Samstag, 15. Februar 1992

Cortina d'Ampezzo: Seit 1956 ticken die Uhren anders


























Vor mehr als einem halben Jahrhundert blickte die Weltöffentlichkeit zu den olympischen Winterspielen nach Cortina d'Ampezzo in den Dolomiten. Es waren die letzten Spiele nach altem Schrot und Korn, Idealismus und Sportgeist - getragen von der Dorfbevölkerung, eifrigen Sportler und Lokalgrößen, ohne Material-, Sponsoren oder Medienschlachten in Szene gesetzt. Weil es an Schnee fehlte, sammelten Männer in den Wäldern und an den Hängen mit dem Besen Schneereste zusammen. - Wechseljahre.


St. Galler Tagblatt
vom 15. Februar 1992
von Reimar Oltmanns


Der Flair früherer Epochen ist längst verblichen. - "Tempi passati", tönt es unisono aus dem Rathaus des nur 7.500 Einwohner zählenden Dolomiten-Städtchens Cortina d'Ampezzo. "Schauen Sie", bedeutet sein Touristik-Manager Gianni Milani, "nichts wird mehr so sein, wie es einstmals war. Olympische Winterspiele finden in Cortina nicht mehr statt - basta. Die Spiele in Albertville und noch sonst wo offenbaren Umweltalbträume durch abenteuerliche Zerstörungswut einer früher intakten Bergwelt. Ein ausgebufftes Kommerzspektakel sind sie außerdem. Für uns ist die olympische Idee endgültig gestorben. Jetzt sind wir in den Wechseljahren."

ITALIENS SKI-JET PROMENIERT

Geblieben sind in Italiens mondänster, aber irgendwie auch vergessener Schneehauptstadt lediglich angestaubte
Hochglanzbroschüren mit üppigen Fotos der grünäugigen Contessa Silvia Don delle Rose. Geblieben sind auch die Juwelen- und Pelzparaden draußen vor der Tür auf dem Corso Italia, wenn sonst zwischen Fels und Piste nichts mehr läuft und so. Nur dieser Corso Italia erinnert zuweilen noch an die Legenden vergangener Jahrzehnte. Es sind lauter namenlose Reiche und Schöne, die sich dort unentwegt in ihrem "passeggiata della bella gente" selber an ihrem Dasein berauschen, ihre Pelze und Perlenketten zur Schau stellen. Hier zotteln neben Fuchs und Zobel, Nerz und Luchs freundschaftlich eingehakt an den Boutiquen eines extravaganten Mode-Milieus entlang - mit dreißigprozentigem Preisaufschlag versteht sich. Wie selbstverständlich kostümiert sich der italienische Ski-Jetset in modischen Windblusen, den raffiniertesten Accessoires - Stirnbänder aus echtem Nerz ind 20.000fränkige Mondphasen-Uhren - Cortina in den neunziger Jahren.

Die heitere Unbefangenheit beim Apéritif in der "Bar de la Post" lässt selbst die einst stets willkommenen "stranieri" zu gelittenen Randfiguren absacken. Aber ob Amerikaner, Schweizer, Deutsche oder Engländer - in der Tat gibt der Wintersport für die Schickeria allenfalls eine Sekundärtugend ab. Dabei notiert Cortina immerhin 52 Bergbahnen und Skilifte mit einer Beförderungskapazität von 33.000 Personen pro Stunde, 160 Ski- und Langlauflehrer, 74 Kilometer gespurte Loipen, ein Hallenbad, eine Tennisanlage, Bobbahn, Skibobbahn, Skisprungschanze usw.

PRIORITÄTEN NEU GESETZT

Von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt, vollzog der Skiort einen allmählichen Wertewandel, hat Cortina behutsam seine Prioritäten verändert. Seither lautet die in der Bevölkerung allseits akzeptierte Devise: Nullwachstum und Umweltschutz -fernab von jedem unvorsichtigen Wirtschaftsoptimismus.

Vorbei sind die Zeiten des touristischen Goldgräberfiebers, passé die Epoche der Spekulationsgewinne an Haus und Boden. Von den früheren Hotelbauten aus der Ära der Donaumonarchie über die auftrumpfende Palastarchitektur der Zeit nach 1920 bis hin zu den Bausünden der sechziger Jahre - die architektonischen Jahrringe sind in Cortina deutlich abzulesen.

Unverkennbar waren die Alarmsignale, die Bau- und Grundstücksspekulanten mit ihren Zweitwohnungen und Appartmentshäusern hinterliessen. Noch heute kostet ein Quadratmeter umgerechnet 15.000 Euro. Bereits im Jahr 1972 waren von damals achttausend Bürgern sechzig Prozent Zugewanderte. Die ampezzanische Kultur und Sprache drohten zwangsläufig zur Folklore zu verkommen - Cortina als "Königin der Dolomiten" enthauptet zu werden. Die Münchner Ski-Schickeria witterte seinerzeit Morgenluft, sich Cortina quasi einzuverleiben. Gianni Milani leidgeprüft: "Wir haben aus unseren schweren Fehlern gelernt. Hand aufs Herz. In Cortina wird nichts mehr gebaut!"

WILDWUCHS MIT OLYMPIA-IMAGE

Allesamt waren jene Jahre des Wildwuchses, Spätfolgen des einst sorgsam aufpolierten Olympia-Images aus dem Jahre 1956. Erst Jahrzehnte danach setzte sich im Städtchen mehrheitlich die Erkenntnis durch, dass die Olympiade samt Gefolge mehr geschadet als genützt habe. Allmählich wich die Popularitätseuphorie der Ernüchterung, doch wohl eher Opfer als Macher der Winderspiele gewesen zu sein.

Aus heutiger Sicht des lukrativen und medialen Olympia-Super-Spektakels wie in Frankreich, in späteren Planungen Kanada oder auch Japan, wirken die Winterspiele zu Cortina d'Ampezzo im nachhinein wie ein rührend heimeliges Provinz-Ereignis, auch wenn das Fernsehen 1956 erstmals die Wettkämpfe übertrug. Damals standen jedenfalls noch die Leistungen der Sportler und Athletinnen im Mittelpunkt des Interesses, weniger die theatralisch vorgetragenen Statements der Funktionäre - eingeblendet zwischen Werbesports samt Dopingkontrollszenarien.

LETZTEN SPIELE IN CORTINA D'AMPEZZO

Dessen ungeachtet dürften sich die Winterspiele von Cortina d'Ampezzo ihren Platz in den Annalen der Sportgeschichtsbücher längst gesichert haben. Es waren die letzten olympischen Spiele nach altem Schrot und Korn, Idealismus und Sportgeist - getragen von weiten Teilen ener Dorfbevölkerung, von eifrigen Sportlern und Lokalgrößen, ohne Material-, Sponsoren- oder Medienschlachten in Szene gesetzt.

Weil es in den letzten Wochen vor Beginn zwar klirrende Kälte, aber keine Schneeflocke gab, sammelten die Männer in den Wäldern und auf den Hängen mit dem Besen alle Schneereste zusammen, schleppten sie in Körben auf den "Olimpionico" und stampften ihn in emsiger Kleinarbeit mit Skier fest. Nur 140 Journalisten waren in den fünfziger Jahren in Cortina akkreditiert, in Frankreichs Olympia-Stadt Albertville dürften es an die 5.500 sein.

"HELDEN" WIE TONI SAILER ... ...

Sicherlich - die Wechseljahre verschiedener Zeitströmungen und Architektur-einflüsse haben sich auch auf das Ortsbild Cortinas nachhaltig ausgewirkt. Nur von Monotonie oder der oft beklagten sportlichen Sterilität ist freilich nichts zu spüren.
Schon der Kirchturm lässt für den Neuankömmling keinen Zweifel daran, dass er den Mittelpunkt dieses ladinischen Ski-Städtchens erreicht hat. Die romantisch anmutende Holzkonstruktion des Eisstadions ist ein dezenter Hinweis darauf, dass Cortina d'Ampezzo zu einer noch von Amateuren bestimmten Sport-Epoche zählte. Hier hat jeder Olympia-Sieger von früher seinen Ehrenplatz gefunden - in Holz gerahmte, einen Meter große Fotografiem schmücken rundherum den Tribünengang - 24 an der Zahl. Wie ehedem so werden auch noch heute die Bilder alle vierzehn Tage geputzt und abgestaubt. Natürlich auch der Held vergilbter Tage, der Toni Sailer hieß, ausgerechnet ein benachbarter Österreicher war und gleich drei Goldmedaillen im alpinen Skilauf mit nach Hause nahm.

KLEINE ZIMMER WIE ZU HEMMINGWAYS ZEITEN


Statt weiterhin gigantischen Olympia-Plänen nachzurennen, beschäftigen sich Cortinas Stadtväter wieder einmal mit Problemen des Landschaftsschutzes und einer dringend benötigten Ortsumfahrung. Sie bedeuten Zukunft für das nächste Jahrtausend. Dann will Cortina im Ortskern nämlich autofrei sein. Die Urlauber wissen solch urbane Sensibilitäten zu schätzen. So hatte Cortina d'Ampezzo im letzten Jahr einen Besucherrekord von 1,3 Millionen Übernachtungen zu verzeichnen.

Neue Hotels? "Nein, niemals", versichert Gianni Milani, "auch Ernest Hemmingway schlief hier in einem kleinen Zimmer! - Aber das ist schon lange, sehr lange her.