Samstag, 7. August 1993

Bretagne - Zorn und Eigensinn





























Die verheerenden Folgen der Tankerkata-strophe vor mehr als 15 Jahren sind erst jetzt allmählich überwunden. Damals liefen 230.000 Tonnen Rohöl ins offene Meer. Es vernichteten Seeigel, Muscheln, Austern; die Überleben Tausender von Menschen an der bretonischen Küste war ernsthaft bedroht - Endzeit-Stimmung in den Fischerdörfern
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Wiesbadener Kurier
vom 7. August 1993
von Reimar Oltmanns

Es war einer jene denkwürdigsten Sommerabende, die die Bretagne in den vergangenen Jahrzehnte erlebt hat. An den lang geschwungenen Sandstränden im Nord-west-Zipfel Frankreichs säumten Zehntausende von Menschen die Küste von Ploudalmezeau - dort, wo die Wellen hoch und der Sand weit sind, wo ständig der Wind pfeift und nicht selten der Regen die Kleider durchdringt. Das "Fest der Feste" sollte als Sieg ver-armter Dörfer gegen amerikanischen Ölkonzern Standard Oil gefeiert werden.

Insgesamt 15 Jahre hatten die Bürgermeister gegen den Multi in den USA juristisch kämpfen müssen, bis sie endlich nach mehreren Gerichtsinstanzen etwa 100 Millionen Euro als Entschädigung für die Umwelt-katastrophe auf ihrer Seite wussten. Stund' um Stund' sahen Bretonen an diesem Abend bedächtig den vom Atlantik her anrollenden mächtigem graugrünen Brechern zu. Immer wieder glitten die Blicke gen Himmel in die Wolkenberge, die der Wind vom Meer über Land trieb.

Anmut wie Szenerie glichen Augenblicke bretonischer Selbstvergessenheit, auch des bodenständigen Trotzes, so als sei der Sommer-Tourismus "die herrlichste Neben-sache der Welt", wie es Pierre Dugorre, Ratsherr des Städtchens Auray, formulierte. Sie standen nun da alle einträchtig im Sand - die über neunzig Bürgermeister im feinen Zwirn inklusive Ehrendekor mit ihren Hono-ratioren aus der Region. Nur festlich gekleidete Fischer mit rot gegerbten Gesichtern zogen Fähnchen schwen-kend ihre Runden. Noch einmal liefen auf zwei 150 Quadratmeter großen Leinwänden jene Horrorszena-rien ab, die Land wie Leute zu vernichten drohten. Vom Hämmern einer Syntheziser-Musik erfuhren Ur-Erleb-nisse von einst erneute Aktualität.

DÜSTERE ZUKUNFTSAUSSICHTEN

Eben Ur-Ängste, die auch für düstere Zukunftsaus-sichten des Nordwesten Frank-reichs nur eine Antwort dulden: bretonisches Selbstwertgefühl oder auch die breto-nische Hymne, die alle am Strand von Ploudal-mezeau mitzusingen verstehen: "Wir sind von dieser Ölschwärze für unser Leben gezeichnet, auch wenn heute alles wieder so ist wie es früher es früher war", bedeutet Chantal Lacroix, die von ihren Zimmervermie-tungen ihre Existenz bestreitet. Die Menschen-Runde am Strand nickt einvernehmlich.

Damals vor fünfzehn Jahren trieb der liberianische Riesentanker "Amoco Cadiz" mit gebrochenen Ruder in der stürmischen See. Wind und Wellen spülten den unlenkbaren Koloss in Richtung Festland. Die Klippen vor dem Fischerhafen Portsall rissen ein tiefes Loch in den Schiffsrumpf, über 230.000 Tonnen Rohöl flossen aus dem Leck ins offene Meer - und besudelten 320 Kilometer der bretonischen Küste. Jeder Liter Öl machte eine Millionen Liter Wasser ungenießbar.

Insgesamt 28 Millionen tote Seeigel, Muscheln und Schnecken. 6.000 Tonnen Austern vernichtet. Über zehntausend Seevögel verendeten qualvoll. Über 35.000 Helfer waren Wochen im Einsatz, um auch nur halb-wegs die größten Flurschäden zu beseitigen. Und der Tourismus - die Haupteinnahmequelle - ging um siebzig Prozent zurück. Dabei hatte in der Bretagne mal gerade die erste große Ölkatastrophe in der Geschichte der Seefahrt begonnen.

FENSTERSTURZ DER SUBPRÄFEKTEN

Doch hinter der wieder intakten bretonischen Fassade verbirgt sich ein Land im Zorn. Die sommerliche Folk-lore, so warnt einer der besten Bretagne-Kenner, der Schriftsteller Jakez Hélias, "das ist der Vulkan im Ruhestand. Ihm ist nicht zu trauen. Sein Erwachen, das sind die Barrikaden auf den Straßen und der Fenster-sturz der Subpräfekten."

Zahlreiche "Á-vendre"-Tafeln an Häusern und Ortseinfahrten sind ein Hinweis darauf, dass die Bretagne - wirtschaftlich ohnehin seit eh und je kränkelnd - nunmehr auszubluten droht. Kaum ein Jahr vergeht, in dem nicht ein Wirtschaftszweig vor dem Abgrund steht, Arbeitsplätze vernichtet und Steuer-einnahmen auf Null gebracht werden. Mit der neuerlichen Fischerei-Krise, den Billigimporten aus Übersee zerbröckelt gar ein Herzstück bretonischer Daseinsberechtigung. Kurzum: Die Jungen gehen, die Alten kommen - eine Regionen der Pensionäre.

BIER UND "BILD " AN DER CÔTE d'AZUR

Tatsächlich weisen ihr neue Ansprüche einer Freizeit-Gesellschaft ungewohnte Rollen wie Dienstleistungen zu. Die Zweithausbesitzer sagen sich an, wollen mög-lichst billig kaufen, aber medizinisch optimal versorgt werden, pochen auf neue Stromleitungen, Straßen wie Buslinien. Bislang hatte sich die familienorientierte, umweltbewusste Bretagne in der Gunst der Urlauber als kulturelles Kontrastprogramm zur "Bier- und Bild-zeitungs-Kultur" an den Betonbananen der Côte d'Azur gut behaupten können.

Vornehmlich französische, englische und auch deutsche Urlauber - 1992 waren es noch über drei Millionen - zog es in den Nordwesten Frankreichs. Damals wie heute: Die meisten übernachten auf Camping-Plätzen, sind tagsüber an den Stränden und widmen sich abends den fünf bretonischen K's: den Kathedralen wie Ste. Anne d'Auray, der kleinen wie großen Kultur, Kunst samt Konzerten oder auch dem Küssen.

Bretagne in den Neunzigern - eine Region stemmt sich stur gegen die Zeitläufe dieser Jahre. So wie schon einst und auch keine Hochhäuser entstehen, wird nunmehr Zug um Zug das Auto aus den Städten verbannt. Fuß-gängerzonen schaffen Raum wie architektonische Be-schaulichkeit, Verkehrsberuhigung ist an angesagt.

Die Ölschwärze von einst hat jedenfalls Kommunal-politiker darin bestärkt, ihre Region mit Röntgenblicken in puncto Ökologie wie Umwelt zu durchforsten. Und Jahr für Jahr werden Rathaus-Verordnungen schärfer, eben unnachsichtiger, auch wenn sich sodann ein Industrie-Unternehmen nicht mehr anzusiedeln ver-mag, und die Stadtkassen nur noch einen Dauerzu-stand kennen: Ebbe. "Wir haben hier oben hier oben nur Chance, nämlich mit und nicht gegen die Natur zu leben, das ist unser einziges Überlebenskapital, komme, was da wolle", so Paul Richéux, Touristen-Referent von Auray. Und er vergißt nicht hinzuzufügen: "Wir sind nämlich Bretonen."

Am Abend verdeckt keine Wolke mehr den Himmel am Strand von Ploudalmezeau. Der bretonisch verregnete Tag verabschiedet sich heiter.