Dienstag, 14. November 1995

Wallfahrt zu Charles de Gaulle


















Vor mehr als drei Jahrzehnten starb Charles de Gaulle - Vater der 5. Republik. Sein Wohn- ort ist zum Wallfahrtsort geworden. Über eine halbe Millionen Menschen pilgern jährlich nach Colombey-Les-Deux-Eglises in der Cham-pagne. Sehnsucht nach dem Über-Vater, Rück- besinnung auf Herkunft - auf Frankreichs Geschichte .


Die Rheinpfalz, Ludwigshafen
14. November 1995
von Reimar Oltmanns


In der französischen 370-Seelen-Gemeinde Colombey-Les-Deux-Eglises gibt es unterdings drei Altäre. Zwei, die seit eh und je in der Dorfkirche stehen, und einen, der zu Ehren des Gründers der Fünften Republik, Charles de Gaulle, errichtet wurde - zu seinem 25jährigen Todestag am 9. November 1985 im Souvenirladen der Madame Demange. gleich auf der Hauptstraße, hinter zwei riesigen Fahnen in Farben der Trikolore.

Ihn - den de-Gaulle-Altar - zieren unzählige Teller, T-Shirts und Taschen, Aschenbecher, Feuerzeuge, Salz-fässer, Barometer, Eieruhren, Käseplatten, Briefmarken, Blumenvasen und natürlich de-Gaulle-Büsten als para-religiöse Devotionalien in allen Größen; Video- und CD-Tonkassetten, der Wimpel mit Kreuz und Kirche, eben Lothringer Kreuze in allerlei Varianten, zum Anhängen oder als Ring in blau-emaillierten Herzen, auch ins V-Zeichen des Siegers eingelassen.

ORT AUF DER WELTKARTE

Postkarten zeigen den General mal als Retter der Nation auf einem Schlachtschiff im Ärmelkanal, mal als würdi-gen Greis an der Seite seiner Frau Yvonne. Und auf dem Porzellan-Aschenbecher steht geschrieben: "Hier ist Frankreich zu Hause. Hier ist Vaterland. Es war der General - er malte unseren Ort auf die Weltkarte."

Da stehen sie nun, Seite an Seite in der ersten Reihe der überfüllten, kleinen Dorfkirche - und das noch nach Jahrzehnten, Jahr für Jahr. Die Alt-Gaullisten, die Erzfeinde der Pariser Macht- und Prestige-Politik oder auch nur die leiblichen Enkel des Generals. Alle Jahre wieder dröhnt die Orgel, antwortet der Chor. Aus dem Gesang lösen sich Worte: Tod - Schlachfeld - Vaterland.

NAPOLÉON - DE GAULLE

Eine schlichte, elfenbeinfarbige Marmorplatte schmückt das Grab de Gaulles - am 22. November 1995 wäre er 105 Jahre alt geworden. Die goldene Prägeschrift be- schränkt sich auf das Notwendigste. De Gaulle und seine Frau ruhen Seite an Seite mit ihrer behinderten Tochter Anne. Kein Kranz, keine Blumen. Das hatte der General schon 1952 testamentarisch verfügt. Die Mehrheit der Franzosen, so ermittelten Meinungsforscher, glaubt nicht, "dass sie zu Lebzeiten noch einmal einen Staats- mann vom Format de Gaulles erleben werden." Und 23 Prozent der Befragten halten de Gaulle für ebenso be- deutend wie Napoléon. Immerhin wurden etwa 4.000 Bücher nach Schätzungen des "Instituts Charles de Gaulle" in aller über den ehemaligen Präsidenten verfasst.

Oft baut sich Madame Demange bedächtig vor dem de Gaulle-Altar auf. Das verlangt schon ihr Verkaufsritual. Folglich gehen ihre Blicke auch hinaus auf den dörf- lichen Hauptboulevard. Dort, wo sich Menschen- kolonnen gemächlichen Schrittes Richtung Friedhof schieben. An die 600.000 Touristen finden jährlich ihren Weg nach Colombey-Les-Deux-Eglises.

NOSTALGIE-WELLE

Eine unvermutete Nostalgie-Welle verklärter, auch längst vergilbter Jahre des Gaullismus schwappt über das Land. Die Republik erinnert sich auffällig hin-gebungsvoll ihres Gründers. Die eigentlich große Versöhnungswelle mit ihrem einst eher unbeliebten, autokritischen aber wortgewaltigen General Charles de Gaulle hat in Frankreich ein Vierteljahrhundert nach seinem Tode erfasst. Erst jetzt zu seinem 25jährigen Todestag (am 9. November 1995) und seinem 105. Geburtstag (am 22. November 1995) scheinen die Gegner von ehedem, vornehmlich die Intellektuellen der Republik, zur Versöhnung bereit zu sein.

Und es gibt in Frankreich zusehends mehr Menschen, die ans Grab de Gaulles wallfahren. Längst hat sich dieses eher ärmliche Dorf, umgeben von melancholisch angehauchten Wäldern in der Champagne, von kasta- nienbraunen Felder und schmutziggrauen Häusern zum neuen Lourdes politischer Pathos-Pilger gemausert.


POLIT-ZIRKUS

In solchen Momenten seufzt die 48jährige Souvenir-Madame laut: "Der Polit-Zirkus mit theatralisch vorge- brachten Touristengefühlen lebt in Lourdes für die katholische Kirche. Und wir hier betreiben einträglichen Fassadenputz für die gaullistische RPR-Parteipolitik. Frankreich, fragen wir uns inzwischen alle, was ist bloß los mit Dir?"

Immerhin: Noch nie waren die Vertrauensverluste in die Politik-Klasse so dramatisch wie heute. Noch nie gab es solch vollmundige Versprechungen verbunden mit krassen Wortbrüchen. Noch nie gab es so viele Men- schen ohne Brot und Arbeit. "Und dann inszeniert sich", fährt Madame fort, "die Grande Nation mit ihren kostspieligen atomaren Testversuchen, auch noch großspurig als Supermacht, auf dem Mururoa-Atoll. Frankreich gegen den Rest der Welt. Diese Politiker sind geradewegs dabei, das Erbe des Generals, unsere fünfte Republik, zu verspielen. Denn, der hatte stets auf den sozialen Ausgleich geachtet." Ihre Mutter, die zuhört, nickt stumm.


EUROPA ALTER NATIONEN

De Gaulles Außenpolitik war seiner Zeit voraus. Er proklamierte als Ziel die Auflösung der Militärblöcke und umschrieb sei Engagement für ein "Europa vom Atlantik bis zum Ural" auch als "die Überwindung von Jalta"; er empfing Ungarn, Tschechen, Bulgaren be- suchte Polen und Rumänien. Oft sprach er davon, dass Europa wieder ein Kontinent "seiner alten Nationen" werden müsse. Seine Europa-Politik "vom Atlantik bis zum Ural" gilt heute als visionär, seine Ansicht von der Überlegenheit des Nationalen gegenüber den Ideologien als bestätigt.

NUKLEAR-MACHT

Demonstrativ hatte Frankreich unter seiner Führung zu den inzwischen fünf Nuklearmächten der Erde aufge- schlossen. Es war de Gaulle, der m Februar 1960 die erste Explosion einer französischen Atombombe über der algerischen Sahara mit einem freudigen "Hurra Frankreich" begrüßte.

November-Tage - das waren in Frankreich schon immer de Gaulle-Tage oder auch Wallfahrts-Augenblicke. Colombey-Les-deux-Eglises ist ein kleiner Ort am Ostrand der Champagne im Département Haute Marne. dreihundert Kilometer östlich von Paris gelegen. Hier gibt's keine Industrie, kaum Städte, nicht einmal Wein wächst. Statt dessen viel Vieh, ein wenig Weizen und vor allem eine überlebensgroße Erinnerng an Charles de Gaulle. Kurzum: Nirgendwo, so will es scheinen, ist Frankreich französischer als hier: tiefernst und tiefkatholisch.

LA "BOISSERIE"

Auf dem Landsitz des Generals La Boisserie" steht in der Bibliothek der Lehnstuhl vor dem Spieltisch, an dem de Gaulle vor einem Vierteljahrhundert bei den Abend- nachrichten einschlief. Es ist ein kompakte, solides Herrenhaus aus dem Jahre 1843, ganz mit Wein bewachsen. Der Berufssoldat de Gaulle hatte es 1934 gekauft. Auf Wunsch des Generals und ohne staatliche Zuschüsse wurde in den fünfziger Jahren ein Turm angebaut, in dem er sich sein Arbeitszimmer einrichtete. Ein heller Raum mit Kachelboden und drei Fenster, die den Blick freigeben auf fünfzehn Kilometer Wald und Wiesen ohne ein einziges Haus. Einen Steinwurf ent- fernt ragt heute ein 43 Meter hohes Lothringer Kreuz aus Stahl und Marmor in die Höhe. Zu Lebzeiten hatte sich de Charles de Gaulle gegen solche monumentalen Ehrungen gewehrt. "Das würde nur die Feldhasen verscheuchen", sagte er. Trotzdem schluf er für alle Fälle einen Standort vor. In den Sockel eingehauen sind die Worte: "Es existiert ein Pakt, 20mal 100 Jahre alt, zwischen der Größe Frankreichs und der Freiheit dieser Welt. Ch.d. G."

WARTEN AUF DIE GESCHICHTE

"Die Einsamkeit ist meine Freundin. Mit wem sonst soll man sich zufriedengeben, wenn man einmal mit der Geschichte verabredet war", so dachte, so redete, so schrieb de Gaulle. Zumindest in "La Boisserie" hat de Gaulle sein Leben lang sendungsbewusst immer wieder darauf gewartet, von der Geschichte gerufen zu werden. Hier wartete er auf den Einmarsch der Wehrmacht, der ihn ins Exil nach London trieb und schließlich nach Kriegsende zum Präsidenten der Republik machte. Hier wartete er zwölf Jahre lang, nach dem Zusammenbruch der Vierten Republik bis zur Algerien-Krise 1958, die ihm seine zweite Präsidentschaft eintrug. Und hier wartete er auch auf das Resultat jener für ihn folgen- schweren Volksabstimmung nach den Studenten-Unruhen im Mai 1968. Er hatte nicht begreifen wollen, dass die großen Stunden der einzelgängerischen Chefs vorbei waren. Und hier erwartete er letztlich auch den Tod, der ihn am 9. November 1970 ereilte, als er gerade an einem weiteren Kapitel seiner Memoiren schrieb. Titel: "L'effort" - Die Anstrengung.

Jedes zweite Wochenende flüchtete de Gaulle aus dem ihm verhassten Elysée-Palast nach Colombey zur Familie. Schwiegersohn de Boissieu, langjähriger Generalstabschef des Heeres, Sohn Philippe, auch Kulturminister André Malraux (*1901+1976) waren gelegentlich dabei und durften mitreden. Nur hier taute der General auf, soweit seine Anstandsregeln dies über- haupt zuliessen. Mit seiner Frau Yvonne hat er sich gesiezt. Von sich selbst sprach er in der dritten Person.

KONRAD ADENAUER

Naheliegend, dass aus seiner Bibliothek Geschichte aus allen Ecken weht. An dieser Stätte der Zurückgezogen- heit wurde zwischen den "Erbfeinden" von einst der deutsch-französische Freundschaftsvertrag von 1963 vorbereitet. Und Konrad Adenauer war der einzige Regierungschef, der die Ehre hatte, von de Gaulle in seinem Haus empfangen zu werden. Wie weit die beiden Staatsmänner ihrer Zeit vorausdachten, belegt der Hinweis, dass schon Charles de Gaulle (*1890+1970)und Konrad Adenauer (*1876+1967) sich darüber Gedanken machten, ob der deutsch-französischen Vertrag völkerrechtlich potentiell für Gesamtdeutsch- land seine Gültigkeit habe. De Gaulle antwortete mit der prophetischen Bemerkung, dass die Wiedervereinigung als "natürliches Schicksal des deutschen Volkes" anzusehen sei.

HELDENVEREHRUNG

Irgendwie schlägt diese verschlafene Colombey-Les-Deux-Eglises den bizarren Bogen von Weltpolitik samt Heldenverehrung zu typischer französischer Sentimen- talität zwischen Citroen und Kinderbettchen. Hier fand de Gaulle jene Leute, die bis heute die Republik weitaus stärker prägten als die fernsehgeübten, wortgewaltigen Intellektuellen aus dem Quartier Latin der auch die showgeübte Schickeria auf der Croisette von Cannes. La France profonde, wie es heißt, das wahre, tiefe Frank- reich - ohne das in Frankreich keine Mehrheit zu fincden ist. So betrachtet, ist de Gaulle Stätte seiner Zurückge- zogenheit nicht nur Wallfahrtsort, sondern Sammel- punkt und Bekennerplatz der gaullistischen Bewegung schlechthin.

HINTER KARL DEM GROSSEN

Früh am Morgen hatte Staatspräsident Jacques Chirac (1995-2007) am Tage seiner Amtsübernahme im Mai 1995 in Colombey-Les-Deux-Eglises am Grab von Gene- ral de Gaulle einen Kranz niedergelegt. Das ganze Dorf begleitete ihn. Am Nachmittag fuhr er mit offenem Wagen, einem Citroen-Masaerati, eskoriert von Fanfare und Kavallerie der Garde auf dem beflaggten Champs-Elysées. Sichtlich bewegt entzündete Chirac dort im Bei- sein des Parlamentspräsidenten und zahlreicher Vertreter seines Algerien-Regiments ( Algerien-Krieg 1954-1962) und einer begeisterten Menschenmenge am Grab des Unbekannten Soldaten - die Gedenkflamme.

"Der Gründervater unserer fünften Republik", bekundete Bernadette Chirac, "war unter uns. Er hat das politsche System geprägt, uns geprägt - de Gaulle ist stärker denn je in Frankreich verankert. Er kommt gleich hinter Karl dem Großen."



Samstag, 4. November 1995

Studenten-Aufbruch ins Mittelalter





























































Offiziell werden derlei Initiationsriten - le Bizutage - an den Grandes écoles und Uni-versitäten des Landes totgeschwiegen. Seit 1997 sind derart rüde, mitunter brutale "Auf-nahmepraktiken" sogar ins Strafgesetzbuch aufgenommen. Gefängnis- wie Geldstrafen sollen Abhilfe schaffen. Dennoch leben jene studentischen "Korpsgeist"-Schikanen seit den zwanziger Jahren ungeahnt fort - Nöti-gungen als "Härtetest", Erniedrigungen der Neuankömmlinge, seelische wie körperliche Gewalt sollen ein Gemeinschaftsgefühl als Kaderschmiede stärken. Für manche Erst-semestler ist die Bizutage mittlerweile zu einem "humoristischen" Willkommensgruß geworden. An so manchen Hochschulen hingegen herrschen weiterhin
Peitsche, Knüppel,
Baseballschläger - gar Schutzgeld-erpressungen.

Nürnberger Zeitung
vom 4. November 1995
von Reimar Oltmanns

Herbst für Herbst herrscht an den 154 Hochschulen Frankreichs ein markanter Ausnahmezustand. Zum Vorlesungsstart heißt es für Zehntausende von Erst- semestlern, sich in Gruppen zu entkleiden, erniedrigen, fortwährend demütigen zu lassen - nahezu acht Tage ohne Unterlass; unfreiwilliger Gruppensex inklusive.

Jeden Oktober werden die etwa 60.000 frisch imma- trikulierten Studenten der prestigeträchtigen Elite- schulen der Republik auf ihren neuen Lebensabschnitt abgerichtet, zugerichtet und "typisch französisch", so die Tageszeitung "Le Figaro", "wieder aufgerichtet". Voilà.


FUCHSTAUFE

"Le Bizutage" nennt sich solch ein Initiierungsritual, das einem Einführungszeremoniell, etwa der Fuchstaufe in schlagenden deutschen Studentenverbindungen ent- spricht, aber wesentlich "härter" ist.

Vornehmlich im Windschatten einer "geistig-mora- lischen Erneuerung" der Nation durch ihren Präsidenten Jacques Chirac ist Frankreichs Bürgertum am Ende des 20. Jahrhunderts zutiefst davon überzeugt, dass die Bizutage nicht etwa ein Überbleibsel verblichener Grande-Nation-Jahre, sondern ein "unverkennbares Gütespiegel der französischen Elite" sei.

Von der französischen Öffentlichkeit nahezu ver- schwiegen, da offiziell zu peinlich, leben in den Tempeln der Republik hinter einer wohlbehüteten Frohsinns- fassade ungeahnt mittelalterliche Bräuche fort.


ELITÄR UND NACKT

In Paris etwa krakeelte nackt eine Gruppe jungen Fran- zosen über den Boulevard Saint- Germain. Ihr Ziel: das Künstler-Café "Le Deux Magots". Die designierte Kunst- elite der École des Beaux-Arts hat hier, so bestimmt es das Aufnahmeritual, im gediegenen Jugendstil-Inte- rieur "sendungsbewusst und unbekleidet" Kaffee zu trinken und natür-lich die Marseillaise zu singen.

In Lyon mussten sich Studentinnen zur Wahl einer "Miss Nympho" nackt ausziehen. Ein Video hielt ihre Entblößung fest. Die Kassetten wurden später heim- lich verkauft. Minderjährige Mädchen wurden an der Universität Lyon III von angetrunkenen Studienkame- raden gezwungen, an einer zwischen Männerbeine geklemmten Banane zu lutschen.

REITPEITSCHEN

Mit Reitpeitschen oder Baseballschlägern sorgen nicht selten Kapuzenstudiker dafür, dass niemand aufzu- mucken wagt; Vergewaltigungen inbegriffen. Heißt es doch neuerdings fast ausnahmslos in allen Begrüs- sungsschreiben des akademischen Neuanfangs eines jeden Jahres: "Scheue weder vor Erniedrigung noch vor totaler Unterwerfung zurück. Wisse, dass jede Rebellion im Keim erstickt wird. Das Tribunal wird dich richten."

In Bordeaux hatten sich alle Mädchen und Jungen zu entkleiden und zur Begutachtung aufzustellen. Bei den Mädchen reichte Schönheit aus, bei den Jungen hin- gegen durften sich nur jene zu den Siegertypen zählen, die die prächtigste Erektion vorzeigen konnten.

In Lille sorgt insbesondere die katholische Fakultät der Universität mit ihren Zutaten zum "Bizutage-Menu" für Furore, das dort alljährlich für jeden Anfänger unter Zwang verabreicht wird; als Beleg "christlicher Ethik", wie es in einem offiziellen Rundscheiben des Dekans verlautbart.

RÜDE ATTACKEN

Röchelnd wie würgend versucht der halb nackte Theologiestudent Gilbert Descours seinen älteren Kommilitonen zu entkommen. Doch kräftige Hände halten ihn nieder, sperren ihm den Mund auf und schütten ihm mit einer Kelle die gefürchtete "Suppe" in den Schlund - ein Gebräu aus Rotwein und Urin, Öl und Erbrochenem. Nach jener obligatorischen Drangsal gibt es immerhin - Katzenfutter als Dessert.

In keinem anderen Land Europas sind junge Menschen auf dem Weg in die Universitäten derlei mittelalterliche Initiationsriten ausgesetzt wie in Frankreich. Aber auch in keiner Nation wird dem Hochschuldiplom eine solch lebensbestimmende Karriererolle zugewiesen, wie in eben diesem Frankreich.


NAPOLÈON III.

In früheren Jahrzehnten war die Bizutage, die seit der Zeit von Napoléon III. (1852- 1870) existiert, quasi eine Taufe; nichts anderes als ein angeblich hübscher Scha- bernack, den ältere Studenten mit den Neuankömm- lingen erlesener Lernanstalten trieben. Dabei wurden derlei entwürdigende Ausschreitungen oft beschrieben, kritisiert, sogar mit "Nazi-Bräuchen" verglichen, so von der sozialistischen Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal (2007). Das Magazin "Le nouvel Observateur" titelte gar: "Tyrannei der Dreckskerle". Die Tages- zeitung "Le Monde" geißelte die Bizutage "als einer zivilisierten Nation unwürdiges Brauchtum".

Und ganz allmählich schien die Bizutage, seit dem Jahre 1928 ohnehin offiziell als Unsitte per Ministererlass gebrandmarkt, durch den 68er Rebellengeist vom Campus endgültig verbannt zu sein. Lediglich die elitären Grandes Écoles mochten sie nicht von ihren erprobten Mannbarkeits-Auswüchsen trennen.

Doch auf einmal waren sie wieder da, die Bizutages, als Renaissance französischer Tradition belobigt. Klima- wandel. Selbst kleine Handelsschulen in den Provinzen oder auch private Gymnasien vielerorts in der Republik wetteifern nunmehr ihren fragwürdigen "Vorbildern" nach. Auf diese Weise hoffen sie, sich etwas vom Flair der Großen ans Revers heften zu können.

SOS BIZUTAGE

"Das Dilemma ist", bemerkt Jean-Claude Delarue als Präsident des Bundes gegen Beamtenwillkür, "unsere Schüler lernen, dass sie im Land der Menschenrechte leben, und als Studenten erleben sie einen Albtraum." In seinen Pariser Büroräumen ließ er schon vor Jahren vorsorglich einen Telefonnotdienst "SOS Bizutage" einrichten. Aber selbst dort wollen traumatisierte Opfer allenfalls anonym auspacken. Oft melden sich aufge- brachte Eltern anstelle ihrer gerupften Kinder. "Die Studenten", weiß der Pariser Psychiater Samuel Lepastier, "plagt ein Zielkonflikt. Entziehen sie sich der Erniedrigung, werden sie verstoßen. Passen sie sich an, haben sie mit unendlichen Schuldgefühlen zu kämpfen."

STRAFVERFOLGUNG

Ergo kommt es zur Anzeige, zur Strafverfolgung fast nie. Ein "Gesetz des Schweigens durchzieht das Land", kon- statiert die Tageszeitung "Liberation". Ausnahmslos ängstigt die Opfer, von der Gemeinschaft ausgestoßen zu werden, die Korpskarriere in Wirtschaft oder Ver- waltung zu verbauen, wenn sie als Opfer solche pervers-verächtlichen "Elitepraktiken" publik machen.

Ein gewiss nicht nur ungeschriebenes französisches Gesetz besagt, dass Abweichler oder Petzer nach Studierende nicht mit der Förderung durch die Ver- bände der ehemaligen Kameraden qua Empfehlung rechnen können. Und das will etwas heißen. Denn ohne Protektion war und ist in Frankreich nun mal kein ein- träglicher beruflicher Aufstieg zu haben.

STAATSPRÄSIDENT ALS HUHN

Bizutage-Zeit in Paris - ob an den Grandes Écoles oder auch in den privaten Schulen der Provinzen. Unter- schiedlich sind Herkünfte, Qualifikationen, Erwar- tungen, Versagerängste und natürlich angestrebte Zukunftsprofile. Als Paradebeispiel gilt die Begebenheit mit Giscard d'Estaing. Sie wird Jahr für Jahr auch ungefragt erzählt, als sei sie erst gestern passiert. Ex-Staatspräsident Valéry Giscard d'Estaing (1974-1981) musste sich als Neuling an der "École des mines" splitter- nackt mit Leim und Federn in ein riesiges Huhn verwandeln lassen.

Die Konsequenz schien zwingend. Einmal im Elysée, hievte er seinen einstigen "bizuteur"André Giraud gleich auf den Posten des Industrieministers - Französische Bizutage-Karrieren. Und die beruhigen allemal.