Samstag, 5. September 1992

Geschichten in gemeinsam erlebter Einsamkeit




























































Trotz Selbstbewusstsein und Wille zum Widerstand gegen Zeitläufe der modernen Welt. - Bäuerinnen kämpfen mit ihren Familien im Alpenvorland ums Überleben, um Sein und Sinn ihres Lebens. Seillonnaz ist ein abgelegtes Dorf - unbeachtet, belächelt - halb vergessen. An den steilen Hängen des Rhône-Tals liegen ihre Weinberge. "Früher haben wir fast so viele Muskeln wie die Männer gehabt".


Frankfurter Rundschau
5. September 1992

von Jannick Boulle
und Reimar Oltmanns

Vom Rhône-Tal aus betrachtet ist das französische Bauerndorf Seillonnaz mit seinen 120 Einwohnern nicht auszumachen. Optisch zu dominant ziehen die Kühltürme der Kernkraftwiederaufbereitungsanlage Super Phènix in Malville die Blicke auf sich. Verschlungen führt eine schmale Asphaltstraße an den Weinbergen entlang hinein ins 600 Meter hoch gelegene, ver-schachtelt anmutende Alpenvorland.

Auf den Neuankömmling wirkt Seillonnaz wie ein verarmtes Überbleibsel aus längst verschollener Zeit. Die Schule ist seit Jahrzehnten geschlossen, der Priester schaut zum sonntäglichen "Vater uns" gerade mal alle vier Wochen vorbei. Nur ein Ehrendenkmal für die zwölf Gefallenen aus dem Ersten Weltkrieg mahnt im Dorf unübersehbar zur Patriotentreue. Es gibt keine Restaurants oder Herbergen. Nicht einmal ein Kolonialwaren-Laden ist zu finden. Nur jeden sechsten Tag versorgt Monsieur Brizard als épicier (Kleinkrämer) mit seinem Verkaufslaster die Landfamilien mit Lebensmitteln.
HOFVERLUST, TIERVERLUST - IDENTITÄTS-VERLUST
Es kommt nicht von ungefähr, dass die Regional-zeitung "Le Progrès" vom Leben dieses Bauerndorfes nichts Bemerkenswertes zu berichten weiß. "Zu belanglos", lautet der Kommentar. Allenfalls wenn in Seillonnaz jeweils in den Augusttagen das Ofenfest (la fête du four) steigt, traditionsbewusste Bäuerinnen wie einst ihre Mütter im Dorfofen Brote backen - dann schickt Bürgermeister Aimé Trischetti ein "Familienfoto" in die Redaktion, die dieses auch zweispaltig abzudrucken pflegt. "Irgendwie", meint der 69jährige Sozialist, der seit drei Jahrzehnten dem Ort vorsteht, "ist es schon der Höhepunkt des Jahres, wenn wir uns allesamt schmunzelnd in der Zeitung wiederfinden."

Doch trotz so viel pittoresker Beschaulichkeit durchlebt Seillonnaz in diesen Monaten eine Existenzkrise. Die Menschen haben Angst - es geht um Hofverlust, Tier-verlust, Landverlust - Identitätsverlust. Und Seillonnaz ist überall in Frankreich, wo das meiste Getreide, Mais und Rindfleisch in Europa produziert wird. Das Land ist noch immer der zweitgrößte Agrar-Exporteur der Welt nach den USA.
ÜBERPRODUKTION
Spätestens seit der beschlossenen Reform der EU-Agrarpolitik, die ab dem Jahre 1993 die kostspielige Überproduktion der etwa zehn Millionen EU-Bauern drastisch einschränken soll und die Stilllegung un-rentabler landwirtschaftlicher Flächen forciert, lebt Frankreichs Landbevölkerung in Aufruhr. Ziel der EU-Agrarreform ist es, die Preissubventionen für landwirtschaftliche Erzeugnisse zu senken und dafür Bauern direkte Einkommenshilfen zu zahlen. Dies soll zu einer merklichen Verringerung der Produktion von Getreide, Milch und Fleisch führen und außerdem ermöglichen, die EU-Märkte für Einfuhren aus Drittländern zu öffnen.

HEISSER HERBST - BAUERN-REVOLTE
Immerhin verschlingen derzeit die Ausgaben für die Landwirtschaft die Hälfte des gesamten EU-Haushaltes. Den größten Teil der 33 Milliarden Euro aus dem EU-Agraretat kassieren die Lagerhaltungsfirmen - als Folge der Überproduktion. Überall rumort es unter den Bauern in Frankreich. An die 300.000 Höfe sollen nach EU-Maßgaben über kurz oder lang verschwinden. Nach einer Lagebeurteilung des Pariser Innenministerium steht dem Land ein "heißer Herbst der Bauernrevolte"
bevor. Die bisherigen spektakulären Protestaktionen stufen die Ministerialen dabei lediglich als "Vorspiel" ein. Etwa die Blockaden von Autobahnen, National-straßen und Brücken rund um Paris. Wütende Bauern hatten in Südfrankreich , der Loire-Region bei Chartres und in Nantes tonnenweise Gemüse und Ost auf die Straße gekippt; "um einmal die Schmerzgrenze der französischen Bevölkerung zu testen", wie es Jacques Laigneau vom Koordinationsausschuss spontaner Bauern-Rebellionen lakonisch formulierte. Empörten Autofahrern legten sie kurzerhand Stacheldrahtrollen unter die Räder. - Endzeitstimmung.
BIRNEN AUF MÜLLDEPONIE
Ohnehin sind die Verkaufskurse von Obst und Gemüse die niedrigsten seit Jahrzehnten - und die Bauern erleiden Absatzverluste. Über 3.000 Tonnen Birnen landeten in der Gegend von Aix-en-Provence im Juli auf der Mülldeponie, weil sich keine Abnehmer fanden. Und die EU belohnt solche Vernichtungsaktionen auch noch im Durchschnitt mit 3,40 Cent pro Kilo - Europa zu Beginn der neunziger Jahre.
ENTLAUBUNGSMITTEL
Aber auch die französischen Politiker bleiben in ihrem Sommerurlaub nicht verschont. In Auxerre drängten 60 Landwirte auf das Grundstück des Chefs der EU-Kommission Jacques Delors (Präsident der EU-Kommission 1985-1995), und versprühten Entlaubungsmittel. Im südfranzösischen Arles verhinderten Polizisten, dass Demonstranten die Wohnung von Justizminister Vauzelle besetzten. Statt dessen hinterließen Bauern auch hier Gemüse- und Obstberge.
EIN LEBEN AUF DEM ACKER ... ...
Wer nach Gründen sucht, warum Hunderttausende von französischen Bauern heute teils mit offenen Aggres-sionen dem Staat gegenüberstehen, warum für viele die etablierten Parteien kaum noch wählbar sind, und die rechtsradikale "Front National" des Jean-Marie Le Pen sich über Zulauf freuen kann - der sollte das Lebens-gefühl der französischen Bauern nicht vergessen. Es wird von einem Bewusstsein getragen, in ein vorbe-stimmtes Leben gepresst zu werden - vorausgesetzt man wähnt sich auf der Gewinnerseite. Frankreichs leistungsorientierte öffentliche Meinung ist längst dazu übergegangen, sich in stereotypen Floskeln und plakativen Kürzeln untereinander zu verständigen - vornehmlich, wenn es um Schicksalsfragen der Bauern geht.
... ... UND UMSONST GESCHUFTET
Lebensgefühl und Selbstwahrnehmung lassen sich zunehmend heftiger von bedrohlichen Momenten leiten, "dass unsere Existenz auf dem Lande so ziemlich sinnlos ist. Als erklärten uns die Städter für verrückt, weil wir unser Bauern-Dasein, unser Land lieben. Es ist aber inzwischen so, als würde uns jäh der Boden unter den Füssen fortgerissen. Manchmal denke ich, wir haben all die Jahre umsonst ge-schuftet", sagt die 41jährige Bäuerin Jacqueline Laurencin aus Seillonnaz.Der Bauern-Alltag der Madame Jacqueline ist geprägt von harter körperlicher Arbeit und Ausdauer. Ihre Anforderungen sind typisch für eine große Zahl von Bäuerinnen, ohne die nun einmal nichts funktioniert in Frankreich und anderswo.
SELBSTAUFGABE ODER EMANZIPATION
Seit 22 Jahren ist Jacqueline mit ihrem Mann Robert verheiratet. Sie ist Mutter zweier Söhne, die auch mal Landwirte werden wollen. Früher einmal - nach dem Abitur - hatte sie unten im Tal als Sekretärin gearbeitet. Heute hingegen bedauert sie die sauerstoffarmen Schreibtisch-Menschen. Heute möchte Jacqueline nicht mit ihnen tauschen, auch wenn sie auf dem Hof doppelt so viel schuftet und sich in der Industrie ein paar Euro mehr verdienen lassen. "Nein", beteuert sie selbstbewusst, "hier in den Voralpen kann ich mein Leben selber gestalten, mitbestimmen, weitgehend Endscheidungen treffen. Wir Frauen auf dem Land sind viel selbstständiger und auch autonomer als so manche Städter das wahrhaben wollen. Einige Emanzipationsdebatten aus dem fernen Paris wirken auf mich wie Berichte von einem anderen Planeten. Das alles ist bei uns schon ganz leise gelebte Wirklichkeit - notgedrungenerweise versteht sich."

Meist, wenn Ehemann Robert von Seillonnaz aus mit seinem Trecker zu den Demonstrationen ausrückt, ist es seine Frau, die daheim den Hof in Gang hält. Und Bauer Robert ist diesen Tagen fast ständig unterwegs. Jacqueline findet es richtig, "dass mein Robert in vorderster Front mitmarschiert. Nur wenn wieder tonnenweise unsere doch kostbaren Lebensmittel auf der Mülldeponie oder Straßen weggekippt werden, habe ich Beklemmungen, bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Irgendwie fühle ich mich so, als würden wir uns selber aufgeben", sagt Jacqueline.

"VICKY" - "LILLY" - "FLORENCE" - "CHERIE"

Das Anwesen der Familie Laurencin umfasst 53 Hektar Land und zwei Hektar Weinberge. Dazu kommen zwanzig Milchkühe und 15 Kälber. Jeden Morgen und jeden Abend treibt Madame Jacqueline "Cherie," "Vicky", "Lilly", "Florence" oder auch "Josiane" über die Dorf-Hauptstraße Richtung Wiesen, abends Richtung Gehöft. Anders als bei den reichen Bauern im Tal, die über großflächige Weiden verfügen, gibt es im Alpen-Vorland nur kleine, vereinzelte Grasflächen. Also lässt Bäuerin Jacqueline ihre Kühe sich rund ums hügelige Dorf sattfressen - gemolken wird im Stall.

AN STEILEN HÄNGEN IN DEN VOR-ALPEN

Beinahe täglich hockt Jacqueline mehrere Stunden vor Formularen, muss sie Rechnungen schreiben, Zuschüsse beantragen oder beim Finanzamt um Zahlungsaufschub für die nächste Steuerrate nachsuchen.

Einen Steinwurf von der Bäuerin entfernt wohnt der Bürgermeister Aimé Trischetti mit seiner Frau Henriette. Beide sind 68 Jahre alt, seit vier Jahrzehnten verheiratet und haben drei Söhne aufgezogen. Auch sie sind Bauern - Weinbauern.

In ihrer großräumigen Wohnküche tickt eine alte Wanduhr. - Behaglichkeit. Sie deutet vielleicht an, dass die Familie Trischetti schon einmal bessere Tage in Seillonnaz erlebt hat. Die Gesichtszüge der Madame Henriette verraten kaum etwas von dem, womit sie quasi ein halbes Jahrhundert ihr Tagwerk bestritt. An den steilen Hängen im Rhône-Tal liegen ihre Weinberge. Und Wein-Arbeit - das ist Frauen-Arbeit. Hier hat sie ihre Weinstöcke gepflegt, gebunden und beschnitten. Kaum etwas lässt sich hier maschinell verrichten. In den Sommermonaten ist Henriette schon früh morgens um 6 Uhr bis etwa 10 Uhr in den Weinbergen. Dann wird es zu heiß. Und schließlich muss sie auch noch das Mittagessen vorbereiten. Zur Zeit der Weinlese hat Madame Henriette für 30 befreundete Mithelfer zu kochen.

WEINLESE UND WEHMUT

Aber irgendwie liegt ein bisschen Wehmut im Gesicht der Madame Henriette. - Umbruchzeiten für Frankreichs Bäuerinnen. "Natürlich", bemerkt sie, "der technische Fortschritt, die Maschinen erleichtern vor allem uns Frauen das Leben. Früher haben wir doch fast so viele Muskeln wie die Männer gehabt. Nur Geld konnten wir nie genügend verdienen. Es blieb immer Mangelware. Wenn wir mal etwas haben, müssen wir zum Beispiel einen Trecker kaufen, weil der alte nur noch Schrott ist."

Verständlich, dass Madame Henriette sorgenvoll in die Zukunft blickt.Verständlich auch, dass sie lieber von den Erfolgserlebnissen früherer Jahre erzählt. Als im Mai 1968 Frankreichs Studenten in Paris die Revolution probten,fand in Seillonnaz ein ganz anderer Aufbruch statt - das Wasser war da. Jeder Hof, jeder Haushalt wurde an die Kanalisation angeschlossen. Vorher mussten die Frauen noch das Wasser vom Dorfbrunnen in Eimern nach Hause schleppen, und die Wäsche wurde im Bach gewaschen.

EIN BRUNNEN - ZENTRUM DES LEBENS

Dass der Brunnen der Gesprächs- und Klatsch-Knotenpunkt des Dorfes war, ist kaum verwunderlich. Der Bürgermeister meint: "Vom Brunnen waren wir allesamt abhängig, und die Familien handelten solidarisch." - Wendezeiten. Nunmehr mit Wasser verlagerte sich das Dorfgeschehen immer mehr in die Küche des Bürgermeisters und seiner Frau Henriette. Hier kommen die Bauern mit ihren Landfrauen hin, um zu reden und zu klagen - bei gutem Wein.

FRAUEN FLÜCHTEN - NEUE AMOUREN

In der Tat sieht die viel besprochene Gemütslage des Dorfes alles andere als hoffnungsvoll aus. Trotz zigfacher Heiratsinserate - regional wie national - will es beispielsweise dem relativ gutgehenden Landwirt Jean-Luc mit seinen 38 Jahren nicht gelingen, eine Frau zu finden - über eine Nacht hinaus an sich zu binden; Monat für Monat, Jahr für Jahr ist der Bauer auf der Suche. Routinegeübt füllt er wieder im Tabakladen einen neue Lottoscheine aus, bringt Frau-Suchanzeigen zur gegenüber liegenden Post im Tal. Nach dem fünften Pastis murmelt er: "Was wir hier machen an diesem schönen Fleck, ist die gemeinsam erlebte Einsamkeit." Ein Flug nach Polen in die Masuren sollte die beschworene Frauen-Wende, den allseits erhofften Durchbruch bringen - Jean-Luc auf Brautschau in Olsztyn. Junge Polinnen werden ihm vorgeführt. Jean-Luc bezahlt für eine Nacht, für die nächste Nacht. Jean-Luc versteht nur Bahnhof, Sprachprobleme. Viel Wodka, große Geldausgaben, Vermittlungsgebühr, Flug, Hotel. Nur ein anschmiegsames junges Masuren-Mädchen für Seillonnaz im französischen Alpenvorland - Fehlanzeige.

ENDLICH MADEMOISELLE GEFUNDEN ... ...

Vis-á-vis von ihm wohnt Pascal mutterseelenallein in einem Zwölf-Zimmer-Haus. Als Bankangestellter dort unten im Tal hoffte er auf Aufstieg und Anerkennung. Jahre vergehen, Jahrzehnte verfliegen im Nu - Pascal steht immer noch akurat am Schalter mit eingefrorenem Dauerlächeln. Nichts, so scheint es, will sich bewegen, weil er offenkundig vergessen hatte, ein bisschen länger zur Schule zu gehen, sich im Bankfach weiter ausbilden zu lassen. Stillstand bei der all wöchentichen Chrom-Versiegelung. Nur seine junge Frau Monique hatte sich bewegt, zog es plötzlich ganz unvermittelt in die Stadt. Sie könne doch nicht ihr ganze Leben lang auf den Alpen starren. Sie könne doch nicht ewig ihr Dasein damit verbringen, ihrem Mann bei seiner liebevollen Autopolitur zuzuschauen - und das Samstag für Sonnabend immerfort in Seillonnaz im Alpenvorland. Das soll Monique ihrem Pascal zum Abschied gesagt haben. Abgang. Frauen-Aufbruch. Seither stottert sich Pascal auf Suche nach neuem Glück durch Gassen und Boulevards. Aber imgrunde, beschwichtigt Pascal, benötige er auch dríngend keine neue Frau. Seine Mutter Ramona umhegt ihn ohne Unterlass, bekocht ihn, putzt im Haus und bügelt seine Krawatten. Und wenn Pascal wieder auf die Autopolitur-Tube drückt, dann steht nicht selten Mutter Romana ganz in der Nähe, lächelt warmherzig, verständnisvoll. Mutteridylle in Seillonnaz.

... ... DOCH EIN BAUER SUCHT NOCH IMMER

Und am Berghang lebt schließlich noch der Lehrer Michel. Auch er ist in seiner Freizeit Bauer, Kuh- und Weinbauer. Seit über einem Jahr lebt Michel mit seiner Tochter Sandra und ihrem Hund Rock allein. Fluchtigartig - wie offenkundig gezielt in Dörfern - hatte auch seine Frau Isabelle ihren Michel verlassen. Sie habe es einfach satt mit anzusehen, wie Gatte Michel als kleiner Bauer so leidenschaftlich-besessen im Schlamm herumwurschtelt, sonst für nichts Zeit hat und noch immer keine schwarzen Zahlen schreibt. Gemeinsam erlebte Einsamkeit der Männer.

Hin und wieder - meist zu Abend - treffen sich die verbliebenen Landfrauen bei Henriette in der Küche. Nach den jüngsten EU-Beschlüssen und neuerlichen Frauenflucht aus dem Dorf kennen sie nur noch ein Thema. Sie wissen nicht, wie es tatsächlich weitergehen soll, wer überlebt und wer untergeht. Und sie haben Angst vor dem Ausverkauf ihres Dorfes Seillonnaz. Mahnend zeigen sie in Richtung der Region Ardèche - dort, wo sich der deutsche Jet-Set eingekauft, die Preise gedrückt habe. "Nein, das wollen wir hier nicht erleben. Da mögen die Schecks noch so hoch sein, schließlich geht es auch um unsere Bauern-Identität", sagt Madame Henriette und schenkt frisch gekelterten Wein nach.
























































































Donnerstag, 2. April 1992

Alessandra Mussolini: "Opa würde jetzt erst mal richtig aufräumen"






























































Vielerorts in Italien inszeniert sich Alessandra Mussolini - Enkeltochter des einstigen Diktator Benito - dem Wahlpublikum mit dem Faschisten-Gruß des ausge-streckten rechten Arms . Mit "Duce-Nostalgien", Pathos, Parolen und Legenden gelang ihr der Einzug ins italienische, sodann ins Europa-Parlament. Dort ver-bündete sie sich mit der rechtsextremen NPD. Als Nichte der Schauspielerin Sophia Loren setzt Mussolini sich zuweilen ungefragt als "die schönste, erotischste Faschistin auf dem europäischen Kontinent" in Szene. Wahlkampf in Italien: Showstars, Faschisten, Sex und Mafia führen Regie. - Räuberpistole in Europa
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Aachener Nachrichten
vom 2. April 1992
von Reimar Oltmanns
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Ein Hauch der krisengeschüttelten dreißiger Jahre weht durch Italien, in dem am 5. und 6. April 1992 in neues Parlament gewählt wird. Wäre es für die 56 Millionen Einwohner von den Alpen bis zur Südspitze Siziliens nicht so bitter ernst, so könnten Zyniker mutmaßen, Italien sei drauf und dran, ein Drehbuch eines allmähliche Staatsverfalls für Hollywood frei Haus zu liefern. Die Dramaturgie der Ereignisse spülen jedenfalls ein bizarres Gemisch von ewig Gestrigen, Mordserien und aberwitzigen Show-Einlagen hohler Parolen hervor.

AUSLÄNDER WEG MIT IHNEN - BASTA

Im Edel-Restaurant "Brenta" zu Bologna, in dem Reiche und offenbar nur Schöne ihre Tagliatelle speisen dürfen, präsentiert die neofaschistische Partei Soziale Bewegung (MSI) ihren Wahlkampf-Attraktion - die 29jährige knusperig dreinschauende Medizinstudentin Alessandra Mussolini, Enkelin des Diktators Benito Mussolini, als Appetitanreger sozusagen."Nein", sagt die selbstbewusste junge Dame aus der Oberschicht da, "Italien hat schon lange keine Ordnung mehr. Es fehlt eine starke, durchgreifende Hand." Sie fährt fort: "Und die vielen Ausländer, diese Kostgänger unserer Portemonaies, was machen wir nur mit ihnen? Ich sage nur eines: raus und das ganz schnell, lieber gestern als morgen." Versunken stochert sie in den Nudeln, blickt dann auf und erinnert an verwegene Zeiten: "Wenn mein Opa das wüsste - er würde richtig aufräumen, durchgreifen, ohne mit der Wimper zu rucken." Die Runde nickt einvernehmlich.

RECHTS SEIN, RECHTS DENKEN, RECHTS FÜHLEN

Rechts zu sein, rechts zu denken, rechts fühlen - das ist in Italien wieder en vogue. Nicht umsonst trat der derzeitige Ministerpräsident Andreotti dafür ein, aus dem römischen Gedenkstein "für die Opfer des Faschismus" - das Wort "faschistisch" zu löschen. - Italiens Faschismus bedarf keines Gedenkens; offenbar ein Normalfall in diesem Land - auch Gewöhnung genannt.

Tatsächlich - überall in Italien ist der Anflug eines Auflösungsprozesses spürbar. Noch nie war das Land derart zerrissen wie heute. Da werden Politiker wie der christdemokratische Europa-Abgeordnete Salvo Lima, in Sizilien ermordet. Da setzt es Prügel und Krawalle in Wahlversammlungen, weil die Menschen den Politiker-Vorgaben nicht mehr glauben mögen. Überall grassieren Bestechungen, Korruption, Vorteilnahmen, paralysieren Land, Leben, Leidenschaft - gute Absichten fürderhin.

Seit Jahren redet die politische Garnitur in Rom von politischen Reformen. - Nichts geschieht. Verständlich, dass viele Leute mittlerweile nur noch direkt in ihren Wahlkreisen nach einem Mehrheitswahlrecht votieren wollen. Eine repräsentative Umfrage ergab, dass 83,6 Prozent der Bevölkerung unmittelbar mitzubestimmen trachten. Aus gutem Grund: Immerhin hat das Land in 47 Jahren 50 Regierungs-wechsel erlebt. Weitere Kleiderwechsel, raus den Klamotten, rein in die Regierung folgen. Sicher?´Ganz sicher.

MISSTRAUEN, ARGWOHN, SPOTT

Misstrauen, Argwohn - Spott sind die Wegbegleiter des italienischen Politik-Alltags geworden. So betrachtet, versteht es sich beinahe von selbst, dass die jetzt anstehenden Parlamentswahlen keine sonderlich Politisierung hervorrufen, sondern vielmehr quasi wie ein "Mensch-ärgere-Dich-Spiel" gesehen werden. Deshalb sind die derzeit höchstdotierten Pornostars Italiens in Sachen "Wählermobilisierung" nicht nur unterwegs. Gerade Ilona Staller alias Cicciolina (das Schnuckelchen) ist in der offenkundig ermatteten römischen Männer-Gesellschaft mehr als willkommen -zur Belustigung vor, zum verstohlenen Angrapschen hinter der Kamera.

Da weiß natürlich jede Partei ihr Star auf der richtigen Seite. So tritt Alt-Fußballer Gianni Rivera für die "Democrazia Christiana" ein. Opern-Star Luciano Pavarotti trällert ohne Programm für die Sozialisten drauf los. Zukunftsskizzen für Italien, Inhalte etwas für jeweilige Wahlkreise - das sind fremde Begriffe aus einer offenbar, verschlossenen, sehr fernen - eben einer anderen Welt.
WAHLEN UNTER MAFIA-REGIE
So bleibt es - wie es schon einst oder auch immer war: italienische Wahlen sind ein Spektakel erster Güte - mit Lotto-Resultate samt Calcio-Ergebnissen gleichauf. Nur
die Law-and-order-Gruppierung ewig Gestriger - der "Leghe" (Ausländer raus) hat ihre Marktlücke , das Dauerthema vom hartgesottenen Landgrafen, muss sich nirgendwo anbiedern. Sie weiß den angeblich viel genötigten Zeitgeist ohnehin auf ihrer Seite und kann bei den Wahlen mit einem Stimmenanteil bis zu zwanzig Prozent rechnen. Parlamentsvoten hin - Mandatssitze her - in Italien weiß eh ein jeder, dass etwa ein Drittel der Stimmen unter Mafia-Regie stehen. Achselzucken. Das ist offenbar die Zeit für rechtsextremen Neofaschisten alte, längst überwunden geglaubte italienische Zustände der Verfolgung, Ausgrenzung oder auch Beseitigung ins Bewusstsein zurückzurufen, neuerliche Ängste zu schüren. Als ich aus dem Restaurant "Brenta" in Bologna mich von den Reichen und Schönen der Region Emila-Romagna verabschieden will, begleitet mich Alexandra Mussolini zu meiner Überraschung zur Tür. Ungefragt gibt sie mir einen Satz mit auf dem Weg, den ich mir nicht einmal notierten musste. "Opa würde aufräumen in diesem Land, wenn er denn noch lebte. Und meine Tante habe ich im Kampf um Ordnung sowieso auf meiner Seite." - Sophia Loren.



























Samstag, 21. März 1992

Viva Maria, arriverderci Macho - Frauen erobern Italien








































In
Gedenken an die römische Fernseh-journalistin Franca Magnani. Sie war eine Symbol-Figur italienischer Frauen-Autonomie und kompetenter Reportagen. Berichte, die zu Glanzstücken der ARD vornehmlich in den siebziger Jahren zählten. In Deutschland herrschte damals noch Kalter Krieg - gegen - über dem Osten und gegenüber selbstbe- wussten Frauen. Anlass genug für den CSU-nahen Bayerischen Rundfunk, Franca Magnani, die mit einem Kommunisten verheiratet war, vom Bildschirm zu verbannen. Franca Magnani (*1925+1996) starb an einer Krebserkrankung in Rom.

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Alles wandelt sich, alte Klischee-Bilder verstauben. Auch die Vorstellungen in unseren Köpfen müssen sich än- dern. Die Frauen der Mittelmeerländer sind längst nicht mehr die Flamenco tanzenden Zigarettenarbeiterinnen aus der Bizet-Oper "Carmen". Auch nicht mehr jene ergebenen Familien-Frauen, die italienische Männer so gern priesen (und betrogen).
Martina I. Kischke (1957-2000 verantwortliche FR-Redakteurin für Frauenthemen)
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Frankfurter Rundschau
vom 21. März 1992
von Mariangela Gioacchini
und Reimar Oltmanns

Im Jahre 1973 spöttelte die Mailänder Tages-zeitung "Corriere della Sera" über die Mitglieder der italienischen Frauenbewegung als "Generale ohne Heer". Zwei Jahre später mutmaßte dasselbe Blatt, dass "hier eine politische bedeutsame Kraft entsteht, mit der Regierung und Parteien rechnen müssen". Wiederum sechzehn Jahre danach fragen Journalisten vom "Corriere della Sera", "wann nunmehr der Tag der Frau in einen Tag der Männer umgewandelt wird. Die Frauen schaffen sich den Mythos einer eigenen Moral und vergessen dabei, dass auf der moralischen Ebene alle Menschen gleich sind." Offensichtlich sind Italiens Männer irritiert.

Wohl kaum ein anderes Land spült derartige soziale Veränderungen zwischen Männern und Frauen an die Oberfläche, wie es gegenwärtig in Italien geschieht. Alte Rollenbilder, tradiertes Rollenverhalten befinden sich im industrialisierten Norden in Auflösung, und im traditionsverbundenen, ärmeren Süden weicht die klassische Männlichkeits-Ideologie langsam auf. - Italia '92.


ZITTERT - DIE HEXEN SIND DA

Dabei wurde sie schon vielerorts für tot erklärt, die italienische Frauenbewegung, die in den siebziger Jahren fast die radikalste in Europa war. Geändert haben sich jedoch lediglich die Ausdrucksformen ihrer Arbeit - die auf Autonomie bedachten Italiener-innen sehen wohl kaum ihr Hauptanliegen daran, unentwegt schlagzeilenträchtige Szenarien frei Haus für die Abendnachrichten zu liefern. Vergilbt ist auf vielen römi-schen Mauern der Kampfesruf verflossener Jahre noch halbwegs lesbar: "Tremate, tremate, le streghe son' tornate" (Zittert, zittert, die Hexen sind wieder da). Vorbei ist mittlerweile jene legendäre, revolutionär-angehauchte Ära allgemeiner Frauen-Rebellion. - Zeiten, in denen es möglich war, per Schnellballsystem innerhalb von 24 Stunden siebzigtausend Frauen telefonisch für Massendemonstrationen zu mobilisieren. Mit erhobenen Händen formten Feministinnen das Zeichen der Vulva und drohten vor dem "Palazzo der Väter" (Parlament), die Männer zu kastrieren. Mit Pa-rolen wie "il potere e maschio" (die Macht ist männlich) wuchsen Zorn und Verbitterung. Der frühere Minister-präsident Amintore Fanfani (1908-1999) prophezeite drohend: "Eure Männer werden Euch verlassen."

NACHHOLBEDARF

Nur ein präzises Erinnern lässt die Konituität der femininen Wende in den neunziger Jahren in Italien erkennen. Zu groß war zunächst der Nachholbedarf an Gleichberechtigung in dem stets von Politikern und Päpsten beherrschten Land. Erst im Jahre 1946 durften Italienerinnen erstmals in ihrer Geschichte überhaupt wählen. Durch Demonstrationen und Diskussionen gelang es ihnen dann im Sinne der Gleichberechtigung, die Freigabe des Schwangerschaftsabbruches und ein neues Familien- recht (neunjährige Dispute) durchzuboxen. Erfolgsmomente. Gewiss - seither ist es ruhiger um die italienische Frauenbewegung geworden. Weil sie es ablehnt, sich im alltäglichen Kampf verschleißen zu lassen. Nur ist ihr Einfluss freilich und damit auch ihre Macht reichen mittlerweile in alle Schichten der italienischen Gesellschaft hinein. Anders als in Deutschland konnten sich Feministinnen südlich der Alpen sehr schnell von ihrem universitären, mitunter ideologie-lastigen Zirkel-Dasein befreien. Beizeiten hatten sich Italiens-Frauen darauf verständigt, dass der "Femi-nismus keine politische Bewegung ist, sondern die Kraft, die sich Frauen gegenseitig geben", bemerkt Roberta Tatafiore, Chefredakteurin "Noi Donne".

MACHTBASTION: FAMILIE
Jeder Versuch, Frauen-Politik und Frauen-Kultur in Italien nachzuvollziehen, sollte von der Tatsache ausgehen, dass nicht etwa die politischen Insitutionen, sondern einzig und allein die italienische Familie das stärkste Gremium des Landes ist.

FREMDHEITSGEFÜHLE

Der äußeren Grunderneuerung folgte zwangsläufig auch eine innere Renovierung - die eigentliche Kultur-revolution des Landes. "Die italienische Frau", urteilte Psycho-logie-Professor Fernando Dogana, "befand sich offenbar in einer Übergangsphase zwischen der Konditionierung durch die Tradition und der Orientierung an neuen kulturellen Leitbildern." Mit Beginn der achtziger Jahre begann der allmähliche Werte- und Sittenwandel Italiens, das Aufräumen mit frauenfeindlichen Bräuchen, etwa dem Jungfräulich-keitswahn im Süden oder der Konservierung alter Tabus im weiblichen Unterdrückungsmechanismus des Kirche-Kinder-Küche-Kreislaufes. Bei den Frauen Italiens hatten sich die Meinung durchgesetzt, dass es sinnlos sei, auf bessere Zeiten und verständnisvollere Männer zu warten - der Begriff "Affidamento" (vertrauen, sich verlassen auf) war geboren. Und mit ihm die erste zaghafte Hinwendung zu einer nur von Frauen erlebten Frauen-Gesellschaft. Für Italiens Frauenbewegung ist die männliche Akzeptanz nichts Erstrebenswertes mehr. Sie wollen keine weitere Gleichheit erreichen. Denn: Gleichheit bedeutet für sie die Orientierung an männliche Maßstäben. Kategorien und Inhalte, die sie ablehnen, weil es ihnen darauf ankommt, Frausein nicht als "Mangel" hinzunehmen, sondern als Fremdheits-gefühl in einer von Männern genormten Welt.

RÜCKZUG VOM ITALIENISCHEN MANN

Ob Rückzug oder Resignation vom italienischen Mann - die Politik des "Affidamento" baut zielstrebig nur Frauenbezüge unter Frauen auf; quasi ein kleines Frauen-Land im italienischen Staatenbund. Gemeint sind nämlich ausschließlich die Beziehungen der Frauen untereinander. Dabei dreht es sich nicht nur um Freundschaften. Frauen sollen sich vielmehr in ihrer Gegenwelt in ihrem Denken, Fühlen, Handeln und in ihrer aktuellen Alltagsbewältigung nur auf Frauen beziehen. Verständlich, dass in solch einem Lebenszusammenhang die Sexualität keinen intensiven Stellenwert mehr hat. Ob hetero oder homo - Sex holt man sich irgendwo und mit irgendwem - ganz unverbindlich, versteht sich. Ohnehin belegen jüngste repräsentative Umfragen, dass zusehends mehr Frauen in den neuen Rollen Schwierigkeiten mit ihrem "Latin lover" haben. Die Frauen scheinen kaum noch bereit zu sein, Körper und Seele für schnelllebige Dienstleistungen zur Verfügung stellen zu wollen.

"LATIN LOVER" - BEI MAMMA, AUF PAZZIA UND IM BETT

"Abends lässt er sich von seiner Mamma üppig Mangiare servieren, benimmt sich wie ein veralberter Minderjähriger, und dann sucht er mich nachts unter der Bettdecke - mit mir nicht", meint die 32jährige Pharmazeutin Valeria Carnevale aus Bologna während der Mittagszeit vor ihrer Apotheke auf dem ehrwürdigen Piazza Maggiore.

Doch auch der einst legendenumwobene "Latin Lover" hat sich mittlerweile zu Wort gemeldet. Zwischen Padua und Palermo geißelte er in Umfragen die für ihn offen-kundig neu entdeckte "weibliche Frigidität" - Gesellschafterkampf auf italienisch. Überall dort, wo sich Frauen zusammenschließen, sind sie dabei, neue Bezugspunkte aufzubauen, ungeahnte Gemeinsamkeiten etwa mit Frauen der katholischen Kirche zu entdecken: sie sagen den Männern adé - Italia im neunziger Jahrzehnt.

BISSIG UND FROSTIG

Rauh, bisweilen bissig-frostig ist es geworden, das Klima zwischen italienischen
Frauen und Männern. Der Übergang von Tradition zur Moderne hat viele Reibungspunkte - und auch Opfer. Plötzlich fühlen sich manche Männer in ihrem Ego bedroht. Und: Sie schlagen zurück. Nur in einem Jahr wurden in Italien 800.000 Frauen von ihrem Ehegefährten krankenhausreif geprügelt. Jede dritte Frau wird misshandelt. Und immer wieder tönt es unisono als Rechtfertigung aus der Männer-Ecke, wie es der sozialistennahe "Espresso" schrieb: "Vor allem die Berufstätigkeit und Karrieresucht der Frauen sind schuld an den Krisen im Bett." Immerhin: Das erste "Frauenhaus" Italiens, in dem Misshandelte Schutz finden können, öffnete vor einem Jahr in Bologna seine Pforten.

DONNE IN CARRIERE

Jetzt schon sind die Langzeitfolgen des Geschlechterkampfes absehbar. Im Jahre 1996 wird es in Italien mehr Menschen im Alter von über 60 Jahren geben als Jugendliche unter neunzehn Jahren. Mit der niedrigsten Geburtenrate in Europa wird die italienische Bevölkerung in den nächsten drei Jahrzehnten um sechs Millionen Menschen schrumpfen und auf 51 Millionen Einwohner zurückgehen. Nur der Wandel in den Ansichten und im Handeln der italienischen Frau wird wohl kaum aufzuhalten sein. "Die Frauen sind längst der Eckpfeiler, der tragende Boden unseres Wirtschaftswunders", bekannte unlängst die Publizistin Marie Antonietta Macci-occhi. Ohne "Donne in carriere" (Frauen in der Karriere) geht kaum noch etwas im Land. Über 67 Prozent der Frauen sind mittlerweile im Dienstleistungssektor be-schäftigt. 32 Prozent sind in den Angestelltenberufen tätig. In den vergangenen fünf Jahren erhöhte sich der weibliche Anteil unter den Angehörigen der freien Berufe und der Unternehmerinnen sogar um 48 Prozent.

MANN IST EIN LUXUS

Und die Männer? "Der Mann ist ein Luxus, er bietet wenig Schutz, ist unwirt-schaftlich. Wir ernähren uns besser allein. Das Bemerkenswerte ist", sagt Grüne-Politikerin Letizia Battaglia aus Palermo, "dass die neuen Unterdrückungsversuche nicht von den Erzkonservativen kommen, sondern von den sogenannten Fortschrittlichen aus den angeblich progressiven Managerstuben und Gewerkschaften."

Immerhin - der Wandel im Denken der italienischen Frau brachte ein verblüffendes Umfrage-Ergebnis über die Sexualität am Arbeitsplatz zutage. Mehr als zwanzig Prozent der befragten Männer nämlich bekannten, "sexuellen Annäherungsversuchen" von Kolleginnen ausgesetzt zu sein. - Die Mehrheit der Männer hatte freilich nichts dagegen.

Mittwoch, 4. März 1992

Schlager-Festival San Remo: Abglanz früherer Epochen








































Korruption hat den ehemals populären Schlagerwettbewerb, Il Festival della canzone italiana aus den sechziger Jahren ramponiert und den Ruf von San Remo ruiniert; italie- nische Songs der Gegenwart, oft im ge- brochenem Englisch vorgetragen, den Garaus gemacht. Wenn Legenden sich überlebt haben, dann auf den Bühnen des Teatro "Ari- ston", dort wo Italiens Schlagersänger ihre TV-Auftritte unterbrechen müssen - für Katzen- futter, Slipein- lagen oder Barilla-Nudeln.


Gießener Anzeiger
vom 4. März 1992
von Reimar Oltmanns

Da stehen sie nun auf der Bühne, die italienischen Schlagerstars der neunziger Jahre - bedeutungsschwer, aber noch ohne Zeremonienmeister. Das hochbetagte Jugendstil-Teatro "Ariston" zu San Remo, umgeben von weitflächigen Parkanlagen, gibt die Prachtkulisse ab, auf der das kultuerelle Großereignis Italiens schlechthin beginnen kann. Schon Wochen vor dem Festival zu San Remo wird die "Ausscheidungskür" zum besten Schlager alljährlich mit einer Aufmerksamkeit nationaler Trag- weite bedacht; nahezu so, als müsse Italiens inter- nationales Renommé als weltweit dritte Liedernation (hinter den USA und England) nachhaltig verteidigt werden.

20 MILLIONEN ITALIENER VIER NÄCHTE LANG VORM FERNSEHER

Wenn Narzissmus tatsächlich einen fortwährenden Zustand dieser Jahre umschreibt , dann zählt das alljährliche Glanz- und Glimmer-Festival zu San Remo zu seinen tragenden Säulen. Jahr für Jahr hängen etwa 20 Millionen Italiener und Italienerinnen vier Nächte lang vor den Bildschirmen; von live-Schaltung zum Exklusiv-Interview. Weltweit können mithin über eine Milliarde Menschen via Mondovision beim Endaus- scheidungskampf der sogenannten Schlager-Finalisten dabei sein. Schon die Dramaturgie allgegenwärtiger Selbstdarstellung drängt Skeptiker zu Randfiguren. Das ausgesuchte Spektrum des Italo-Spektakels folgt einer allseits akzeptierten Zielgruppenstrategie - Kasse machen.

"GOODWILL-GELDER" - AUCH BESTECHUNG GENANNT

Den Auftakt lieferten in all den Jahren handfeste Korruptionsgeschichten, mal spektakulär vermarktet, mal mühsam versteckt. Da mussten zahlreiche Künstler bis zu 70.000 Euro sogenannte "Goodwill-Gelder" ein- zahlen, um überhaupt zum Wettbewerb der italie- nischen "canzone" zu gelassen zu werden; einen Bühnenpreis für ihren kurzweiligen Auftritt sozusagen. Kein italienischer Sänger oder auch Sängerin kann sich nach dortigen Marketing-"Gesetzmäßigkeiten" solch einer Transferzahlung entziehen. Wer auf seine "Herz-Schmerz-Liebe-Neuigkeiten" auf den Bühnen zu San Remo verzichtet, hat sich damit unweigerlich vom italienischen Schlager verabschiedet. Die allseitige Geschäftslogik : Ohne Schmiergelder kein Gesang, ohne Gesang keine Bühne. Verständlich, dass da der Haupt- organisator des Festivals, Adriano Aragozzini, San Remos Lokalpolitiker mit über 850.000 Euro schmierte und bei solchem Gebaren auch nichts Absonderliches empfand. Legte er doch nur gezielten Wert darauf, auch künftig die einflussreichsten "grauen Eminenzen" begrüßen zu dürfen.

Mit derlei "Begrüßungsgeldern" ausgestattet darf es sodann verkitscht und sentimental zugehen - für Gefühlsdrüsen-Dramaturgien. Das verlangen schon jene Einschaltquoten der privaten Fernsehstationen, für die der Medienmogul und Politiker Silvio Berlusconi ver- antwortlich zeichnet. Die Hommage gilt einem Sänger, der sich in San Remo vor mehr als 25 Jahren jählings das Leben nahm. Luigi Tenco war noch keine 29 Jahre alt, als er sich während des Festivals in San Remo im Januar 1967 im Hotel "Savoy" mit Whisky und Grappa vollpumpte und erschoss. Seinerzeit war Tenco mit seinen Texten der allzu oft sinnentleerten italienischen Bewusstseins-Industrie seiner Zeit offenkundig weit voraus und damit zur Erfolglosigkeit beschieden. Sein Haupttitel: "Ich habe mich in dich verliebt, weil ich nichts zu tun hatte." Nicht einmal eine Gedenkminute widmete seinerzeit das Festival seinem toten Inter- preten. Das soll nun nachgeholt werden, "weil wir ohne Legendenbildung nicht leben können", bedeutet Adriano Aragozzini knapp, "Charisma und Wehmut müssen her". Mit aufwühlenden Gefühlen in aktuell frisierten Nostalgien versucht Italiens Schlagerindustrie, der langanhaltenden Krise des Schlagers Schärfe, Langeweile und stereotype Dumpfheit zu nehmen.

ÄLTESTES FESTIVAL

Seit dem Jahre 1951 wird nun dieses Festival fort- während veranstaltet; Jahr für Jahr ohne Unterlass. San Remo ist das älteste Musik-Festival in Europa, älter gar als der Grand Prix de la Chanson, den es seit 1956 gibt. Seine besten Jahre erlebte San Remo, als Lieder von jeweils zwei Künstlern mit unterschiedlichen Orchester-Arrangements vorgetragen wurden. Seinerzeit sollte noch der Schwerpunkt des Festivals als Komponisten- und nicht als Sängerwettstreit akzentuiert werden. - Lang, lang ist's her.

Lieder wie Volare (Nel blu dipinto di blu) von Domenico Modugno (1958) oder Se piangi, se ridi von Bobby Solo (1958) sind unwiederbringliche Vergangenheit - Welt- hits verwehter Epochen. Mittlerweile reduziert sich der Flair von San Remo auf nationales Mittelmaß Italiens. Das Festival wurde auch zu selten von Rockmusikern oder den Canautori wahrgenommen. Musiker wie Fabrizo de André (*1940+1999) wie auch Francesco Guccini , dem italienischen Bob Dylan, hatten sich der hastigen Neuzeit ohnehin verweigert. de André wurde durch die hohe literarische Qualität seiner Texte und meisterhafte Interpretation zu einem der beliebtesten Sänger Italiens. Er erzählte hauptsächlich Geschichten der Ausgegrenzten und Enterbten. Er starb an Lungen- krebs.

GEBROCHENES ENGLISCH GETRÄLLERT

Die Songs der Gegenwart. oft im gebrochenen Englisch vorgetragen, sind ein Abglanz auf eine einst große beschauliche Ära des Festivals in San Remo. Italiens Musik-Experte Gianni Borgna resümiert: "Wer heute jung ist, hat wirklich nicht mehr so intensive Musik- erlebnisse wie in den sechziger Jahren. Das ist traurig, aber eine Tatsache." So kommt es nicht von ungefähr, dass viele Stars von ehedem Abend für Abend bei ihren jährlich etwa zweihundert Auftritten Säle und ihre Bankkonten füllen - und vor allem eine gediegene , ja vehemente "italienische Atmosphäre" verströmen, die heutzutage offenkundig ausgestorben zu sein scheint. So sind es die sogenannten "Oldies", die der Schlager- industrie einen jährlichen Verkauf von fast 300 Millionen Euro einbringen. Meist sind es Original-Aufnahmen aus den sechziger Jahren. San Remo lebte einst vom Mythos einer längst verflossenen Volare-Ära.

Ganz im Sinne italienischer Kommerz-Dramaturgie stehen ausnahmslos fast alle Sieger des Festivals schon vorher fest. Schon zu Beginn der San-Remo-Show schrieben unisono Italiens Gazetten - nach Absprache versteht sich - einen unbekannten Namen ins Rampen- licht. Er heißt Lucca Barbarossa ist 30 Jahre alt und kommt aus Rom. "Portami a ballare" (Nimm mich mit zum Tanzen) trällert er ins Mikrofon. Dieser Sänger nahm sich für seinen Vortrag erstaunlich viel Zeit. Neben seinem Liedchen zelebrierte Schlagerstar Lucca höchst persönlich kleine Slip-Einlage-Tütchen dort droben im Scheinwerferlicht zu San Remo. Folgerichtig wollte Chanteur Lucca an diesem Abend , wie er sagte, "auch nur mit meiner Oma tanzen" - wegen Slip, Sicherheit, Sorgfalt und so.

































Samstag, 29. Februar 1992

Optimale Fernsehkulisse
























Melancholie und Delirium - nach einer Zwangspause führt beim Carnevale di Venezia Medienzar Silvio Berlusconi Regie. Will er den Markusplatz für teures Geld über seine privaten Fernsehsender weltweit vermarkten. Märchenkulisse für Sinnestaumel, Maske oder Theater - es ist das Fest des Jahres in Italien.


die tageszeitung, Berlin
29. Februar 1992
von Reimar Oltmanns


Canale Grande, ein Anlegesteg. Leicht verknautscht klettern sie aus dem Boot und flanieren feierlich zum altehrwürdigen Portal des legendären Palazzo Grassi: Casanovas, Kurtisanen, Kavaliere, Kardinäle, Prinzessinnen, Patrizierinnen. "Die Hunnen-Invasion hat längst begonnen", schrieb die venezianische Zeitung "Gazzettino" lakonisch. Weit mehr als 800.000 Menschen, so lauten die Rekordprognosen, werden in diesem Jahr zur Faschingszeit in nur vierzehn Tagen Venedig bevölkern.

Ob Deutsche, Amerikaner, Japaner oder auch Australier: allesamt schlendern sie einträchtig im Pulk ins glorreich ersehnte Vorgestern. - In der Tat: Der jahrhundertealte Karneval in Venedig wird neu inszeniert, feiert eine unvermutete Renaissance. Kein anderer als der Mailänder Medienzar und Politiker Silvio Berlusconi führt nunmehr mit finanzkräftigen englischen und schweizerischen Großkonzernen Regie - mit einem Geldaufwand von vorerst zwei Millionen Euro und weltweiten Übertragungsrechten versteht sich. Alles soll organisatorisch noch viel besser, umsichtiger, wahrheitsgetreuer, romantisch-nostalgischer, eben perfekter werden, wenn Venedig sich ins 18. Jahrhundert verabschiedet - für vierzehn Tage zumindest.
VIAREGGIO BIS RIO
Was fasziniert die Menschen nur derart, dass sie teilweise mit strahlenden Kinderaugen weltumspannende, teure Fahrten ins Ungewisse buchen, wenn nur vom venezianischen Karneval die Rede ist? Schließlich gibt es Karneval auf dem ganzen Erdball - von Mainz bis München, Viareggio bis Rio. "Alle Städte dieser Welt sind gleich, nur Venedig ist ein bisschen anders", bedeutet sein Bürgermeister Ugo Bergamo. "Im letzten Jahr ließen wir den Karneval wegen des Golfkrieges ausfallen. Jetzt verspüren die Menschen Heißhunger danach."

Es sind die einzigartigen grandiosen Paläste dieser Stadt, der Markusplatz, die Gassen und Gässchen, Kanäle und Brücken. Sie bilden eine Märchenkulisse für Sinnestaumel, Maske und Theater - auch für Melancholie und Delirium in einer zunehmend von Digitalrhythmen beherrschten Welt. Wohl kaum gibt es einen stärkeren Magneten für die sogenannten "tollen Tage" als Venedig, um wenigstens stundenweise dem grauen Alltag zu entfliehen. Masken als surrealistische Visionen, Theater als unentdeckte Selbstwahrnehmung. Hunderte von Schauspielgruppen aus aller Welt fanden ihren Weg schon in die Lagunenstadt und mischten sich unters Publikum. Nicht selten nahmen Zuschauer nur ein Stichwort auf, um gleich wenige Meter entfernt daraus ein kleines, eigenes Stück zu improvisieren. Animiert durch Straßentheater, Bänkelsänger, Musikanten und Pantomimen gerät jedes Jahr ganz Venedig aus dem Häuschen. Karneval in Venedig '92 - das ist insgeheim das Fest des Jahres in Italien.

FALSCHER CASANOVA AUF DEM FEST DER FESTE


Die falsche Madame Pomadour nippt am Spumante in "Harry's Bar", wo der echte Hemingway sich früher betrank. Oder der falsche Casanova auf den Spuren des echten, der hier vor 260 Jahren geboren wurde. Seinerzeit ging Venedig bekanntlich prassend und klatschend unter. Der europäische Adel verjubelte seine Reichtümer meist im ewigen Karneval der Lagunenstadt, weil offenkundig nirgendwo sonst so lustvoll und frivol der historische Untergang einer Epoche gefeiert werden konnte. Die Französische Revolution stand vor der Tür. -

Bella Venezia. Tatsächlich hat der Karneval in Venedig eine fast 900jährige Tradition. Seine größte Zeit dürfte er wohl vor der Renaissance erlebt haben. Die glanzvollen Feste der Medici in Florenz galten als Vorbild der Karnevalsfeiern. Gelage, Maskentreiben, Tierhatzen und Feuerwerke waren sein unverkennbares Markenzeichen. Im Jahr 1797 besetzte Napoléon Venedig und verbot kurzerhand den Karneval. Erst vor 14 Jahren fanden sich 120 Personen in Venedigs Compagnia della Calza zusammen, um der ursprünglichen Karneval-Idee neues Leben einzuhauchen.

Karneval in Venedig '92 - die alten, ehrwürdigen Figuren, die beispielsweise in Gemälden von Canaletto verewigt worden sind, leben in ihren Kostümen maßstabsgetreu wieder auf. Aber auch das ist der Karneval - die Rückbesinnung auf bodenständige Werte und Traditionen. Vorbei sind die Zeiten, in denen scheinbar alles machbar schien, schrill, vulgär, gesponsert von CocaCola, laserbestrahlt von Philips, mit jaulender Musik beschallt. - Venedig war drauf und dran, seinen Ruf zu ruinieren, ein "mostro" (Ungeheuer) zu werden. Etwa 200.000 Rockfans um die perfekte Licht- und Tonmaschine Pink Floyd verwandelten den Markusplatz zur Abfallhalde, auf dem ein Heer von Obdachlosen seine Schlafstätte gefunden hatte. Passé sind jene Jahre, in denen großflächige Bühnen, Diskotheken, Verstärker, Neonlichter, Pommes frites, Rotwein und Schlafsäcke Venedig die Richtung wiesen, erste Drop-out City Europas zu werden. - Wendezeiten.
SEHNSUCHT NACH BESCHAULICHKEIT

Statt grelle Scheinwerfer leuchten wieder wie einst Kerzen auf den Markusplatz. Statt Pink Floyd bilden Kinder in Kostümen aller Länder den größten Friedenskreis, den es je gegeben haben soll. Und weil nun einmal Musik die Sprache ist, die am ehesten ein friedliches Miteinander ermöglicht, spielen über ganz Venedig verteilt 560 internationale Musikgruppen auf; vom Samba, Reggae, Rock 'n' Roll, Rhytm&Blues, Twist bis hin zu Beethoven und natürlich Vivaldi - in Erinnerung an die erste Begegnung mit amerikanischen Länden vor nunmehr 500 Jahren. Mit derlei beschaulich-anmutender Karnevalsstrategie wollen Hotels und Restaurants ihr Tief überwinden. Immerhin mussten sie in vergangenen Jahren einen empfindlichen Rückgang von 15 Prozent an Besuchern verzeichnen. Bekanntlich leben 70 Prozent der Menschen in Venedig vom Tourismus. So ist eines der zentralen Themen "Venedig, Rückkehr zur Zukunft". - "Seit diese Botschaft weltweit die wichtigen Anzeigenblätter beglückt, steigt jedenfalls die Besucherkurve wieder unaufhaltsam nach oben. Für den Karneval '92 waren schon im Dezember vergangenen Jahres alle Hotelbetten ausgebucht. Scheinbar für die Restaurants und Wassertaxifahrer Anlass genung, sich in ihrem Preisgebaren zu Raubrittern zu mausern, gar das Dreifache abzukassieren.

KEIN STAAT - ABER GUTE FERNSEHKULISSE

Überhöhte Preise hin, Karneval Venedig her - eines will sich der markt- und machterprobte Sponsor Silvio Berlusconi aber auf keinen Fall entgehen lassen. Auf sein Geheiß hin entsteht mit Blick auf den Markusplatz eine mit 300 Pumpen nach oben geschossene Mega-Leinwand aus Wasser. Die darauf projizierten Karnevalsbilder sind nicht nur fürs Publikum und für seine privaten Fernsehsender gedacht. Sie sollen möglichst für teures Geld in viele Länder verkauft werden. Ganz nach der Devise: "Italien existiert vielleicht schon nicht mehr als Staat", schrieb amüsiert Andrea Barbato in der Zeitung "Indipendente", "aber es gibt immer noch eine optimale Fernsehkulisse ab."

Samstag, 15. Februar 1992

Cortina d'Ampezzo: Seit 1956 ticken die Uhren anders


























Vor mehr als einem halben Jahrhundert blickte die Weltöffentlichkeit zu den olympischen Winterspielen nach Cortina d'Ampezzo in den Dolomiten. Es waren die letzten Spiele nach altem Schrot und Korn, Idealismus und Sportgeist - getragen von der Dorfbevölkerung, eifrigen Sportler und Lokalgrößen, ohne Material-, Sponsoren oder Medienschlachten in Szene gesetzt. Weil es an Schnee fehlte, sammelten Männer in den Wäldern und an den Hängen mit dem Besen Schneereste zusammen. - Wechseljahre.


St. Galler Tagblatt
vom 15. Februar 1992
von Reimar Oltmanns


Der Flair früherer Epochen ist längst verblichen. - "Tempi passati", tönt es unisono aus dem Rathaus des nur 7.500 Einwohner zählenden Dolomiten-Städtchens Cortina d'Ampezzo. "Schauen Sie", bedeutet sein Touristik-Manager Gianni Milani, "nichts wird mehr so sein, wie es einstmals war. Olympische Winterspiele finden in Cortina nicht mehr statt - basta. Die Spiele in Albertville und noch sonst wo offenbaren Umweltalbträume durch abenteuerliche Zerstörungswut einer früher intakten Bergwelt. Ein ausgebufftes Kommerzspektakel sind sie außerdem. Für uns ist die olympische Idee endgültig gestorben. Jetzt sind wir in den Wechseljahren."

ITALIENS SKI-JET PROMENIERT

Geblieben sind in Italiens mondänster, aber irgendwie auch vergessener Schneehauptstadt lediglich angestaubte
Hochglanzbroschüren mit üppigen Fotos der grünäugigen Contessa Silvia Don delle Rose. Geblieben sind auch die Juwelen- und Pelzparaden draußen vor der Tür auf dem Corso Italia, wenn sonst zwischen Fels und Piste nichts mehr läuft und so. Nur dieser Corso Italia erinnert zuweilen noch an die Legenden vergangener Jahrzehnte. Es sind lauter namenlose Reiche und Schöne, die sich dort unentwegt in ihrem "passeggiata della bella gente" selber an ihrem Dasein berauschen, ihre Pelze und Perlenketten zur Schau stellen. Hier zotteln neben Fuchs und Zobel, Nerz und Luchs freundschaftlich eingehakt an den Boutiquen eines extravaganten Mode-Milieus entlang - mit dreißigprozentigem Preisaufschlag versteht sich. Wie selbstverständlich kostümiert sich der italienische Ski-Jetset in modischen Windblusen, den raffiniertesten Accessoires - Stirnbänder aus echtem Nerz ind 20.000fränkige Mondphasen-Uhren - Cortina in den neunziger Jahren.

Die heitere Unbefangenheit beim Apéritif in der "Bar de la Post" lässt selbst die einst stets willkommenen "stranieri" zu gelittenen Randfiguren absacken. Aber ob Amerikaner, Schweizer, Deutsche oder Engländer - in der Tat gibt der Wintersport für die Schickeria allenfalls eine Sekundärtugend ab. Dabei notiert Cortina immerhin 52 Bergbahnen und Skilifte mit einer Beförderungskapazität von 33.000 Personen pro Stunde, 160 Ski- und Langlauflehrer, 74 Kilometer gespurte Loipen, ein Hallenbad, eine Tennisanlage, Bobbahn, Skibobbahn, Skisprungschanze usw.

PRIORITÄTEN NEU GESETZT

Von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt, vollzog der Skiort einen allmählichen Wertewandel, hat Cortina behutsam seine Prioritäten verändert. Seither lautet die in der Bevölkerung allseits akzeptierte Devise: Nullwachstum und Umweltschutz -fernab von jedem unvorsichtigen Wirtschaftsoptimismus.

Vorbei sind die Zeiten des touristischen Goldgräberfiebers, passé die Epoche der Spekulationsgewinne an Haus und Boden. Von den früheren Hotelbauten aus der Ära der Donaumonarchie über die auftrumpfende Palastarchitektur der Zeit nach 1920 bis hin zu den Bausünden der sechziger Jahre - die architektonischen Jahrringe sind in Cortina deutlich abzulesen.

Unverkennbar waren die Alarmsignale, die Bau- und Grundstücksspekulanten mit ihren Zweitwohnungen und Appartmentshäusern hinterliessen. Noch heute kostet ein Quadratmeter umgerechnet 15.000 Euro. Bereits im Jahr 1972 waren von damals achttausend Bürgern sechzig Prozent Zugewanderte. Die ampezzanische Kultur und Sprache drohten zwangsläufig zur Folklore zu verkommen - Cortina als "Königin der Dolomiten" enthauptet zu werden. Die Münchner Ski-Schickeria witterte seinerzeit Morgenluft, sich Cortina quasi einzuverleiben. Gianni Milani leidgeprüft: "Wir haben aus unseren schweren Fehlern gelernt. Hand aufs Herz. In Cortina wird nichts mehr gebaut!"

WILDWUCHS MIT OLYMPIA-IMAGE

Allesamt waren jene Jahre des Wildwuchses, Spätfolgen des einst sorgsam aufpolierten Olympia-Images aus dem Jahre 1956. Erst Jahrzehnte danach setzte sich im Städtchen mehrheitlich die Erkenntnis durch, dass die Olympiade samt Gefolge mehr geschadet als genützt habe. Allmählich wich die Popularitätseuphorie der Ernüchterung, doch wohl eher Opfer als Macher der Winderspiele gewesen zu sein.

Aus heutiger Sicht des lukrativen und medialen Olympia-Super-Spektakels wie in Frankreich, in späteren Planungen Kanada oder auch Japan, wirken die Winterspiele zu Cortina d'Ampezzo im nachhinein wie ein rührend heimeliges Provinz-Ereignis, auch wenn das Fernsehen 1956 erstmals die Wettkämpfe übertrug. Damals standen jedenfalls noch die Leistungen der Sportler und Athletinnen im Mittelpunkt des Interesses, weniger die theatralisch vorgetragenen Statements der Funktionäre - eingeblendet zwischen Werbesports samt Dopingkontrollszenarien.

LETZTEN SPIELE IN CORTINA D'AMPEZZO

Dessen ungeachtet dürften sich die Winterspiele von Cortina d'Ampezzo ihren Platz in den Annalen der Sportgeschichtsbücher längst gesichert haben. Es waren die letzten olympischen Spiele nach altem Schrot und Korn, Idealismus und Sportgeist - getragen von weiten Teilen ener Dorfbevölkerung, von eifrigen Sportlern und Lokalgrößen, ohne Material-, Sponsoren- oder Medienschlachten in Szene gesetzt.

Weil es in den letzten Wochen vor Beginn zwar klirrende Kälte, aber keine Schneeflocke gab, sammelten die Männer in den Wäldern und auf den Hängen mit dem Besen alle Schneereste zusammen, schleppten sie in Körben auf den "Olimpionico" und stampften ihn in emsiger Kleinarbeit mit Skier fest. Nur 140 Journalisten waren in den fünfziger Jahren in Cortina akkreditiert, in Frankreichs Olympia-Stadt Albertville dürften es an die 5.500 sein.

"HELDEN" WIE TONI SAILER ... ...

Sicherlich - die Wechseljahre verschiedener Zeitströmungen und Architektur-einflüsse haben sich auch auf das Ortsbild Cortinas nachhaltig ausgewirkt. Nur von Monotonie oder der oft beklagten sportlichen Sterilität ist freilich nichts zu spüren.
Schon der Kirchturm lässt für den Neuankömmling keinen Zweifel daran, dass er den Mittelpunkt dieses ladinischen Ski-Städtchens erreicht hat. Die romantisch anmutende Holzkonstruktion des Eisstadions ist ein dezenter Hinweis darauf, dass Cortina d'Ampezzo zu einer noch von Amateuren bestimmten Sport-Epoche zählte. Hier hat jeder Olympia-Sieger von früher seinen Ehrenplatz gefunden - in Holz gerahmte, einen Meter große Fotografiem schmücken rundherum den Tribünengang - 24 an der Zahl. Wie ehedem so werden auch noch heute die Bilder alle vierzehn Tage geputzt und abgestaubt. Natürlich auch der Held vergilbter Tage, der Toni Sailer hieß, ausgerechnet ein benachbarter Österreicher war und gleich drei Goldmedaillen im alpinen Skilauf mit nach Hause nahm.

KLEINE ZIMMER WIE ZU HEMMINGWAYS ZEITEN


Statt weiterhin gigantischen Olympia-Plänen nachzurennen, beschäftigen sich Cortinas Stadtväter wieder einmal mit Problemen des Landschaftsschutzes und einer dringend benötigten Ortsumfahrung. Sie bedeuten Zukunft für das nächste Jahrtausend. Dann will Cortina im Ortskern nämlich autofrei sein. Die Urlauber wissen solch urbane Sensibilitäten zu schätzen. So hatte Cortina d'Ampezzo im letzten Jahr einen Besucherrekord von 1,3 Millionen Übernachtungen zu verzeichnen.

Neue Hotels? "Nein, niemals", versichert Gianni Milani, "auch Ernest Hemmingway schlief hier in einem kleinen Zimmer! - Aber das ist schon lange, sehr lange her.