Donnerstag, 2. September 1993

Entenhausen liegt an der Saône, und alle tuckern hin































Pariser Automobil-Ausstellung mit dem 2CV-Neuling im Jahre 1949. Über sechzig Jahre später "Enten"-Nostalgie - "Enten"-Festival vielerorts in Europa. Der "Dö-Schöwo" ist nämlich kein Wagen, sondern eine Lebens-einstellung. Schon die Baskenmütze durfte beim Einsteigen nicht verrutschen. Vier Räder unterm Regenschirm wollte Citroen - über sieben Millionen wurden gebaut. Über zwei-tausend "Entianer" aus ganz Europa trafen sich auf Schloss Rochteaillée-sur-Saône zum großen Festival der Enten.


DIE WELTWOCHE, Zürich
vom 2. September 1993
von Reimar Oltmanns

Aus den Lautsprechern des Schlosses scheppern fran-zösische Chansons vergilbter Epochen. Pascal Danels Ohrwurm oder auch Adamos wollen und wollen nicht enden, obwohl es sommerlich arg heiss ist. Atmosphäre wie Ambiente lassen frankophile Klischeegemüter auf-atmen: Weit und breit keine McDonald's-Läden, keine Atomkraftwerke, keine neu gebauten Trassen des Hoch-geschwindigkeitszuges TGV, dafür viele Baskenmützen, Schnauzbärtchen, viel Rotwein, viel Weißbrot - und das auch noch auf einem erlesenen Château aus dem 15. Jahrhundert, das die umliegende Landschaft des Saône-Tals anschmiegsam überragt.
DIE ENTE - EIN LEBENSGEFÜHL
Auf dem Schlossvorplatz von Rochetaillée-sur-Saône bei Lyon tummelt sich derweil ein seltenes Generationen-gemisch um ihren Geliebten: Es sind Mätressen aus Frankreichs Gegenwelt des Modernisierungsrausches. Eben Weggefährtinnen, denen es an Status, Leistung, Schnelligkeit und Aggressivität fehlt - Enten genannt. Seit eh und je sind sie Blech gewordener Ausdruck eines Lebensgfühls, das ein und denselben Namen trägt: 2 CV (CV steht für Cheval Vapeur, die französische Steuer-PS), in deutscher Zunge auch als "Döschöwo" liebkost. Immer wenn Adamos "neige" fällt, fliegen ölver-schmierte Putzlappen in die Lüfte. Leidenschaftlich wird mitgesungen. Denn hier trotzen zweitausend "En-tianer" aus vielen europäischen Ländern der neuzeit-lichen Wirklichkeit ihre Daseinsberechtigung ab. Hier leben in Wehmut umarmte Automobil-Nostalgien ver-klärt fort, haucht der Enten-Stamm seinen Legenden neuen Atem ein.
DÖSCHÖWO-CLUBS ÜBERALL
Meist schon zu Beginn der Sommermonate kriecht Frankreichs eingefahrene 2-CV-Gemeinde trotzig raus aus den kasernierten Vorstädten. Dort, wo sich enge Wohnsilos, Polizeischießplätze, Friedhöfe, Kleingärten samt Müllhalden scheinbar noch friedlich vertragen. Raus aus den zubetonierten, durch Jugendkrawalle berüchtigten banlieues - weg aus der gemeinsam er-lebten Sprachlosigkeit in den hastig verstopften Metro-polen Paris, Lyon Marseille oder Toulouse. Sommerzeit - das ist und bleibt nun einmal Enten-Zeit. "Das lassen wir uns von niemanden rauben", bedeutet der 30jährige Tischler Philippe Abbadie aus Lyon. Phillippe, von athletischer Gestalt mit offenem Gemütsblick, ist einer der unzähligen Enten-Präsidenten der Republik.
URTYP EINES PRIMITIVAUTOS
Mittlerweile gibt es landesweit 40 Klubs mit etwa je 30 Mitgliedern, die sich flugs in einer gesellschaftlichen Nische aufgetan haben - und es werden immer mehr. Ob in England, Deutschland, Italien oder auch in Portugal - überall mausern sich unverhofft Döschwo-Vereine. Folg-lich tuckerten sie allesamt aufs Schloss Rochetaillée-sur-Saône - ins Europa der Enten, wenn auch nur für ein Wochenende. Monat für Monat hecheln 2-CV-Kolonnen durch die französische Republik. Klubbesuche, Ge-spräche, Ersatzteiltausch, gemeinsames Essen ist ange-sagt. Präsident Philippe weiß auch warum: "In diesen sprachlosen Jahren geht alles, aber auch alles in die Brüche - nichts stimmt mehr. Vater arbeitslos., Opa besoffen, Eltern oft geschieden, Kinder ohne Lehr-stellen, rohe Gewalt an vielen Schulen, wilde Rasereien auf den Straßen und im Fernsehen ewig diese Plastik-reklame von der üppigen Welt, die uns alle hungrig macht." Philippe fragt: "Was bleibt uns noch?" Er ant-wortet sogleich: "La 2CV, c'est pas une voiture, c'est une facon de vivre." - Der 2CV ist kein Auto, sondern eine Lebenseinstellung. Und er fügt hin-zu: "Wenn alle eine Ente führen, wäre die Gesellschaft friedlicher. Überall kochen doch zunehmend bedrohliche Aggressionen hoch."
HERKUNFT - IDENTITÄT
Elisabeth, die ihm zuhörte, nickt auffällig in die Entianer-Runde. Zugehörigkeit ist gefragt. Hinter jeder Döschöwo-Erzählung - auch ohne Katalysator - kana-lisiert sich meist ein Stück Biografie oder auch Lebens-skizze, für die es sonst kaum noch einen Platz zu geben scheint. Ob Herkunft, Bezugspunkte samt Identität - die Ente zieht sich wie ein roter Faden durch mancherlei Lebensgeschichten - ein Wegbegleiter aus Blech. Die 24jährige Kindergärtnerin Elisabeth Perpoil aus Saint Avertin sagt: "Als ich Kind war, reparierte mein Vater jedes Jahr mit ein paar Kollegen einen 2 CV für die Tombola von Sankt Eloi. Mit acht Jahren habe ich mir vorgenommen, mein erster Wagen nach dem Führer-schein muss eine Ente sein. Wir haben sechs Wracks gekauft und an die zweitausend Stunden gearbeitet. Da steht er nun, mein Deux Chevaux, sogar mit neuen Sicherheitsgurten und Bremsbelägen."
IMAGE-GEFÄHRT
Wohl noch kein Fahrzeug in der Geschichte Frankreichs hat die Seelenlage der Gemüter derart beschäftigt, bewegt, aufgewühlt - oder auch solch länderüber-greifende Identifikationsschübe ausgelöst wie die Ente. Zunächst galt sie als Urtyp eines Primitivautos schlecht-hin, als Arbeitstier (Einheitsfarbe grau) und rollte vor-nehmlich vor Fabriktore oder auch Bauernhöfe. In den sechziger und siebziger Jahren stieg sie zum existenzial-istischen Image-Gefährt französischer Intellektueller auf. Wer damals in jenen Zeitläufen der heute schon legendär-verklärt anmutenden Studentenrevolte auch nur ein wenig auf sich hielt, las nicht nur in verrauchten Bars schwierige Texte des Philosophen Jean-Paul Sartre(*1906+1980), rauchte Gauloises in Kette, nein, der parkte sein Statussymbol Deux Chevaux natürlich im Pariser Stadtteil Saint-Germain-des-Près. Wo denn auch sonst.
EINMALIGE GRANDEUR
Tatsächlich vermochte bisher kein noch so technolo-gisch hochgezüchtetes Vehikel aus den Werken Renault, Peugeot oder Citroen an ihre Grandeur anzuknüpfen. Die skurril verpackte Enten-Mechanik, Sparsamkeit des Motors, sanft wiegende Federung, die im Stil einer Sar-dinenbüchse mit zurückgerolltem Dach zu fahren ist - all das ist in der Autowelt unnachahmlich geblieben. Sicherlich auch ein Grund dafür, warum in Europa eine Enten-Bewegung entstand.
VORLÄUFER DER 5CHEVAUX
Dabei ist die Entstehungsgeschichte des Autos so aben-teuerlich wie seine tiefauslagende Kurvenlage. - "Vier Räder unterm Regenschirm" wollte in den dreißiger Jahren Citroen-Generaldirektor Pierre-Jules Boulanger bauen lassen. Dieses Autochen sollte auch den Landarzt, die Weinbäuerin und natürlich den Dorfpfarrer im land-wirtschaftlich geprägten Frankreich zu überzeugten Citroen-Fahrern machen. Einzige Vorgabe an die Kon-strukteure im Pariser Vorort Levallois: Der Wagen müsste in der Lage sein, zwei Bauern samt einem Sack Kartoffeln oder einem Fass Wein auch über Feldwege zu kurven, vom Village zur Ville zu bringen. Das TPV ("Toute Petite Voiture" - ganz kleine Auto) dürfe nicht mehr als drei Liter Benzin auf 100 Kilometer schlucken und habe so geräumig zu sein, dass die Baskenmütze beim Einsteigen nicht vom Kopf rutscht. Sollte zudem noch eine Kiste mit Eiern auf dem Rücksitz liegen, so dürfe keines während der Fahrt zerbrechen.
ERSATZTEILE ALS ANTIQUITÄTEN
Über sieben Millionen Enten verließen die Pariser Werks-hallen - durchschnittlich 400 am Tag. Verständlich das mittlerweile auf dem Schloss Rochetaillée-sur-Saône Ersatzteile wie Antiquitäten gehandelt werden. Über-haupt durchlebt Frankreich eine nie für möglich ge-haltene Renaissance alter Blechkarossen. Fernab von schnelllebigen Superlativen und dem potenzprotzenden Milieu aus der Reklamewelt neuer Automobile wuchs in diesem Schatten eine Wirtschaftsbranche mit Millionen-umsätzen samt Arbeitsplätzen heran - der kapital-kräftige Oldtimer-Markt. Was einst verspielt begann, entpuppt sich zunehmend als eine ernst zu nehmende Wachstumsbranche - die Auto-Nostalgie.
VOM HINTERHOF AN DIE COTE d'AZUR
"Ich habe in einer kleinen Garage im Hinterhof be-gonnen. Heute kann ich eine Werkstatt mein eigen nennen", sagt der 50jährige Jean-Pierre Payet aus Briord im Rhône-Tal. Seine Auftragsbücher sind üppig gefüttert. International bis nach Japan hat der Tüftler Anzeigen in Fachzeitschriften geschaltet. Von überall rufen ihn Liebhaber vergangener Auto-Epochen an und wollen sogleich für etwa 12.000 Euro ein Stückchen mobile Vergangenheit mit nach Hause nehmen.
OLDTIMER-PAAR ÜBER LAND
Eigentlich wollte Restaurateur Jean-Pierre Jurist werden. Doch schon die kurzweiligen Fahrten mit seinem 5-Chevaux-Citroen zur Uni wiesen seinen Berufsweg in eine andere Richtung. Seither bastelt er maßstabsgetreu die "Vorahnen des Autos" zusammen. Oldtimer beginnen für ihn nämlich erst dort, wo Holz-teile handwerklich eingebaut werden müssen - Filigran-arbeit. Seine Frau Josette nickt ermüdet. Sie ist es nämlich, die die Abendstunden, zuweilen des Nachts an der Nähmaschine verbringt, mühselig die Sitzbezüge vergangener Tage schneidert und anpasst. - Termin-arbeit.
FROSCH IN DEN STÄLLEN
Übers Wochenende ist das Oldtimer-Paar meist unterwegs, grast alte Höfe und Dörfer ab. So mancher Zeitgenosse hält das einstige Volksauto - sieht wie ein Frosch aus - noch heute seit dem Zweiten Weltkrieg in Ställen oder Scheunen verborgen - für den Notfall sozusagen. Denn immerhin gab es auf den 5-Chevau-Citroen Benzinmarken. Und das will auch noch in Frankreichs Ära der TGV-Schnellzüge etwas heißen.