Samstag, 3. Juli 1993

Überleben im Naturreservat der tausend Teiche














Die französische Region Dombes im Département Ain mit ihrem Naturreservat von tausend Teichen hat sich zum größten Zufluchtsort von über 400 Vogelarten entwickelt. Der Vogelzug aus den von Giftwellen überschwemmten industriellen Ballungszentren des Kontinents hat erst begonnen. Über 50 Prozent aller Bäume sind mittlerweile in Westeuropa nach-haltig erkrankt, über hundert Vogelarten ausgestorben , das Waldsterben geht unver-mindert weiter. In Ostfrankreich gab es in den 70er Jahren keine Störche mehr. Mittlerweile leben in der Dombes, das die Hälfte des Saar-landes ausmacht, wieder über 75 weiß gefie-derte Stelzvögel. Moment-Aufnahmen aus dem Vogel-Asyl.

SCHWÄBISCHE ZEITUNG, Leutkirch
vom 3. Juli 1993
von Reimar Oltmanns

Eine breite Asphaltstraße zerklüftet ein Naturreservat von tausend Teichen, gewundenen Parkpfaden samt angrenzenden Wäldern. Friedlich und beschaulich döst die französische Region Dombes vor sich hin. Nichts, so will es vordergründig scheinen, kann dieses Gebiet, das die Hälfte des Saarlandes ausmacht, aus seinem gewachsenen inneren Gleichgewicht bringen. Die Dombes ist zur Neuheimat Tausender von Vögeln geworden, die ohne Orientierung wahllos in Europa herumschwirren. Wenn nur jene unliebsame Asphaltstraße gen Süden nicht wäre. - Urlaubsroute.

TRECKPISTE ZUM MITTELMEER

Von der Dombes - zu Deutsch Tümpel - hätte wohl kaum einer Notiz genommen. Sie wäre das geblieben, was sie schon immer war: ärmlich und vergessen. Hier werden jedenfalls - noch - nicht die Ressourcen in amerikanische Devisen umgerechnet, die Umwelt dem Beton-Tourismus geopfert. Nur die französische Route National 83 zwischen Macon und Lyon in der Region Rhône-Alpes ist mittlerweile eine Treckpiste auf dem Weg zum Mittelmeer.

Jahr für Jahr zu Beginn der Sommerzeit schieben sich Autokarawanen schwerfällig voran. Eine Hundertschaft quält sich von Nordeuropäern wieder einmal durch den Stau, Stoßstange an Stoßstange, Abgase um Abgase.

Meist in den Abendstunden nach Dienstschluss lauert in der Ortschaft Villar-les-Dombes ein 50jähriger stämmig gebauter, bärtiger Mann am Wegesrand. Gehemmt steht er da. Will er doch nur die Straße überqueren, wenn ihn die Auto-Karawane nur liesse. Schon sein Äußeres mag so gar nicht zu den schnelllebigen Zeitläuften dieser Jahre passen.

ANDERE WELT - VOGEL-WELT

Yves Raymond kommt aus einer anderen Welt - der Vogel-Welt. Als Direktor des "Parc ornithologique", des größten Vogelparks Frankreichs, könnte der Tierarzt getrost eine Romanfigur aus Ernest Hemmingways Kurzgeschichte "Vögel, Flügel, Wiedersehen" abgeben. Nur mit dem Unterschied: Statt das pfeilschnelle Gefieder mit der Flinte in ihren Flugbahnen abzuknallen, baute Raymond mit seinen 16 Mitarbeitern ein Vogel-Asyl auf.

Anfang der siebziger Jahre begann das Ornithologen-Team weitsichtig, den Vögeln eine Heimstatt zu geben. Damals konnte sich wohl niemand so recht vorstellen, dass die Umwelt, Gase, Abgase, Gifte, Chemiegifte den Vögeln regelrecht den Krieg erklärt. Dabei verschwanden in den letzten Jahrhunderten schon über 117 Vogelarten unwiederbringlich.

Allein in West-Europa sind mittlerweile etwa 50 Prozent der Bäume erkrankt, geht das Waldsterben unvermindert weiter. Chemikalische Giftwellen überschwemmen Jahr für Jahr Ackerflächen. Schadstoffgemische greifen die Atemwege an, die Flimmerhärchen werden gelähmt. Das größte Artensterben hat erst begonnen, weil die biologische Vielfalt verloren geht. Raymond: "Durch den Zustand unserer Vögel wissen wir nur zu genau, dass die Umweltverträglichkeit besorgniserregend - rapide schlechter geworden ist als vor zwanzig Jahren."

SCHMAUS AUF MENÜKARTEN


Tatsächlich leben Vögel in einem Spannungsfeld zwischen Hatz und Hege. Vielerorts hat der Mensch dem Vogel unbedacht seine Vernichtung angesagt. Ob an der Atlantikküste oder an der Nordsee - immer wieder und zusehends häufiger verrecken Gefieder zu ölverschmierten Tierkadavern.

In Italien beschloss das Parlament sogar gegen eine EU-Bestimmung, Buch- wie Bergfinken per Gesetz zum Abschuss freizugeben. Einfach deshalb, weil die Singvögel als feiner Schmaus auf der Menükarte nicht fehlen dürfen.

DER KOMORAN

In Schleswig-Holstein zürnt die Bauernseele den Kolkraben, weil er schnurstraks über Schafherden herfällt. Einem schwarzen Vogel mit einer Flügelspanne bis zu 1,20 Meter, der gut zwei Pfund wiegt, bis zu 70 Jahre alt wird, der größte Singvogel der Erde ist und angeblich den höchsten IQ aller Gefiederten besitzt.

Seit Jahrzehnten genoss der Komoran in Deutschland Naturschutz - seit dem 1. August 1992 - mit der Einschränkung, dass er abgeknallt werden darf. Vor 100 Jahren war der Komoran noch ein Nahrungskonkurrent zum Menschen. Eine gezielte Ausrottungspolitik hatte ihn gänzlich von mitteleuropäischen Küsten, Seen und Teichen verbannt. Die Fressschäden der Komorane gingen nämlich in die Millionen.

Heute leben auf Dauer oder auch nur kurzweilig als Zwischenstopp zu den fernen Kontinenten mehr als 2.000 Vögel - insgesamt 400 Arten im französischen Naturreservat Dombes. Jedes Jahr im August gesellen sich noch 5.ooo Wildenten dazu. Direktor Raymond erinnert sich: "Damals bei der Gründung des Parkes wurden wir als Vogelnarren belächelt. Heute hingegen gehen die Menschen eher andächtig über unsere Wege, lauschen den Vögeln, als seien sie in einem Museum."

Ob Sperling, Lerche, Amsel oder auch der Sperber - schon seit Jahrzehnten muss der Mensch bei der Ernährung derlei Gefieder direkt eingreifen. So werden alljährlich im Herbst die Teiche mit jungen Fischen aufgefüllt, außerdem 150 Tonnen Futter zusätzlich gekauft. Und alle vierzehn Tage bekommen die Vögel zusätzlich Vitamine, Kalk und ein wenig mehr Fleisch - die Dombes ein Naturlaboratorium vergessener Tage.

300.000 MENSCHEN IM VOGELMUSEUM

Staatlich wird Frankreichs größter Vogelpark nicht unterstützt. Alles muss durch Eintrittspreise finanziert werden - sechs Euro pro Person. Etwa 300.000 Menschen besuchen jährlich ihr "Vogel-Museum", um noch einmal die fliegenden Zeitgenossen von einst in Augenschein nehmen zu können. "Ja, ja, da ist der Buchfink, die Amsel, oh, sogar der Spatz", raunt es in vielen Sprachen durch den Park. "Warum können wir diese Vögel nur bei uns kaum noch sehen?" fragt der zwölfjährige Schüler Thimon Bettermann aus Herne im früheren Kohlenpott seine Eltern. - Achselzucken.

Dessen ungeachtet beglückt ein auf diesem Kontinent seltener Gast das Revier - der Storch. Wie in Ostfrankreich, so beinahe überall in Europa, verschwand der Stelzvogel. Nur zwei von zehn Störchen, die im Herbst gen Süden fliegen, kehren überhaupt zurück. Um sich auf ihrer Reise auszuruhen, breiten die "Glücksbringer" häufig ihre Schwingen über zwei parallel laufende Hochspannungsleitungen aus. Sie verenden jämmerlich. Immerhin, in Les Dombes schaute das erste Storchen-Paar im Jahre 1978 vorbei, liess sich im Freiluftvogelhaus nieder. Nach 15 Jahren sind in Villar-Les-Dombes exakt 75 Störche zur Welt gekommen. Im Storchen-Milieu scheint sich Les Dombes als neue Heimstatt offenbar herumgeschnattert zu haben. Neuerdings lassen sich ihre Kollegen aus Deutschland und der Schweiz verstärkt nieder. Ihr Erkennungsring oder die auf den Rücken angeschnallten Satellitensender geben Auskunft darüber, aus welchen Teilen der Erde sie emigrierten.

Verständlich, dass Yves Raymond das Bild vom gleichgültigen Franzosen, der sorglos seine Umwelt strapaziert, nicht unwidersprochen hinnimmt. Um Spenden für kranke Vögel einzusammeln, ist er vielerorts unterwegs. Ein Seismograph, ob die Natur noch lebt, ist dabei seine Windschutzscheibe. Raymond: "Bleibt sie von Insekten verschont, ist die Natur so gut wie tot. Nur in der Dombes muss ich sie täglich noch waschen. Darüber freue ich mich, das ist gut so."