Montag, 21. Februar 1994

Patricia Kaas - Mademoiselle chante le blues
















































Lothringen, Lolita und Lili Marleen lassen grüßen. Patricia Kaas kam als "Aschenputtel" aus ärmlichen Verhältnissen ins Pariser Glitzer-Milieu. Erinnerungen an legendäre Chanson-Epochen um Edith Piaf, Juliette Gréco wurden wach. Mit ihrem Debüt-Album "Mademoiselle chante le blues" schaffte das Arbeiterkind von der französisch-deutschen Grenze im Jahre 1988 den Durchbruch. Seither ist sie mit ihrer vitalen Bühnenpräsenz Frankreichs erfolgreichste Sängerin - ein Mythos in jungen Jahren. Dabei gehört das klassische Chanson kaum zum Repertoire, dafür Popmusik und Jazz. Zum Aufstieg, Erfolg, Reichtum gesellten sich für Patricia Kaas Einsamkeit. Zerbrechlichkeit. Selbstzweifel. Identitätskrisen.

Leipziger Volkszeitung
vom 21. Februar 1994
von Reimar Oltmanns

Da steht sie nun auf einer Bühne in der Provinz, im gleißenden Scheinwerferlicht als Femme fatale, die den Blues hinhaucht, als sei's ein Liebesschwur. Zerbrechlich sieht Patricia Kaas aus, knabenhaft wirkt sie im hautengen schwarzen Mini, scheu schaut sie aus ihrem spitzen, aschfahlen Porzellan-Puppen-Gesicht, wenn da nur nicht ihre verruchte Stimme von gewaltigen Format wäre. Zurück von einer Welttournee in Moskau, Tokio, Kanada und in den USA - die französische Heimat hat sie wieder. Und Frankreichs Provinz, schon seit Jahren auf der Suche nach einer Bühnenattraktion, weiß das gebührend zu würdigen.

Verständlich, dass vor derlei Auftritten Dezenz verpönt, zaghafter Zweifel an Kaas und Karriere schnippisch belächelt wird. Spätestens seit dem Auftritt der Patricia Kaas in den heiligen Hallen des Pariser "Olympia" Ende der achtziger Jahre gilt sie als "chanteuse extraordinaire" - eben als gefeierter Superstar.

FRANZÖSISCHES ASCHENPUTTEL

Dabei ist die die Geschichte der Kaas die anheimelnde Lebensskizze eines französischen Aschenputtels dieser Jahre. Sie ist aus dem Stoff, aus dem amerikanische Filmregisseure ihre Tellerwäscherstreifen auf dem Weg nach ganz obben basteln. Patricia - ein verarmtes Arbeiterkind aus einer kinderreichen Bergmannsfamilie, groß geworden im Kohlenstaub, Auftritte in Bierzelten und zweitklassigen Schuppen, in denen sie über Jahre gegen feuchtfröhliche Lärmwogen anzusingen hatte. Und Mutters Teddybär von damals ist auch heute allabendlich mit dabei.

Einstweilen "begnügt" sich Patricia Kaas damit, sich als Erneuerin des französischen Chansons feiern, liebkosen, umjubeln zu lassen. In kürzester Zeit schaffte sie den Durchbruch. Weltweit verkaufte sie von ihrem Debütalbum, "Mademoiselle chant le blues", mehr als 15 Millionen Tonträger. Ihren größten Erfolg in Deutschland und der Schweiz verbuchte die Kaas im Jahre 1993 mit ihrem Lied Je te dis vous. Es wurde 550.00 Mal verkauft. Sie ist damit die erste französische Sängerin, der im deutsch-sprachigen Raum solch ein bemerkenswerter Erfolg gelang. Intiutiv kennt das Phänomen Kaas drei Zielgruppen. Für den einen weckt sie die Mutterinstinkte, bei den anderen die Beschützerseele und beim Dritten Lolita-Fantasien.

Überall sind Musikhallen wie Pavillons überfüllt. Überall gilt es, Sehnsüchte nach dem scheinbar schon vergessenen französischen Chanson einzufordern, wieder wachzuküssen. Und alle kommen sie kunterbunt - die Papas, Omis, Mütter, Töchter, aber auch die Rocker von nebenan und die Träumer aus den Vorstädten. Kein Zweifel: Diese knabenhaft wirkende junge Frau zählt zu der Riege französischer Künstler, die auf der Basis des französischen Chansons eine eigene Liedform entwickelt haben. Da spielen Blueselemente ebenso hinein wie Rock- und Jazzinspirationen.

KRISENZEITEN - CHANSON-ZEITEN

Krisenzeiten sind seit jeher in Frankreich immer auch Zeiten des Chansons; ein wenig nostalgisch, ein wenig versonnen - aber immerfort vital. Das war in der Ära einer Edith Piaf und Juliette Gréco oder auch der Dichtersänger Georges Brassens, Jacques Brel und Leo Ferré nicht anders. Denn zwischen den politischen Nachrichten und Chansons gibt es für den Franzosen eigentlich noch keinen großen Unterschied - noch nicht. "Zu allen Zeiten", urteilte der Impresario Jacques Canetti, "war das Chanson ein soziales und politisches Phänomen ersten Ranges. Es ist der treueste Spiegel der Volksstimmung."

IDENTIFIKATION - EDITH PIAF

Die Menschen strömen in die Konzerte der Popchonson-Lady, weil da eine "von uns" auf der Bühne steht, weil die Kaas anders ist als die geklonten Glamourfiguren amerikanischer Tiefkühl-Erotik á la Madonna. Intensität mit Identität sind gefragter denn je in Frankreichs wirtschaftlich verwirrenden Krisenjahren, in denen täglich an die tausend Menschen in die Arbeitslosigkeit entlassen werden. Parallelen tun sich auf, werden sogleich arglos verklärt, zum Klischee verschlissen. Rückblende. Paris 1935. Edith Piaf ist gerade zwanzig Jahre alt. Meist mit einer Rose zwischen den Lippen, flaniert sie auf den Pariser Straßen. Nur eine kleine, verwinkelte Dachkammer gewährt ihr Unterschlupf. Mit Verve und seltener, zäher Lebenslust intoniert sie, nur von einem Banjo begleitet, auf den Boulevards ihre Chansons von "Les Amants", "Les toits de Paris" wie auch den "Legionär". Zu jener Zeit träumten Touristen im romantisch untermalten Saint-Germain-des-Prés noch von besinnlichen Stunden der Melancholie à la francaise. Und Edith singt, singt und singt - sie singt ums Überleben. Ihren ersten Vertrag bekam die Piaf von einem bordellähnlichen Cabaret in Pigalle. Natürlich gesellten sich die Männer des Nachts zu ihr; von P'tit Louis bis zum Muskelprotz aus der Unterwelt. Sie gab ihnen ihren Körper - nicht aber ihre Seele. Edith Piaf lachte darüber, bemerkte nur: "Das Leben wird immer nur aus Betten, bezahlten, auch unbezahlten bestehen. Ich muss aber singen, sonst verrecke ich." - Selbst dann noch, als Nazi-Deutschland Paris besetzte. - Lang ist es her.

Wenn Patricia Kaas im eng anliegenden schwarzen Leder, in Seidenstrümpfen und Stiefelletten den Blues singt, dann tanzt sie ihn. Atemlose Stille begleitet sie, die Band schweigt, sie scheint mit dem Lied von "Lili Marleen" allein zu sein; ein bisschen lasziv, ein wenig kindlich, sorglos und treuherzig allemal. Und wenn sie Edith Piafs "La vie en rose" ins Mikrofon flüstert, sind die langen Jahre verflogen, die vergangen sind zwischen gestern und heute. Nonstop singt Patrica Kaas da fast zwei Stunden lang aus ganzen Leibeskräften. Sie zittert, bebt, schreit, kokettiert, animiert, ziert sich, mimt Lolita und den Vamp, die Klagende, den Clown, die Verletzende. Und mit ihrem Chanson "Je te dis vous" liefert sie sich in ihrer intimen Zerbrechlichkeit aus, will Abend für Abend die Erfahrung auf sich vereinen, wie viel Tiefe und wie viel Privatsphäre das Publikum von Mademoiselle Patricia zu vertragen noch bereit ist - Seelenstriptease genannt.

UNHEIMLICHE NACHBARN

Auch Deutschland, dieses große, für die Franzosen immer etwas unheimliche Nachbarland, ist an solchen Kaas-Abenden der französischen Provinz immer wenigstens zeitweise präsent. Nicht etwa deshalb, weil Patricia im lothringischen Stiring-Wendel fünfzig Meter von der deutschen Grenze aufwuchs und ihre Mutter eine Deutsche war. Es sind die Ereignisse in Deutschland: Die Brandschatzung an Asylanten-Herbergen und die Gewalt gegen ausländische Mitbürger. Es sind diese Nachrichten, die ihrem schon vergessen geglaubten Lied über dieses Land fortwährend eine unvermutete Aktualität geben. Und Patricia singt: "L'Allemagne, wo ich Kindheitserinnerungen von gegenüber habe. Leninplatz und Anatole France, l'Allemagne, wo die Vergangenheit eine Beleidigung ist und die Zukunft ein Abenteuer; wo ich die Einbahnstraße kenne, weiß, wo die Gewehre schlummern und wo die Nachsicht ihre Grenzen hat." - Betretenheit.

BIS ZUR BESINNUNGSLOSIGKEIT ... ...

Der Vorhang fällt. Seltsam knirscht es in solchen Momenten, wenn Patricia Kaas sich allein wähnt und sie sich nur mit ihrem Teddy in ihrer Sofaecke weiß. In sich ruhende Stille mochte sie bisher so gar nicht ertragen. Bewusst verausgabt hatte sie sich in den letzten beiden Jahren fast bis zur Besinnungslosigkeit - landauf, landab mit über 200 Konzerten vor 800.000 Zuschauern. In ihrer scheinbar selbstsicheren Unmittel-barkeit ließ sie keine Gelegenheit aus, sich selbst und ihren Zuhörern zu beweisen, dass mit ihr eine neue Zeit des Chansons angebrochen sei. Identitätsfragmente prallen da nunmehr offenkundig unversöhnlich aufeinander, die sie nach dieser Erfolgsära einen Ausweg herbeisehnen lassen. Sie sagt: "Freunde in meinem Alter habe ich sowieso keine gehabt. Dazu fehlte immer die Zeit. Ich hatte ja immer nur mit Menschen zu tun, die weitaus älter waren als ich." - Katerstimmung.

Trist schaut der "kleine Diamant" (Alain Delon) drein. "Nein", befindet Patricia Kaas, "ich will ich selbst sein und nicht nur wegen meiner Stimme geliebt werden. Dabei hatte sie noch soeben den Geschlechterkampf auf Französisch leicht amüsiert in ihrem Lied "Hommes qui passent, Maman" (Männer, die vorüberziehen, Mama) auf die Bühne gebracht. Eben Männer als flüchtige Gestalten, die sich mit gequältem Lächeln aus intensiven Begegnungen davonstehlen, "mecs", die über Liebe reden wie über Autos - alles austauschbar, alles käuflich. Und Frauen, die diesen Kindsköpfen verfallen sind, sich in Wirklichkeit aber in einem Netz der Solidarität ihrer Mütter, Freundinnen und Kolleginnen wiederfinden, "Nein", befindet Patricia Kaas da plötzlich, "ich will das Kleinmädchen-Image abschütteln. Ich brauche keine Lehrer, der mir sagt, 'du musst so oder so singen'. Ich brauche da nichts zu lernen - ich habe es. Bisher hatte ich gar keine Zeit, das alles richtig zu begreifen, was mit mir geschah." - Identitätsbrüche und ein erstarktes Selbstbewusstsein in Frankreichs Frauenjahren.

ZUM VORSINGEN NACH PARIS

Da war die Armut mit den sechs Geschwistern; die Mutter, die zum ersten Mal in ihrem Leben mit Tochter Patricia zum Vorsingen nach Paris fuhr und ihr immer wieder einflößte: "Du musst singen und kämpfen, mein Kind." So hockte sie schon als 13jährige vor dem Badezimmerspiegel , zog sich rote Lidschatten über ihre Samtkatzenaugen, das Gesicht überlebensgroß in der Nahaufnahme.

Immer wieder übte die kleine Patricia die Dietrich-Pose, studierte die Lili Marleen ein, wie es die Mama ihr vorgemacht hatte. Da stand dieses junge Mädchen des Abends im Kneipenqualm ganz nah an den langen Tischen voller Maßkrüge und sah die aufgedunsenen Sorgenfalten - dort, wo die Kumpel Kohlenkrise wie Zechensterben wenigstens für ein paar Augenblicke vergessen, einfach runterspülen wollten.Wenn sie zu singen begann, wurde es plötzlich mucksmäuschenstill; so sehr füllte Patricias Stimme den Raum. Immerhin verdiente die damals 13jährige auf diese Weise ihr erstes Geld. Zur Belohnung ging es für Mama und Patricia an die Côte d'Azur. "Das war das erste Mal, dass wir das Meer sahen, überhaupt Ferien machten. Wir waren nämlich arm, sehr arm", ergänzt dir mit dem eingegerbten Stolz eines Arbeiterkindes.

Paris war natürlich der Knotenpunkt der Kaas-Karriere. Mal als Kindweib, mal als weiblicher Lausbub oder auch als vom Blues Gezeichnete und vom Rock Umgetriebene - mit diesem Repertoire suchte sie in der mondänen Pariser Glitzerwelt Nähe und Durchbruch. Da waren die Produzenten, die sie zunächst ins Bett ziehen, bevor sie ihr den Weg ins Aufnahmestudios zeigen wollten. Da waren abgegriffene Songschreiber, die ihr sinnentleerte, aber dollarträchtige Texte einredeten, mit denen sie dann sogar im Elysée Palais bei Staatspräsident Francois Mitterrand vorsingen durfte. Da war insgesamt ein abweisendes, erkaltetes Pariser Künstler-Milieu mit Gesichtern, die sie noch kurz zuvor auf der Mattscheibe bewundert hatte. Und da war ein Mann, der ihr mit seinem Macho-Gebaren zunächst Unbehagen einhauchte, sich aber als einfühlsamer Wegbegleiter in der subaltern-mondänen Pariser Glitzerwelt entpuppte - Gérard Depardieu. Er jedenfalls holte das lothringische Aschenputtel nach Paris und half ihr mit seiner Frau Elisabeth, einer Songtexterin, die erste Schallplatte "Jalouse" zu produzieren.

DÜNNE LUFT - ATEMNOT

Und heute? - Patricia Kaas sitzt in ihrer sechzig Quadratmeter großen Wohnung aus dem 16. Jahrhundert im Pariser Saint Germain. Ein bisschen neureich, ein bisschen kindlich-verspielt schaut es da aus. Stuckverkleidete Räume, freiliegende Decken-balken, ein Kamin, der die meist fröstelnde Patricia zu wärmen versteht. Und vielerorts harren Plüschtiere der Dinge, die da noch kommen mögen, "Ja, bemerkt sie, "die Teddys halten wenigstens noch zu mir. Seit meinem internationalen Durchbruch habe ich viele Freunde von früher verloren. Dieser Erfolg hat schon seinen Preis. Er hat mich ein bisschen einsam gemacht. Auch wenn ich neue, sympathische Menschen treffe, weiß man nie, ist es Patricia Kaas, die Sängerin, die sie ansprechen, oder bin ich wirklich ich, Patricia gemeint? Wenn man oben angekommen ist, wird die Luft dünn.

Aus gutem Grund lässt Patrica Kaas im Zeitlupentempo via Video ihr Chanson-Leben passieren. Und sie erkennt vieles genau, hintergründig zudem. Längst, so will es scheinen, ist sie unbemerkt zu einem Mythos geworden.

Nur mit sich selbst mag sie sich nicht identifizieren. Sie fragt sich, "wer bist du eigentlich, was willst du, wo sind deine Anliegen, deine durchlebten Erfahrungen?"
Sie sagt: "Ich habe mir viele meiner Fernsehauftritte und -interviews angesehen. Nur könne ich mich in dem von mir inszenierten Bild überhaupt nicht wiederfinden. Dabei wusste ich doch, wovon ich reden wollte: von der Liebe, von der Freundschaft, von der Frau. Als ich jung war, sah man in mir nur die stimmbegabte Kleine. Ich war persönlich nie gemeint. Jetzt kämpfe ich als Frau um Akzeptanz. Früher hatte ich Angst, traute mich nicht, das zu sagen. Nun erst recht." - Selbstvertrauen.

ENGLISCHE TEXTE

Es sind die Lieder einer vielleicht verhärteten jungen Frau in einer arg grau gewordenen internationalen Entertainment-Szene. Eben einer Patricia Kaas, die ihr Frausein allmählich akzeptiert, die sich immer mehr traut, sie selbst zu sein. Es sind die Chansons einer Grenzgängerin zwischen Deutschland und Frankreich. Aber auch einer Grenzgängerin, die erst in der Schule Französisch lernte, weil zu Hause deutsch gesprochen wurde - die nunmehr Englisch büffelt, gilt es mit neuen Produktionen alsbald die USA zu erobern.

An diesem Tag fliegt Patricia Kaas in ihre "Zukunft" - nach London zu Songmanager Robin Millar. Der weltweit agierende englische Musikkönig hatte ihr schon vorher bedeutet, dass sie einen Teil ihres französischen Publikums abschreiben müsse, wenn sie mit Englisch daherkomme. "Okay", sagt Patricia Kaas, "Freunde in Frankreich habe ich schon verloren, nun auch einen Teil der Fans." Nur eines vergaß Patricia Kaas nicht. Vor ihrem Abflug nach London unterschrieb sie geschwind noch einen Scheck in der gelangweilten Freundlichkeit einer Diva. Dieses Mal an ihren Bruder in Deutschland, der als Arbeiter sein Tagwerk versieht. Er hatte sie seinerzeit Abend für Abend für 50 Euro zu ihren Auftritten in das Saarbrücker Tanzlokal "Rumpelkammer" begleitet; als Aufpasser sozusagen, "weil die Patricia doch so zerbrechlich ist." Deshalb bleibt ihr Kinderzimmer im lothringischen Forbach für sie auch reserviert. "Man weiß ja nie, was kommt", sollen die Geschwister ihrer Jüngsten kürzlich gesagt haben.