Gerichtsverfahren nach seinem Gutdünken verstoßen. Mittlerweile hingegen lösen derlei offensive Charaktere arabischer Kulturen im Land der Franzosen vielerorts ein "nationales Psychodrama" aus, so die Pariser Tageszeitung Le Monde. "Es ist nicht leicht, das Feuer zu löschen, wenn die Seele brennt."

Mit vier bis sechs Millionen Moslimen rangiert der Islam inzwischen vor etwa 800.000 Protestanten und 750.000 Juden in der französischen Republik. Religionsexperten vermuten gar, dass es inzwischen mehr praktizierende Muslime als Katholiken gibt. Immerhin leben in Frankreich ebenso viele Muslime wie im Libanon und Libyen zusammen an Einwohnern zählen.

MODERNE APARTHEID

Gewandelt hat sich das ehemals entspannte Klima der Menschen untereinander - gewandelt haben sich die politischen Ausgangspositionen. Da war der Golfkrieg mit französischen Militäreinsatz, da tobt in Algerien - ehemals französische Kolonie - ein barbarischer Bürgerkrieg mit 30.000 Toten zwischen radikalen islamischen Fundamentalisten und einer weltlich eingestellten Militärdiktatur. Da leben Tausende und Abertausende Eingewanderte in 400 Trabantenstädten vor sich hin - ohne Arbeit, ohne reelle Ausbildungschancen und mit einer Lebensperspektive aus in Beton gegossenen "Kaninchenställen". Eben ein abgelegte Vorort-Volk aus Elend, Resignation, Isolation und im ständigen Kleinkrieg mit der Polizei. Im modernen Sprachgebrauch: "urbane Apartheid".

WESTWÄRTS VON ALLAH

Mehr als 700.000 der französischen Arbeitslosen sind unter 25 Jahre alt. Hunderttausende haben keinen Schulabschluss, keine Berufsausbildung. Sie alle ahnen , dass der Zug längst endgültig an ihnen vorbei gefahren ist. Gewaltexplosionen. Den "beurs", den in Frankreich geborenen nordafrikanischen Einwandererkindern, bleibt reichlich wenig. Keine gesellschaftliche Anerkennung, kein Modellversuch der Integration.

"Die Araber sind zerrissen zwischen zwei kulturellen und sozialen Welten", schrieb der Soziologie-Professor Francois Dubet. "Sie wollten die neue übernehmen ohne ihre alte Identität zu verlieren, sich verändern und sich zugleich treu bleiben." Ihr Ausweg? Gefängnis oder neuerdings verstärkt der Imam. "Radio Beurs" und "Radio Orient" senden täglich Gebetsstunden - freitags direkt aus Mekka. Über 48 Prozent der Maghrebiner verneigen sich laut Umfragen täglich. Sinnsuche in Frankreich, westwärts von Allah.

Das ehedem bespöttelte "Kopftuch-Feuilleton" geriet unversehens zum Schleierkrieg zweier Welten in fragilen Umbruchzeiten. Ein Kopftuch markiert den Trennungsschnitt entgegengesetzter Kulturen. In ihrem allseitigen Präsenzgebaren hatten die Imame - obwohl der viel beschworene Koran dies nicht zwingend vorschreibt - ihren Frauen längst flächendeckend "Kopftuch-Pflicht" verordnet: als Widerstand gegen die westliche Welt mit ihrer konsumorientierten Demokratie samt Feminismus, als Widerstand in Frankreich gegen die algerischen Militärs, Widerstand gegen Razzien, gar Internierung islamischer Fundamentalisten. - Verschleierte Töchter als Speerspitze ... ...

In manchen Gegenden Frankreichs ist die Welt der Moslems bereits erlebte Wirklichkeit. In der Stadtregion Lille-Toucoing-Roubaix im äußersten Norden etwa, da ist Schweinefleisch in den Einzelhandels-Geschäften nur unter dem Ladentisch zu haben, wird offiziell in den Bars zwar Wein oder ausgeschenkt, ist in Wirklichkeit aber nicht zu haben. Angst. Naheliegend, dass in solchen Landstrichen mit einer maghrebinischen Bevölkerung von 53 Prozent der Schleierkrieg begann und sodann in weitere Provinzen hineingetragen wurde.

TOLERANZGRENZEN

Es blieb Erziehungsminister Francois Bayrou vorbehalten, "die Toleranzgrenze" der Gesellschaft aufzuzeigen. Unter Berufung auf die verfassungsmäßige Trennung von Kirche und Staat untersagte der katholische Politiker in seinem Erlass vom September 1994, religiöse Symbole mit auffälligen Merkmalen an staatlichen Schulen zur Schau zu stellen - Kopftuch-Verbot. Als vor etwa fünf Jahren der Streit ausbrach, der seither auch Gerichte beschäftigt, verschleierten sich rund 1.200 muslimische Schülerinnen im ganzen Land. Jetzt werden Töchter islamischen Glaubens, die sich trotz des Ministers Verdikt mit ihrem "Hedschab" schmücken, kurzerhand der Schule verwiesen. Ob in Lille, Paris, Marseille oder Nantua - Lehrer aus Rausschmeißer, Tschador-Mädchen als Märtyerinnen. Ratlosigkeit unter Frankreichs Pädagogen. Von der Politik "missbraucht" fühlen sie sich allemal. "Was wird aus den Mädchen, wenn wir sie verstoßen müssen?", fragten erregt Schuldirektoren. Keiner weiß es. Achselzucken ist die Reaktion.

Dabei war es der Erziehungsminister selbst, der als früherer UDF-Abgeordneter derlei "Ausgrenzungsmaßnahmen" als "pädagogisch sinnlos" und für "die Integration schädlich" bezeichnete. Schließlich ist der Islam längst zur zweitwichtigsten Religion Frankreichs geworden.

Tatsächlich hat der Kopftuchstreit verwirrend an Eigendynamik gewonnen. Islamische Konfessionsschulen bahnen sich in der Republik von "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" ihren unaufhaltsamen Weg. Derweil päppelt der Staat den Katholizismus als Gegenmodell. Schon jetzt zählt Frankreich 10.000 katholische Privatschulen aus klerikal feudaler Vergangenheit, die neuerdings von den Regierung konservativen Zuschnitts bevorzugt in der Ausstattung bedacht werden.

Im Angebot jener Bildungseinrichtungen nehmen die Vermittlung moralischer Maßstäbe und mehr französische Kultur im traditionellen Sinne breiten Raum ein. Aber selbst dort wackeln schon sicher gewähnte Fundamente des Abendlandes. Sagte doch Pater Max Cloupet, Generalsekretär der katholischen Schulen: "Wir schließen keine Muslime von unserem Schulalltag aus, nur weil sie sich auch äußerlich zu ihrem Glauben bekennen."